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Full text of "Verhandlungen der Naturforschenden Gesellschaft in Basel"

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FORTHE   PEOPLE 

FOR  EDVCATION 

FOR  SCIENCE 


LIBRARY 

OF 

THE  AMERICAN  MUSEUM 

OF 

NATURAL  HISTORY 


\ 


Bound  at 
A.M.N.H, 
1910 


Verhandlungen 

der 

Naturforschenden  Gesellschaft 


Basel. 


Sechzehnter    Band. 
Mit  drei  Tafeln. 


15a  sei 

(îcorg-  &  Co.    Verlag 
1903. 


Herrn 

Eduard   Hagenbach  -  Bischoff 

Dr.  phil.  et  med. 
Professor  der  Physik  an  der  Universität 

zum 

SIEBZIGSTEN  GEBURTSTAGE 

20.  Februar  1903 

gewidmet 
von  der  Naturforschenden  Gesellschaft  in  Basel. 


Hochgeehrter  Herr  Professor, 

Die  Naturforschende  Gesellschaft  in  Basel  kann 
den  Tag,  an  dem  Sic  in  voller  körperlicher  und  geistiger 
Frische  auf  siebzig  Lebensjahre  rastloser  Thätigkeit 
zurückblicken,  nicht  vorübergehen,  lassen,  ohne  alles 
dessen  dankbar  zu  gedenken,  was  Sie  von  dem  Zeit- 
punkte Ihres  Eintrittes  in  die  Gesellsehart  bis  heule 
ihr  geboten  haben. 

Nicht  nur  waren  Sie  stets  bereit,  ihr  die  Ergebnisse 
Ihrer  Studien  und  Arbeiten  mitzuteilen,  die  sich  über 
die  verschiedensten  Gebiete  der  Physik  erstrecken,  und 
deren  Aufzählung  uns  heute  mag  erspart  bleiben;  auch 
die  Arbeiten  anderer  Mitglieder  haben  Sie  wirksam 
unterstützt,  allen  Ihr  lebhaftes  Interesse  entgegenge- 
bracht und  überhaupt  alles  fördern  helfen,  was  unserer 
Gesellschaft  zum  Wohle  gereichen  konnte. 

Als  besonderes  Verdienst  rechnen  wir  es  Ihnen  an. 
dass  Sie  neben  dem  erfolgreichen  Unterricht  an  der  Uni- 
versität und  Ihren  wissenschaftlichen  Arbeiten  Zeit  und 
Lust  gefunden  haben,  die  Interessen  aller  akademischen 
Anstalten  im  Schosse  der  hohen  Behörden  zu  vertreten 
und  dass  Sie  unermüdlich  bestrebt  gewesen  sind  und 
noch  sind,  auch  weitere  Kreise  unserer  Bevölkerung  an 
den  Resultaten  der  Forschung  teilnehmen  zu  lassen 
di uch  Veranstaltungen,  die  Sie  teils  ins  Leben  gerufen, 
teils  unterstützt  haben.  Und  dass  Sie  Ihre  reichen 
wissenschaftlichen  Kenntnisse  zur  Befriedigung  prak- 
tischer Anforderungen,  die  an  jede  Stadt  herantreten,  zur 


Verfügung  gestellt  haben,  wird  Ihnen  die  Sladl  Basel 
niemals  vergessen. 

Ihrem  mathematischen  Wissen  und  dem  Wunsche 
die  Gleichheil  aller  Bürger  eines  Freistaates  zum  Aus- 
druck zu  bringen  sind  die  Bestrebungen  zur  Durch- 
führung politischer  Gerechtigkeil  entsprungen. 

\)rv  schweizerischen  ludiirforschenden  Gesellschaft 
haben  Sie  sowohl  in  organisatorischer  als  in  wissen- 
schaftlicher Hinsichl  grosse  Dienste  geleistel  nichl  nur 
bei  dem  fleissigen  Besuche  ihrer  Jahresversammlungen, 
sondern  auch  durch  die  mehrjährige  mustergiltige 
Leitung  und  die  Teilnahme  an  Arbeiten,  die  sich  über 
lange  Zeiträume  erstrecken  und  die  zur  tiefern  Kenntnis 
von  Erscheinungen  führen  werden,  deren  Schauplatz 
vornehmlich  unser  Land  ist. 

Die  Naturforschende  Gesellschaft  in  Basel  glaubl 
ihrer  dankbaren  Verehrung  keinen  bessern  Ausdruck 
verleihen  zu  können  als  durch  diese  Widmung  dieses 
Bandes  der  Verhandlungen,  zu  dem  eine  grössere  Zahl 
von  Gesellschaftsmitgliedern  Beiträge  geliefert  hat. 

Wir  schliessen  den  Wunsch  an,  es  mögen  [hnen 
noch  viele  Jahre  in  guter  Gesundheil  und  Rüstigkeil 
verliehen  sein,  Ihnen  und  Ihrer  Familie  zur  Freude. 
unserer  Gesellschaft  zum  wissenschaftlichen  Gewinn 
und  Genuss,  unserm  engern  und  weitem  Vaterlande 
zu  Nutz  und  Frommen. 

Die  Naturforschende  Gesellschaft  in  Basel 

der  I  'räsidenl  : 
Prof.  \)\:  Rud.  Metzner. 


Basel,  den  20.  Februar  1903. 


I  N  H  A  LT. 

Seite 

Burckhardt,  Fr.  Zur  (iesehichte  des  Thermometers.  Berich- 
tigungen und  Ergänzungen 1 

Jacobus  Rosius  Philomathicus  der  mathemathischen 

Künste  besonderer  Liebhaber.  Einige  biographische 
Notizen 370 

Burckhardt,  Rudolf.    Zur  Geschichte  der  biologischen  Systematik     388 

Chappuis,  P.     Über    einige  Eigenschaften    des    geschmolzenen 

Quarzes 173 

Fichter,  Fr.     Über   ungesättigte    »Säuren.     Mitteilung    aus    der 

chemischen  Anstalt  der  Universität   im  Bernoulliauum     245 

Forel,  F.  A.  in  Morges.     Recherches    sur    la    transparence  des 

eaux  du  Léman 229 

His,  W,  in  Leipzig.  Die  Zeit  in  der  Entwicklung  der  Orga- 
nismen       210 

Kahlbaum,  G.  Über  Gewichtsänderung  bei  chemischen  und 
physikaliscken  Umsetzungen  in  gescklossenem  Rohr  und 
über  Herrn  Heydweillers  Entdeckung.    Eine  Einleitung     -141 

Kinkelin,  H.     Zur  Gammafunktiou 309 

Kollmann,   J.     Die    Pygmäen  und  ihre    systematische    Stellung 

innerhalb  des  Menschengeschlechtes    ....  .     .       85 

Metzner.  R.     Kurze  Notiz   über  Beobachtungen   an  dem  Ciliar- 

körper  und  dem  Strahlenhändchen  des  Tierauges    .     .     4SI 

Nienhaus,  C.     Über  Digitalis  purpurea  L 241 

Nietzki,  R.     Die   Bedeutung    der   Farbstoffe    im  Haushalte  der 

Natur 291» 

Rupe,  H.     Über  die  Synthese  von  Phenyloxytriazolen  und  über 

„sterische"  und  „chemische"  Hinderung 184 

Schaer,  Ed.  in  Strassburg  i/Els.  Über  die  Einwirkung  anor- 
ganischer und  organischer  alkalischer  Substanzen  auf 
das  Oxydationsvermügen  von  Metallsalzen        .     .     :     .       70 

Siebenmann,  Fr.  Anatomische  lieiträge  zur  Kenntnis  der  Laby- 
rinthanomalien bei  angeborener  Taubstummheit  .     .     .     363 

Sudhoff,  Karl,  in  Hochdahl  bei  Düsseldorf.    Rheticus   und  Pa- 

racelsus 349 

Veillon,  H.  Einige  Grundversuche  über  elektrische  Schwin- 
gungen      329 

Von  der  Mühll,  K.     Über  konforme  Abbildung  im  Raum       .     .     158 

Zschokke,  F.     Marine  Schmarotzer  in  Süsswasserfischen.    (Mit 

einer  Tafel) 118 


Zur  Geschichte  des  Thermometers. 

Berichtigungen   und  Ergänzungen 

von 
Prof.  Fritz  Burckhardt. 


Vor  einer  längern  Reibe  von  Jahren  habe  ich  als 
Resultat  meiner  Untersuchungen  über  Erfindung  und 
Entwicklung  des  Thermometers  zwei  Schriften  heraus- 
gegeben, nämlich: 

1)  Die  Erfindung  des  Thermometers  und  seine  Ge- 
stallung im  X  VII.  Jahrhundert  {mit  einer  lithographierten 
Tafel),  Basel  1867  ; 

2)  Die  wichtigsten  Thermometer  des  XVIII.  Jahr- 
hunderts, Basel  1871;  beide  als  Schulprogramme,  die 
erste  als  Programm  des  Gymnasiums,  die  zweite  als 
Programm  der  Gewerbeschule  zu  Basel. 

Beide  Schriften,  von  denen  die  eine  durch  den 
Buchhandel  eine  bescheidene  Verbreitung  gefunden  hat, 
hatten  das  Schicksal  vieler  Schulprogramme  ;  sie  wurden 
mehrenteils  übersehen.  Gewisse  Irrtümer  haben  sich 
fortgeschlichen  von  Lehrbuch  zu  Lehrbuch  und  deren 
Widerlegung  hat  nur  wenig  Beachtung  gefunden.  In 
neuerer  Zeit  begegne  ich  doch  hie  und  da  einer  freund- 
lichen Berücksichtigung  dieser  Schriften;  ja  es  ist  mir 
sogar  ein  Buch  in  die  Hände  gekommen,  das  ohne 
meine  erste  Publikation  in  dieser  Form  nicht  erschienen 
wäre  und  dessen  Figuren,  mit  Ausnahme  einer  einzigen, 
genaueste  Reproduktionen  der  von  mir  gezeichneten,  in 
der  lithographierten  Tafel  enthaltenen,  sind  :  Henry  Car- 
ringion  Bollon:  Evolution  of  the  Thermometer  1592— 

1 


—     2     — 

L743.  Easton  P.A.  The  chemical  Publishing  Co.  1900. 
Wie  die  Bausteine  gesammelt  und  geordnet  worden 
sind,  deutet  das  Buch  im  ganzen  nur  in  einem  Ver- 
zeichnis der  Autoren  an. 

Wenn  nun  auch  in  der  Zwischenzeit  keine  That- 
sachen  gefunden  und  bekannt  geworden  sind,  die  den 
hauptsächlichsten  Resultaten  meiner  Untersuchung  wider- 
sprechen, so  möchte  ich  doch  gerne  einiges  zusammen- 
stellen, was  das  frühere  ergänzt  oder  modifiziert,  auch 
etwa  irrtümliche  Angäben  berichtigen.  Denn  ich  gebe 
zu,  dass  solche  in  meiner  Arbeit  vorkommen,  und  glaube 
eine  Entschuldigung  darin  zu  rinden,  dass  au  zusammen- 
hängenden Vorarbeiten  nur  wenig  zur  Verfügung  stand 
und  dass  die  litterarischen  Hilfsmittel  nicht  sehr  leicht 
zu  beschaffen  waren,  trotz  dem  Reichtum  unserer  öffent- 
lichen Bibliothek  an  Werken,  die  sich  auf  die  Geschichte 
der  Physik  und  Mathematik  beziehen. 

1)  Cornelius  Drebbel. 

Vielfach  liest  man  noch,  dass  Cornelius  Drebbel 
von  Alkmaar  das  Thermometer  erfunden  habe,  wobei 
auf  einen  Versuch  lungewiesen  wird,  bei  dem  Luft  in 
einer  Retorte,  die  in  ein  Wassergefäss  mündet,  ver- 
dünnt wird  und  austritt,  während  bei  der  Abkühlung 
das  Wasser  in  die  Retorte  zurückströmt. 

Auf  Seite  5  der  „Erfindung  des  Thermometers" 
habe  ich  die  Vermutung  ausgesprochen,  dass  der  Grund- 
versuch des  Cornelius  Drebbel  wohl  nicht  unabhängig 
sei  von  dem  Versuche,  den  Porta  in  einer  1606  publi- 
zierten Schrift1)  bespreche.  Diese  Vermutung  bestätigt 
sieh  nicht.  Als  ich  sie  aussprach,  war  die  älteste  Edition 


')  I  tre  libri  de  Spiritali  di  Griatnbattista  della  Porta.  Napoli 
1606,  pg.  46. 


—     3     — 

von  Drebbeis  Traktat  von  der  Natur  der  Elemente,  die 
ich  gesehen,  die  von  1608  gewesen,  deren  Zusendung 
ich  der  Universitätsbibliothek  in  Göttingen  verdankte. 
Meine  Publikation  veranlasste  Herrn  Dr.  Th.  Vau  Does- 
burgh  in  Rotterdam,  mir  eine  holländische  Ausgabe 
vom  Jahre  100-4  zuzuschicken,  die  den  Titel  trägt: 

Een  cort  Tractat  van  de  Natuere  der  Elementen, 
ende  hoe  sy  veroorsaecken  den  wint,  Rechen,  Blixem, 
Donder,  ende  waeromme  dienstich  zijn.  Clhedaen  door 
Cornelius  Drebbel.  Es  folgt  ein  in  Holz  schön  ge- 
schnittenes Bildnis  von  Cornelius  Drebbel,  Alcmariensis 
anno  1604.  T'Haerlem,  Ghedruckt  By  Gillis  Roomann, 
op  de  Marckt,  in  de  vergulde  Parsse.  Anno  Domini  1604. 

Diese  Ausgabe  scheint  die  älteste  holländische  zu 
sein.  Aus  der  Jahreszahl  des  Erscheinens  folgt,  dass 
Drebbel  von  Porta  nicht  abhängig  sein  kann.1)  Es  ist 
wohl  eher  anzunehmen,  dass  beide  bekannt  gewesen 
seien  mit  der  Schrift  Hero's  von  Alexandrieu  „Pneu- 
matica",  die  im  Jahre  1575  durch  Feclericus  Comman- 
diii US  aus  dem  Griechischen  ins  Lateinische  übertragen 
und  durch  den  Druck  verbreitet  worden  ist,  die  auch 
noch  im  Laufe  des  16ten  Jahrhunderts  eine  Reihe  von 
Ausgaben  in  verschiedenen  Sprachen  erlebt  hat. 

Dass  Drebbel  nicht  als  Erfinder  des  Thermometers 
kann  angesehen  werden,  kann  nach  den  Untersuchungen 
von  E.  Wohlwill')  und«?//-3)  als  ausgemacht  angesehen 
werden,  wenn  er  es  auch  selbst  sollte  gesagt  haben. 

1)  Diese  Berichtigung  habe  ich  schon  früher  in  Pogg.  Ann. 
CXXXIII,  p.  681,  gebracht;  sie  ist  aber  von  dem  Bearbeiter  der 
Geschichte  der  Physik  von  Poggendorf  oder  von  letzterm  selbst 
völlig  missverstauden  worden,    indem    ich   ganz   richtig    angegeben 

11111  •  1  OOO 

habe,  dass  das  älteste  von  mir  konsultierte  deutsche  Exemplar  von 
16U8  datierte,  dass  mir  aber  ein  noch  älteres  von  1(304  in  hollän- 
discher Sprache  verfasstes  zugekommen  sei,  wodurch  sich  die  An- 
nahme der  Abhängigkeit  Drebbeis  von  Porta  von  selbst  widerlege. 

-i  Pogg.  Ann.  CXX1V,  g.  160. 

3)  Erf.  d.  Thermom.  1867. 


—     4     — 

Cornelius  Drebbel1)  war  in  Alkmaar  1572  geboren 
und  ist  gestorben  in  London  1634.  Er  studierte  Mathe- 
matik und  Physik  in  Leyden,  etablierte  sich  in  Eng- 
land, wo  er  von  Jakob  T.  eine  Jahrrente  erhielt,  kam 
nach  Deutschland  zu  Rudolf  II.,  wurde  aber  in  den 
Unruhen,  die  der  Streit  im  Kaiserhause  verursachte, 
eingekerkert.  Auf  Verwenden  Jakobs  I.  befreit  kehrte 
er  nach  England  zurück  (1619),  kam  wieder  nach  Prag 
und  erlitt  dort  dasselbe  Schicksal  wie  früher.  Durch 
Vermittlung  der  G  eneralstaaten  wurde  er  vom  Tode 
errettet  und  nahm  fortan  seinen  festen  Wohnsitz  in 
London.  Er  war  Alchymist  und  behauptete,  das  Per- 
petuum mobile  erfunden  zu  haben.  In  was  dieses  wahr- 
scheinlich bestanden  hat,  ist  von  E.  Wohlwill  in  den 
Mitteilungen  zur  Gesch.  d.  Mediz.  u.  d.  Naturwissen- 
schaften. Nr.  1,  p.  5  ff.,  nach  einem  Schreiben  des  Dan. 
Antonini  an  Galilei  vom  4.  Februar  1612  erörtert  win- 
den ;  er  konstruierte  ferner  ein  submarines  Schiff,  be- 
schäftigte sich  mit  der  Verbesserung  optischer  Gläser, 
des  Mikroskops  und  des  Thermometers,  als  dessen  Er- 
finder er  sich  in  England  ausgab.  Mehrere  Bücher 
wurden  in  verschiedenen  Auflagen  gedruckt  ;  er  erfreute 
sich  eines  grossen  Vermögens  und  grosser  Reputation 
„moins  due  à  un  mérite  réel,  qu'aux  temps  d'ignorance 
où  il  a  vécu"  '-).  Ein  Bauer  war  er  nicht,  wie  ihn  JSollet 
und  andere  bezeichnet  haben,  aber  er  sah  aus  wie  ein 
solcher.  Der  Vater  von  Chr.  Huygens,  Conslanlyn, 
hat  es  in  folgendem  Vers  berichtet: 

Drebbelium  vidi  tantum,  qui  fronte  Batavum 
Agricolam,  sermone  sophum  Samiumque  referret 
Et  Siculum. 


1    Oeuvr.  comp],  <1  Chr.    Buygena  ls!».">,  V,  p.  122,  Ftissnote- 
-    Biogr.  univ.,  Bd.  12,  Art.  Drebbel. 


—     5     — 

(Drebbel  babe  icb  geseben,  wie  er  dem  Aussehen 
nach  den  holländischen  Bauer,  der  Rede  nach  den 
Saniischen  und  Sikulischen  Weisen  darstellt.) 

(Anspielung  auf  Aristarcb  von  Samos 
und  Archimedes.) 

Worin  die  Verbesserungen  des  Thermometers  sollen 
bestanden  haben,  ist  nicht  wohl  einzusehen,  zumal  dieses 
Instrument  in  der  geschlossenen  Form  wahrscheinlich 
erst  geraume  Zeit  nach  seinem  Tode  in  England  be- 
kannt geworden  ist  ;  *)  es  könnte  sich  also  nur  handeln 
um  Verbesserungen  des  Luftthermometers,  das  in  grös- 
serem Formate,  wie  später  auch  von  Otto  von  Guericke,') 
Mobile  perpetuum   konnte  genannt  werden. 

2)  Robert  Fludd. 

Neben  Cornelius  Drebbel  wurde  von  verschiedenen 
Autoren  als  Erfinder  des  Thermometers  bezeichnet  der 
Engländer  Robert  Fludd.  Nach  den  kurzen  Notizen, 
die  ich  in  der  Schrift:  „Die  Erfindung  des  Thermo- 
meters", p.  24,  gegeben  habe,  glaubte  ich  nicht  mehr 
in  die  Lage  zu  kommen,  diese  Behauptung  beleuchten 
zu  müssen.  Aber  in  der  Geschichte  des  Thermometers 
von  E.  Renou*),  die  von  den  Franzosen  auch  jetzt  noch 
besonders  geschätzt  wird,  und  für  die  neuere  Geschichte 
auch  schätzbar  ist,  wird  der  Versuch  gemacht,  auf 
Grund  einer  Aussage  von  Fludd  die  Erfindung  viel 
weiter  zurückzuverlegen,  auch  hinter  Galilei,  und  dar- 
zuthun,  dass  die  Personen,  denen  bisher  die  Erfindung 
zugeschrieben  worden,  den  Apparat  eigentlich  schon 
vorgefunden  und   nur    nach    ihren    Bedürfnissen    einge- 


1)  Erf.  d.  Therm.,  p.  43. 

2)  dito  p.  28,  29  u.  Fig.  IX. 

3)  Annuaire  météorol.  XXIV,  19-72. 


—     G     — 

richtet  haben.  Drebbel,  Sanclorius,  Galilei1)  und  andere 
haben  also  nach  Renou  einfach  ein  vorhandenes  In- 
strument weiter  benützt;  von  einem  Erfinder  kann  man 
nicht  reden. 

Renou'a  Worte  sind  folgende2):  „C'est  par  la  des- 
cription de  cet  instrument  (Luftthermometer  von  Galilei 
und  Sanctorius)  que  Flltdd  commence  son  livre  (Philo- 
sophia  Moysaica).  11  dit  qu'on  l'appelle  vulgairement 
Spéculum  Calendarium,  c'est-à-dire  le  Miroir  du  temps.  Il 
dit  aussi  que  plusieurs  personnes  s'en  attribuent  l'invention, 
parce  qu'elles  y  ont  fait  quelque  petit  changement;  mais 
que,  pour  lui,  il  en  emprunte  la  description  et  la  figure 
à  un  manuscrit,  vieux  de  plus  de  cinquante  ans." 

„Voilà  une  date  antérieure  à  15iS7,  qui  réduit  à 
néant  les  prétentions  de  Drebbel,  Santorio  et  de  plu- 
sieurs autres. 

Il  est  évident  que  cet  appareil  n'a  pas  eu  d'inven- 
teur, et  ce  qu'en  ont  dit  F  lu  dit,  Drebbel  et  Santorio 
montre  seulement  qu'on  sentait  alors  le  besoin  d'avoir 
un  instrument  propre  à  mesurer  les  températures." 

Lana 3)  stellt  ganz  nackt  die  Behauptung  auf:  II 
primo  inventore  del  Termoscopio,  per  mezzo  di  cui  si 
possa  conoscere  quando  l'aria  sia  piu  e  meno  calda  o 
freda  fu  Roberto  Fluddo  etc.  Allein  schon  in  einer 
spätem  lateinischen  Edition4)  sprach  er  nicht  mehr  von 
der  ersten  Erfindung,  sondern  von  der  ersten  Be- 
schreibung: Hujus  instrument]  primam  descriptionem 
invenimus  apud  Boberlum  Fluddwn  etc. 

Was   schreibt   aber  Fludd   in    seinem  Werke5),    in 


1  Annuaire  raétéorol.   XXIV,  21.  -2. 

-  Annuaire  XXIV,  p.  21. 

s)  Prodromo  all  arte  maëstra  1(>70. 

!  Magist.  Naturae  et  Artis  II,  p.  380. 

•'  Philos,  mosaica,  p.  1,  1638. 


dem  er  die  ganze  Weltordnung  mit  dein  thermischen 
Grundversuch  in  Beziehung  setzt? 

Dieses  Instrument,  gewöhnlich  Sptculum  Cüknda- 
rilim  genannt,  wird  fälschlich  von  einigen  Männern 
unseres  Jahrhunderts  für  sich  in  Anspruch  genommen, 
ja,  es  rühmen  sich  einige  fälschlich  der  Erfindung  des- 
selben. Was  mich  anbelangt,  so  halte  ich  es  für  recht 
und  hillig,  jedem  das  Seine  zuzuerkennen.  Denn  es  ist 
auch  für  mich  keine  Schande,  die  Prinzipien  meiner 
Philosophie  meinem  Lehrmeister  Moses  zuzuschreiben, 
da  er  sie  ja  mit  göttlichem  Finger  gebildet  und  ge- 
zeichnet empfangen  hat;  auch  kann  ich  für  mich  die 
erste  Erstellung  dieses  Instrumentes  nicht  in  Anspruch 
nehmen,  obwohl  ich  in  der  Geschichte  meines  Makrokos- 
mos und  anderwärts  mich  dieses  bedient  habe,  um  die 
wahrhaftige  Grundlage  meiner  Philosophie  darzuthun. 
Ich  erkenne  an,  dass  ich  das  Instrument  in  einem  wenig- 
stens 500  Jahre  alten  Manuskript  beschrieben  und  geo- 
metrisch gezeichnet  gefunden  habe. 

In  seiner  Geschichte  des  Makrokosmos l)  teilt  er 
einige  Versuche  mit  über  die  Luftausdehnung  durch 
die  Wärme. 

An  die  Stelle  der  fünfzig  Jahre,  von  denen  Renoil 
spricht,  setzt  Flvdd  fünfhundert  und  damit  rückt  er 
die.  Erfindung  in  das  Reich  des  Unglaubwürdigen  und 
die  Thatsache,  dass  alle  weitern  Erfinder  oder  Ver- 
besserer des  Thermoskopes  das  von  Fludd  bezeichnete 
Instrument  sollen  vorgefunden  haben,  fällt  ebenfalls  da- 
hin mit  allen  Folgerungen. 

Das  fünfhundert  Jahr  alte  Manuskript  hat  sich 
seither  nicht  gefunden. 


')  Utriusque  Cosmi  Historia,    Tom  I.     De  Macrocosm.  Hist. 
1>.  30—38.     1617—1621. 


—     8     — 

3)  Geschlossenes  Thermometer  1611— 1612  i 
E.  Renou  schliefst  aber   hieran  eine  weitere  Hypo- 
these ')  mit  nicht  besserer  Begründung. 

Francesco  Sagredo  schreibt  an  Galilei  am   9.  Mai 

1613'): 

Das  Instrument  zur  Messung  der  Wärme,  das  von 
Ihnen  erfunden  worden  ist.  habe  ich  in  mehrere  bequeme 
und  ausgesuchte  Formen  gebracht,  so  dass  man  die 
Temperaturunterschiede  von  einem  Zimmer  zum  andern 
bis  auf  100    Grade    erkennen    kann.     Man  kann  damit 

mehrere  bemerkenswerte  Dinge  beobachten, welche 

unsere  Peripatetiker  in  keiner  Weise  erklären  können, 
da  einige,  darunter  unser  Gageo,  so  weit  abwegs  sind, 
dass  sie  noch  nicht  einmal  den  Grund  des  ersten  Vor- 
gangs begreifen,  indem  sie  glauben,  sie  müssten  den 
entgegengesetzten  Effekt  sehen;  denn  da  die  Hitze,  wie 
sie  sagen,  eine  anziehende  Kraft  ausübt,  so  müsste  das 
Gefäss  beim  Erwärmen  das  Wasser  anziehen;  und  solche 
Menschen  beanspruchen  die   ersten  Lehrstühle  Padua's. 

E.  Renou  folgert  hieraus  : 

Quoiqu'on  ne  trouve  point,  clans  la  lettre  de  Sayredo, 
le  nom  de  thermomètre,  il  me  semble  hors  de  doute 
qu'il  s'agit  ici  du  thermomètre  de  Florence  à  alcool, 
und  fügt  auf  p.  72  hinzu  :  Après  avoir  dit  que  Galilée 
en  1603  se  servait  du  thermomètre  de  Fludd,  sous  le 
nom  de  Calendarium  vitreum,  et  cité  la  lettre  de  Sagredo 
à  Galilée,  il  faut  dire  qu'on  reconnaît  sûrement,  aux 
100°  du  thermomètre  de  SagredoJ  le  thermomètre  de 
Florence  en  100°  aussi.  Les  termes  de  cette  lettre 
montrent  qu'il  s'agit  d'un  instrument  tout  nouveau,  ce 
qui  place  l'invention  du  thermomètre  à  alcool  en  1611 
ou  1612. 

*)  Annuaire  météor.  XXIV,  p.  2?,  72. 

-'    Erf.  d.   Therm.,  p.  14.     Commerc.  epist.  III,  p.  270. 


In  Sagredo's  Brief  sind  nun  schon  die  Anhalts- 
punkte zum  Beweise  des  Gegenteils  von  dem,  was  Renoa 
darin  findet,  und  zwar: 

1)  Es  handelt  sich  offenbar  um  das  Galilei'sche 
Thermoskop,  das  Sagredo  in  mannigfache  Formen  will 
gebracht  haben; 

2)  Im  Rohre  steigt  nicht  Weingeist,  sondern  Wasser 
(bisweilen  wird  das  Wort  acqua  auch  als  Flüssigkeit 
überhaupt  gebraucht); 

3)  Das  Wasser  wird  beim  Erwärmen  abgestossen-, 
es  handelt  sich  demnach  um  Zusammenziehung  und  Aus- 
dehnung von  Luft,  welcher  das  Wasser  folgt,  und  nicht 
um  Zusammenziehung  und  Ausdehnung  von  Wasser 
oder  von  Weingeist. 

Wir  lesen  aber  auch  weiterhin  in  der  Korrespon- 
denz zwischen  Sagredo  und  Galilei,  deren  Hauptpunkte 
ich  in  der  ,,Erfindung  des  Thermometers"  ausführlich 
mitgeteilt  habe ,  einige  bemerkenswerte  Sätze 1).  So 
schreibt  Sagredo  am  15.  März  1615  an  Galilei:  aber 
da,  wie  Sie  mir  schreiben,  und  wie  ich  auch  zuversicht- 
lich glaube,  Sie  der  erste  Verfertiger  und  Erfinder  ge- 
wesen sind,  so  glaube  ich,  dass  die  Instrumente,  welche 
von  Ihnen  und  Ihren  vortrefflichen  Künstlern  gemacht 
worden  sind,  weit  die  meinigen   übertreffen  u.  s.  w. 

Galilei  aber  giebt  über  die  Wirkungsweise  die  Er- 
klärung : 

Wenn  sich  die  Luft  um  die  Kugel  herum  dadurch 
abkühlt,  dass  man  einen  kältern  Körper  hinzubringt,  so 
werden  die  Wärnieteilchen,  die  sich  in  der  einge- 
schlossenen Luft  befinden,  in  die  Höhe  steigen,  weil 
ein  Mittel  da  ist,  das  weniger  leicht  als  sie  ist,  und 
diese  Luft  wird  kälter  werden  als  früher  und  wird  sich  so 


!)  Erf.  d.  Therm.,  p.  16.  19. 


—     10     — 

nach  dem  vorgenannten  Prinzipe  zusammenziehen  und 
weniger  Raum  einnehmen,  ne  detur  yacuum,  weshalb 
der  Wein  in  die  Höbe  steigen  wird,  um  den  von  der 
Luft  leer  gelassenen  Raum  einzunehmen.  Und  dann, 
wenn  diese  Luft  erwärmt  ist  und  sich  verdünnt  und 
einen  grösseren  Raum  einnimmt,  so  wird  sie  den  Wein 
vertreiben  und  herabdrücken,  der  nun,  da  er  dichter 
ist,  ihr  leicht  jenen  Platz  überlassen  wird,  woraus  folgt, 
da ss  Kälte  nichts  anderes    als   Mangel    an    Wärme  ist. 

Daraufhin  schreibt  Sagredo  am  11.  April  1615: 

Was  die  Instrumente  von  Glas  zur  Temperatur- 
bestimmung anbelangt,  so  waren  die  ersten,  die  ich  ge- 
macht habe,  von  der  Art,  wie  Sie  die  Ihrigen  haben 
machen  lassen  ;  aber  dann  habe  ich  die  Erfindung  in 
verschiedener  Weise  vervielfältigt,  was  ich  nicht  alles 
in  einem  Briefe  beschreiben  kann  u.  s.  w.  Ich  habe  Ihre 
Ansicht  von  der  Wirkungsweise  dieser  Instrumente  ver- 
standen u.  s.  w. 

Hienach  kann  doch  kein  Zweifel  bestehen,  welcher 
Art  von  Thermoskop  das  von  Sagredo  war,  und  es  fällt 
jeder  Grund  dahin,  die  Erfindung  des  geschlossenen  Wein- 
geistthermometers in  die  Jahre  1611  und  1612  zu  verlegen. 
Der  Irrtum  konnte  nur  dadurch  entstehen,  dass  abge- 
rissene Stücke    aus  der  Korrespondenz  gelesen  wurden. 

So  lange  das  ursprüngliche  Luftthermometer  Galilei' s 
mit  den  zahlreichen  Abänderungen,  die  es  unter  den 
Händen  der  Experimentatoren  erfuhr,  im  Gebrauche  war, 
konnten  zwar  Steigen  und  Fallen,  Abkühlen  und  Er- 
wärmen beobachtet  werden  ;  da  aber  diese  Instrumente 
alle  nicht  nur  von  der  Wärme,  sondern  auch  vom  Luft- 
druck abhängig  waren,  konnten  an  ihnen  keine  Skalen 
angebracht  werden,  die  sich  auf  feste  Punkte  stützten, 
d.  h.  auf  Temperaturen,  die  notwendig  mit  einem  physi- 
kalischen  Vorgänge  verbunden  sind. 


—    11    — 

Es  konnte  wohl  Sagredo  am  7.  Februar  1615  an 
Galilei  von  der  Temperaturerniedrigung  berichten,  die 
eintritt  bei  der  Mischung  von  Schnee  und  Kochsalz; 
„ich  muss  Ihnen  sagen,  dass  während  zweier  Schnee- 
tage hier  in  meinem  Zimmer  mein  Instrument  130" 
Wärme  mehr  zeigte,  als  jenes,  das  schon  vor  zwei 
Jahren  zur  Zeit  strengster  Kälte  dagewesen  war;  dieses 
Instrument,  begraben  im  Schnee,  hat  30°  weniger  ge- 
zeigt, also  bloss  100;  aber  darauf  eingetaucht  in  Schnee 
und  Salz,  zeigte  es  weitere  100  Grad  weniger,  und  ich 
glaube,  es  hat  in  Wirklichkeit  noch  weniger  gezeigt, 
aber  man  konnte  es  wegen  des  Schnees  und  Salzes  nicht 
deutlich  sehen;  wenn  es  daher  bei  der  grössten  Sommer- 
hitze auf  360°  steht,  so  erkennt  man,  dass  Schnee  und 
Salz  die  Kälte  um  den  dritten  Teil  des  Unterschiedes 
zwischen  der  grössten  Sommerhitze  und  der  strengsten 
Winterkälte  vermehrt,  eine  so  merkwürdige  Thatsache, 
dass  ich  keinen  denkbaren  Grund  dafür  weiss.'- 

Und  wenn  Galilei  verschiedene  Wärmegrade  mit 
Zahlen  bezeichnet,1)  so  verstehen  wir  diese  Sprache 
nicht,  weil  uns  die  Skala  unbekannt  ist.  Mit  welcher 
Willkür  Skalen  errichtet  wurden,  mag  der  Vorschrift 
entnommen  werden,  die  Fr.  Bacon  giebt2):  Debet  autem 
appendi  charta  angusta  et  oblonga  et  gradibus  (quot 
libuerit)  interstincta. 

4)  Jean  Hey. 

Eine  grossere  Genauigkeit  und  Deutlichkeit  konnte 
auch  nicht  erreicht  werden  mit  andern  thermometrischen 
Vorrichtungen,  wie  mit  den  schwebenden,  schwimmen- 
den und  sinkenden    Glaskugeln,    mit    denen    sich    nach 


')  Opere  1656,  II,  p.  471-475. 

2)  Nov.  org.  II.  Aphor.  XIII,  §  38.  Amsterd.  1684,  p.  190-191. 


—     12     — 

dem  Zeugnis  TorricelWs,1)  Ferdinand  IL,  Grossherzog 
von  Toskana,  beschäftigt  und  unterhalten  hat. 

Die  erste  Spur  der  Verwendung  einer  Flüssigkeit 
statt  der  Luft  zur  Beobachtung  von  Änderungen  der 
Temperatur  findet  sich  bei  Jean  Roy,  einem  französischen 
Arzte  und  Chemiker.  Dieser  hatte  mit  P.  Mersenne 
eine  lebhafte  Korrespondenz,  aus  der  einige  Briefe,  zu- 
sammen mit  einem  von  diesem  Arzte  im  Jahre  1630 
veröffentlichten  Büchlein,  im  Jahre  1777  von  Gobet  her- 
ausgegeben worden  sind.  Das  Büchlein  führt  den  Titel: 
Essays  sur  la  recherche  de  la  cause  pour  laquelle 
l'estain  et  le  plomb  augmentent  de  poids  quand  on  les 
calcine.  Bazas  1630  in-8°,  142  Seiten;  in  der  von 
Gobet  veranstalteten  Ausgabe  liest  man  (p.  114)  in 
einem  Brief  von  P.  Mersenne  am  1.  September  1631 2)  : 
Et  puis  le  termoscope  faisant  descendre  la  liqueur  par 
la  raréfaction  de  son  air,  tesmoigne  que  la  chaleur  rend 
l'air  plus  subtil,  sans  qu'un  plus  espais  descende  en  son  lieu. 

Worauf  J.  Hey  die  bemerkenswerte  Antwort  giebt, 
am  1.  Januar  1632: 

11  y  a  diversité  de  thermoscopes  ou  thermomètres, 
à  ce  que  je  voy  :  ce  que  vous  en  dittes  ne  peut  con- 
venir au  mien,  qui  n'est  rien  plus  qu'une  petite  phiole 
ronde,  ayant  le  col  fort  long  et  deslié.  Pour  m'en  ser- 
vir je  la  mets  au  soleil,  et  par  fois  à  la  main  d'un 
febricitant,  l'ayant  tout  remplie  d'eau  fors  le  col,  la 
chaleur  dilatant  l'eau  fait  qu'elle  monte:  le  plus  et  le 
moins  m'indiquent  la  chaleur  grande  ou  petite. 

Rey  hat  wohl  sein  Instrument  vorherrschend  zu 
ärztlichen  Zwecken  gebraucht;   da  er  sich  des  Wassers 


1  '   Moiiconys  Journ.  cl.   voyages  I,  p.   130—131. 

-)  Hr.  Prof.  Kahlbaum  hat  mir  dieses  Buch  zur  Einsicht  zu- 
gestellt; zugleich  mit  einer  1895  veranstalteten  englischen  Über- 
setzung der  ersten  Schrift  von  /.  Rey  (1630). 


—     13     — 

bediente,  konnte  er  niedrige  Lufttemperaturen  nicht 
beobachten;  auch  war  es  wahrscheinlich  oben  offen. 

P.  Mersenne  hat  aber  die  Erklärung  des  ihm  noch 
unbekannten  Instrumentes  nicht  verstanden,  denn  er 
schreibt  am   1.  April   1032  (p.   149): 

Ce  n'est  pas  l'eau  du  thermomètre  qui  se  raréfie 
quand  elle  monte  comme  vous  dites:  mais  c'est  l'air 
qui  s'espaississant  la  fait  monter,  et  se  dilatant  par  la 
raréfaction  la  fait  descendre. 

5)  Florentiner  Thermometer. 

Es  wird  nun  schwer  zu  sagen  sein,  ob  das  Vor- 
handensein eines  solchen  Thermometers  zu  weiterer 
Kenntnis  gelangt  oder  ob  die  Erfindung  des  geschlos- 
senen Florentinerthermometers,  beruhend  auf  der  Be- 
obachtung der  Ausdehnung  des  Weingeistes,  als  eine 
originale  zu  betrachten  sei.  In  Florenz  wurde  sie  dem 
Grossherzoy  Ferdinand  IL  von  Toskana  zugeschrieben, 
und  von  Florenz  aus  gelangten  solche  Instrumente  in 
andere  Gegenden,  erst  als  fürstliche  Geschenke  verein- 
zelt, später  aber  als  förmlicher  Handelsartikel;  auch 
wurden  sie  anderwärts  von  Unberufenen  nachgemacht, 
erhielten  willkürliche,  wenig  übereinstimmende  Skalen, 
behielten  aber  immer  den  Namen  Florentinerthermo- 
meter.  Der  Grossherzog  versandte  seine  Thermometer 
an  verschiedene  Orte  im  Lande,  um  damit  Beobachtungen 
anstellen  zu  lassen  und  zu  sammeln.  Nach  Berichten, 
die  in  neuerer  Zeit  bekannt  geworden  sind,  erfahren 
wir  von  zwei  solchen  Instrumenten,  von  denen  das  eine 
in  die  Hände  von  Ismail  Boulliau  (BuMialdus),  das 
andere  in  die  von  Cf/ristiaan  Hut/gens  gelangt  ist. 
Nach  einer  später  zu  erwähnenden  Beobachtung  muss 
man  annehmen,  dass  diese  ebenso  müssen  eingeteilt  ge- 


1  !      — 

wesen  sein,  wie  die,  deren  sich  die  Akademiker  del 
(  üniento  bedient  haben  und  deren  exakte  technische 
Ausführung  in  der  Florentiner-Sammlung  der  I  ralileischen 
Tribuna  nicht  genug  kann  bewundert  werden.  Die 
Akademie  fand  die  in  ihren  Verhandlungen  erwähnten 
Messinstrumente  schon  bei  ihrer  Gründung  vor.1)  Der 
Geschichtschreiber  der  Akademie  Yincenzio  Antinori,  der 
die  Ausgabe  der  Saggi  di  naturali  Esperienze  vom 
Jahre  1841  einleitet,  zieht  auf  p.  105  alle  Seiten  der 
Thätigkeit  der  nur  zehn  Jahre  lebenden  Akademie  in 
einer  langen  Periode  zusammen  und  erwähnt  unter  den 
aufgezählten  Arbeiten  die  Thermometer  nicht;  hingegen 
fragt  er  (p.  106),  wie  es  möglich  gewesen  sei.  dass 
Ferdinand,  der  dieser  Akademie  seine  wertvollen  In- 
strumente übergeben  habe,  die  Auflösung  der  Akademie 
habe  können  geschehen  lassen. 

Ich  erinnere  daran,  dass  in  diesen  Verhandlungen, 
und  zwar  an  deren  Anfang  einige  Thermometer  genauer 
beschrieben  sind,  und  dass  die  in  Florenz  jetzt  noch 
vorhandenen  genau  mit  der  Beschreibung  übereinstimmen. 
In  der  ersten  Art,  deren  Skala  in  100  Grade  ge- 
teilt ist,  steigt  der  ungefärbte  Weingeist  bis  zu  einem 
mit  20  bezeichneten  Grade,  wenn  das  Instrument  in 
Scli nee  und  Eis  gestellt  wird,  und  nicht  höher  als  bis 
zum  80.  Grade  in  der  stärksten  Sommerhitze. 

Eine  zweite  Art  ist  dem  ersten  ähnlich  erstellt,  aber 
statt  in  100  in  50  Grade  eingeteilt;  während  jenes  im 
strengsten  Winter  16"  oder  17°  zeige,  zeige  dieses  12° 
oder  11":  während  jenes  bei  intensiver  Hitze  bis  80° 
steige,  steige  dieses  nur  bis  40";  von  diesem  zweiten 
wird  ferner  ausgesagt  :  „Wir  haben  ein  Bleigefass  mit 
klein  zerriebenem    Eise    gefüllt    und    ein    Thermometer 


gi.     Not.  istor.  ]i.  39. 


—     15     — 

von  50°  hineingestellt,  welches  sich  auf  1B1/*0  einge- 
stellt hat,"  ') 

Ein  drittes  Thermometer  war  in  300  Grade  ein- 
geteilt, 

Ein  Glaskünstler,  der  für  den  Grossherzog  arbeitete, 
pflegte  zu  sagen,  er  würde  sich  getrauen,  zwei,  drei 
oder  mehrere  öOgradige  Thermometer  zu  machen,  die 
im  gleichen  Räume  gleiche  Grade  zeigten,  nicht  aber 
solche  von  100  oder  300  Graden. 

Als  Antinori  1829  eine  Anzahl  Thermometer  der 
Akademiker  auffand,  wurde  von  Libri  eine  Vergleichung 
mit  der  sog.  Reaumurskala  vorgenommen.  Das  Resultat 
war,  dass  0°  R.  auf  13,5°  Fl.  und  0  Fl.  auf  —  15°  R, 
fiel.  Die  Übereinstimmung  des  Eispunktes  ist  fast  zu 
vollkommen,  indem  im  Laufe  langer  Jahre  wohl  in 
diesen  Thermometern  der  Eispunkt  auch  etwas  dürfte 
gestiegen  sein. 

Zu  ganz  allgemeiner  Kenntnis  sind  die  Florentiner- 
thermometer in  der  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  nicht 
gelangt.  Ich  habe  versucht  zu  ermitteln,  ob  vielleicht 
solche  Instrumente  zugleich  mit  den  astronomischen,  in 
China  hergestellten,  dort  eingeführt  worden  seien;  allein 
weiter  als  zu  einem  Thermoskop,  auf  der  Ausdehnung 
der  Luft  beruhend  und  nach  Art  des  Instrumentes  von 
Galilei  oder  Sanclorius  gebildeten  hat  es  der  in  astro- 
nomischen Dingen  wohl  erfahrene  Jésuite,  der  die  Her- 
stellung aller  Instrumente  leitete,  nicht  gebracht. 

Ferdinand  Verbietst  S.  J.2)  widmet  in  seiner  Astro- 
noinia  europœa,  Ex  umbra  in    lucem   revocata    sub    im  - 

1)  Saggi  di  natur.  Esp.  1841,  p.  39.  Die  Akademiker  de! 
Cimento  betrachteten  die  50gradigen  Thermometer,  laut  Sagg. 
p.  120  als  i  più  commodi,  i  più  sinceri,  e  per  consequenza  i  piii 
adoprati  a  conoscer  le  alteruzioni  del  aria. 

2)  Über  Ferdinand  Yerkicst?*  Schriften  siehe  T.  S.  Bayer  in 
Miseell.  Berol.  T.  VI  Nr.  III  p.  18i)— 192. 


—     16 

peratore  Tartarico-Synico,  Cam  Hy  appellato,  ein  be- 
sonderes  Kapitel  XXV I.  p.  95  der  Meteorologie,  worin 
die  Sonnen-  und  Mondringe,  Nebensonnen  und  andere 
atmosphärische  Erscheinungen  erörtert  werden.  Über- 
dies wird  erwähnt  ein  Thermoskop,  der  Beschreibung 
nach,  wie  eben  erwähnt,  ein  unvollkommenes  Instrument: 
Hoc  tbermoscopium  ex  vitro  Sinico  conflandum 
curavi,  quod  gracili  et  longo  tubo,  instar  siphonis  bicru- 
ris  reflexo,  atque  ex  magno  globo  vitreo  descendente, 
vel  minimam  quamvis  caloris  et  frigoris  vicissitudinem 
statin)  ante  oculos  ponebat,  oculo  scilicet  omnium  sen- 
suum  acutissimo  defectum  tactus,  qui  omnium  sensuum 
maxime  obtusus  est,  neque  hos  caloris  et  frigoris  gra- 
dus  omnes  discernere  facile  potest,  abunde  supplente. 

6)  Ismaël  Boulliau  (Bullialdus). 

Vor  einigen  Jahren  hat  der  Abbé  Maze  der  Pariser 
Akademie  folgendes  mitgeteilt  und  in  den  Comptes 
Rendus  CXXI,  p.  230—231  (1895)  veröffentlicht: 

Sur  le  premier  thermomètre  à  alcool  utilisé  à  Paris. 

Il  y  a  quelques  mois,  j'ai  fait  connaître  à  l'Aca- 
démie la  plus  ancienne  série  thermometrique  faite  à 
Paris.  Il  était  intéressant  de  chercher  comment  Boul/itm. 
l'auteur  de  cette  série,  avait  été  mis  en  possession  d'un 
thermomètre  de  Florence.  Cette  recherche  a  été  cou- 
ronnée de  succès;  je  puis  affirmer  aujourd'hui  que  ce 
thermomètre,  pour  venir  de  Florence  à  Paris,  est  passé 
par  la  Pologne. 

Pendant  l'été  de  1057,  la  reine  de  Pologne.  Mûrit 
Louise  de  Gonzague,  envoya  Mr.  Buralin  avec  une 
mission  en  Italie.  Celui-ci  revint  avec  divers  cadeaux 
du  grand-duc  de  Toscane,  parmi  lesquels  il  y  avait  des 
thermomètres   scellés  et  d'autres  inventions  aussi  scellées 


—     17     — 

pour  comparer  la  pesanteur  de  toutes  les  liqueurs,  d'autres 
pour  mesurer  la  chaleur  des  fébricitants  et  les  mouve- 
ments du  pouls,  etc. 

Des  Noyers,  secrétaire  de  la  reine,  envoya  à  Boulliau 
un  de  ces  thermomètres,  mais  auparavant  il  lui  en  avait 
fait  parvenir  la  description  et  le  dessin.  Ce  dernier, 
conservé  à  la  Bibliothèque  nationale  avec  les  lettres  de 
Des  Noyers,  n'est  qu'un  simple  croquis,  mais  comme  son 
auteur  affirme  par  deux  fois  que  la  forme  et  les  dimen- 
sions en  sont  très  exactes,  que,  d'ailleurs,  il  est  facile 
de  voir  qu'il  l'a  tracé  à  l'aide  d'un  compas,  cela  per- 
met de  juger  de  la  forme  et  des  dimensions  de  l'in- 
strument. 

Cette  forme  était  celle  de  nos  thermomètres  à 
boule,  mais  cette  dernière  était  un  peu  aplatie  normale- 
ment à  la  tige.  L'intérieur,  boule  et  tige,  mesurait 
exactement  un  décimètre.  Ce  thermomètre  était  gradué 
sur  tige  à  l'aide  de  petits  points  en  émail  noir.  Les 
dizaines  étaient  marquées  par  des  points  plus  gros  d'émail 
blanc.  L'alcool  était  incolore.  „On  n'y  met  pas  de 
l'esprit-de-vin  coloré  parce  qu'avec  le  temps  il  salit  le 
verre,  et,  y  demeurant  attaché  hors  du  liquide,  en  di- 
minue la  quantité  apparente." 

Le  jour  de  l'envoi  n'est  pas  connu,  mais  l'instru- 
ment fut  longtemps  en  route,  comme  le  prouvent  les 
lignes  suivantes,  datées  du  16  juin  1058:  „Je  vois  par 
votre  lettre  du  24  may  qu'enfin  vous  avez  reçu  le  petit 
thermomètre.  Le  grand-duc  en  porte  toujours  un  dans 
sa  pochette." 

La  première  observation  inscrite  dans  la  série  de 
Boulliau  est  du  25  mai  1658.  Les  chiffres  ne  sauraient 
mieux  concorder.  On  voit  que  notre  astronome  n'a 
guère  tardé  à  se  mettre  à  l'œuvre,  posant  ainsi  les 
premières  bases  de  la  climatologie  française. 

-> 


18 


Über  diese  älteste  Beobachtungsreihe  berichtet  der 
Abbé  Mme  in  Comptes  Rendus  CXX,  p.  731  (1895): 
Sur  la  plus  ancienne  série  française  d'observations  ther- 
mométriques  et  météorologiques. 

Dans  un  recueil  de  documents  astronomiques  que 
possède  l'observatoire  national  se  trouve  relié  un  cahier 
écrit  de  la  main  du  prêtre  astronome  Ismaël  Boulliau. 
Ce  registre,  car  c'en  est  un,  a  pour  titre  :  Ad  thermo- 
metrum  observationes  anno  1658  Parisiis,  et  ce  sous- 
titre  :  Thermometrum  Florentiœ  fabricatum.  Or  chacun 
de  ces  deux  titres  est  une  révélation  :  on  ne  connais- 
sait pas,  à  Paris,  d'observations  thermométriques  anté- 
rieures à  celle  de  Laltire,  et  l'on  ignorait  qu'il  eût  été 
l'ait,  hors  de  l'Italie,  d'observations  avec  le  thermomètre 
de  l'Académie  del  Cimento.  Comme  les  observations 
de  Boulliau  sont  accompagnées  des  notes  sur  la  direction 
du  vent,  les  chutes  de  pluie  ou  de  neige,  le  gel,  le 
dégel  etc.,  la  comparaison  entre  ces  notes  et  le  degré 
inscrit  en  regard  permet  de  s'assurer  que  l'échelle 
employée  est  bien  celle  de  l'Académie  del  Cimento, 
telle  que  Libri  l'a  fait  connaître  en  1830;  c'est-à-dire 
que  le  zéro  de  Florence  correspond  à  --  18,75°  C.  et 
le  zéro  de  nos  thermomètres   est  à  13l/i°   del  Cimento. 

Die  Beobachtungen  umfassen  drei  Sommer  und  zwei 
Winter  (25.  Mai  1658  bis  19.  September  1660)  und 
bilden  eine  nicht  ganz  vollständige  Reihe,  die  doch 
manches  Interessante  bietet  für  die  Klimatologie  von 
Paris  in  der  Mitte  des  17.  Jahrhunderts.  Nur  die  in 
Florenz  von  P.  Bainer  angestellten  Beobachtungen 
reichen  noch  über  drei  Jahre  weiter  zurück  bis  1654. 
Die  Tagebücher  sind  noch  erhalten  und  durch  den  Di- 
rektor des  Museo  (Talileiano,  V.  Antinori,  im  Archivio 
centrale  italiano  I  Firenze  1858  ausführlich  veröffent- 
licht worden.    Sie  besinnen  mit  dem  15.  Dezember  165-1 


—     19     — 

und  enden  im  März  1670 ');  1670  aber  wurde  bisher 
als  der  früheste  Zeitpunkt  angesehen,  bei  dem  in  Paris 
überhaupt  beobachtet  wurde  und  zwar  durch  den  in 
Maze's  Mitteilungen  genannten  La  Hire,  dessen  Ther- 
mometer auch  ein  Florentiner  gewesen  sein  soll. 

Über  das  aus  Polen  erhaltene  Thermometer  schreibt 
Boulliau  am  28.  Februar  1659  an  den  Fürsten  Leopold , 
Bruder  des  Grossherzogs  von  Toskana2)  : 

Thermometrum  unum  ex  Polonia  a  quodam  amico 
meo  anno  superiore  accepi,  quod  Florentia?  confectum 
mihi  asseruit,  per  intensissimos  œstatis  pneteritœ  sestus 
ad  gradum  trigesimum  septimum  liquor  in  illo  intumuit; 
vicissimque  Decembris  elapsi  diebus  aliquot  ad  gra- 
dum 7  liquor  depressus  apparuit.  Hoc  etiam  adnotavi 
pruinam  cecidisse  ac  tenuissimam  glaciem  visam  esse 
ubi  liquor  fuit  ad  15  gradus  compressus;  usque  dum 
ad  14  gradus  subsedisset  gelu  non  exspectaveram,  cum 
monuisset  me  amicus  supra  illum  gradum  nee  cadentem 
rorem  in  pruinam,    nee   aquam   in  glaciem   concrescere. 

Hierauf  verlangt  Leopold  genauere  Angaben  über 
das  gebrauchte  Thermometer  in  folgender  Briefstelle 
vom  31.  März  1659  3): 

Et  intormo  a  quel  Termometro  inviatole  dall'  Amico 
di  Polonia.  per  poter  dare  a  Vostra  Signoria  qualche 
aggiustata  risposta  sopra  le  sue  operazioni,  è  necessario 
che  ella  mi  mandi  üna  misura,  o  disegno  puntuale  della 
sua  grandezza,  et  in  quanti  gradi  sia  diviso,  con  aggiu- 
gnerui  la  relazione  di  una  esperienza,  che  desidererei 
Vostra  Signoria  facesse,  che  è  questa  di  mettere  il 
Termometro  dentro  al  Diaccio  stritolato    e  osservare  se 

r)  Hellmann,  Dr.  G.,  Die  Antauge  der  meteorol.  Beol>acht. 
und  Iustrum.  aus  Illustr.  naturwiss.  Monatsschrift  Himmel  und 
Erde,  Jahrg.  II,  p.  3.     4.  Heft  1890. 

2)  Huygem.  Oeuv.  compl.  Bd.  III,  p.  460. 

8)  lluygens.  Oeuv.  compl.     Bd.  III,  p.  461,  463,  464. 


20 


quanto  l'acqua  del  Termometro  et  a  che  gradi  cali 
doppo  essere  il  medesimo  stato  nel  Diaccio  per  lo  spazio 
di  mezza  ora,  e  con  tenervelo  tanto  tempo  sommerso, 
che  cali  alla  minor  possibile  hassezza. 

Am  2.  Mai  1650  zeigt  Boulliau  dem  Fürsten  Leo- 
pold den  Empfang  zweier  Thermometer  an  : 

Etsi  fortasse  importunus  nimis  videar,  pauca  tarnen 
rescribenda  mihi  videntur,  ut  therinometrorum  in  liquoris 
ostendendo  ascensu  et  descensu  varietatem  significem 
ex  quo  instrumenta  illa  vitrea  a  Celsitudine  Tua  Sere- 
missima  accepi,  thermometra  bina,  qua3  intégra  in  ar- 
cula  inveni,  cum  eo  quod  ex  Polonia  ad  me  fuit  miss  um 
comparavi  et  in  hocce  altiorem  apparere  liquorem  duo- 
lius  punctis,  quam  in  illis,  semper  notavi.  Cumque  sint 
illa  instrumenta  inter  se  omnimode  sequalia,  tarn  penes 
tubuli  longitudinem  ac  capacitatem,  quam  penes  utriculi 
capacitatem,  differentiam  illam  in  spiritus  vini  subtili- 
tate  ac  tenuitate  insequali  oriri  existimo.  aliunde  enim, 
quam  ex  contenti  liquoris  majori  vel  minori  levitate, 
quse  majorem  vel  minorem  phlegmatis  copiam  sequitur. 
causam  repetere  facile  non  est,  cum  vasa  qua?  illum 
continent  undequaquam  ajqualia  et  similia  sint.  Glaciei 
comminutse  illa  simul  immersa  thermometra,  ut  monitis 
tuis,  Serenissime  Princeps,  obtemperem,  utque  quam 
maxime  in  singulis  subsidit  liquor,  deprehendam. 

Hierauf  antwortet  Leopold  dem  J.  Boulliau  am 
22.  Mai  1659: 

Sopra  la  differenza  che  Vostra  Signoria  mi  accenna 
h  a  ver  potuto  riconoscere  fra  i  Termometri  inviatili  da 
me  et  quello  che  ella  ha  riceuto  di  Pollonia,  altro  di  qua 
da  lontano  non  saprei  dirmi,  se  non  questa  diversita 
puo  haver'  cagione,  quantunque  i  Termometri  siano  di 
ugual'  grandezza,  dall'  havere  il  maestro  che  gl'ha  fab- 
bricati  messa  qualche  quantita  di  acqua  arzente   più  in 


21     — 

uno  che  nell  altro,  o  si  vero  quello  che  Vostra  Signoria 
accenna  dall'  essere  l'acqua  arzente  in  alcuno  di  questi 
strumentini  piü  gagliarda  che  nel  altro. 

7)  Christiaan  Huygeus;  Robert  Hooke. 

In  dieselbe  Zeit  nun  lallt  auch  die  Zusendung 
eines  solchen  Thermometers  mittlerer  Grösse,  dem  zweiten 
Thermometer  der  Akademie  entsprechend,  an  Christiaan 
Huygens  in  La  Haye,  aus  dessen  Briefwechsel  mit  R. 
Moray,  dem  Engländer,  nicht  nur  hervorgeht,  dass 
Huygens  sich  um  1660  im  Besitze  eines  Florentiner- 
thermometers befand  zu  einer  Zeit,  da  man  in  Eng- 
land ein  solches  noch  nicht  gesehen  hatte,  wohl  aber 
wahrscheinlich  unter  der  Führung  Robert  Boy  le' s  und 
unter  Mitwirkung  des  geschickten  Experimentators  und 
Schützling'*  Boyle's  1),  Roh.  Hooke,  bemüht  war,  dem 
gemeinen  Wetterglas  (common  Weather-Glass)  das  ge- 
schlossene Thermometer  (seald  Thermometer)  an  die 
Seite  zu  stellen. 

Robert  Boy  le  berichtet  in  seinem  klassischen  Buche: 
Experiments  touching  Cold,  1665,  nachdem  er  die  Mängel 
des  vom  Luftdrucke  abhängigen  Thermoskopes  beleuchtet, 
dass  er  die  Herstellung  des  ersten  hermetisch  ver- 
schlossenen Thermometers  in  England  geleitet  habe. 
Diese  Arbeit  aber  sei  gefördert  worden  dadurch,  dass 
er  von  einem  einsichtigen  Reisenden  ein  kleines  Wetter- 
glas gesehen  habe,  das  dieser  von  Florenz  mitbrachte, 
woraus  hervorgehe,  dass  höchst  geschickte  Männer, 
Zierden  jener   schönen    Stadt,    vorangegangen    seien    in 

1)  It.  Hooke,  Micrographie,  1665.  Préface  :  The  most  Illu- 
strious  Mr.  Boyle,  whom  it  beconies  me  to  mention  with  all  ho- 
nour,  not  only  as  my  particular  Patron,  but  as  the  Patron  of  Phi- 
losophy  itself;  which  he  every  day  increases  by  his  labours,  and 
adornes  by  his  Exemple. 


—     22     — 

der  Herstellung  geschlossener  Thermometer  von  geeig- 
neter Form.  Jetzt  aber,  seitdem  diese  Methode  durch 
die  geschickte  Hand,  die  für  ihn  arbeite,  verbessert  worden 
sei,    seien    sie  in  hohem  Grade  vervollkommnet  worden. 

leh  habe  früher  schon  die  Vermutung  ausgesprochen, 
der  Reisende,  der  Boy  le  zuerst  ein  Florentinerthermo- 
meter gezeigt  habe,  möchte  der  Franzose  Balthasar 
Monconys  gewesen  sein,  der  in  seinem  „Journal  des 
Voyages"  berichtet,  dass  er  am  30.  Mai  16(33  l)  von 
Boyle  in  eine  Sitzung  der  Akademie  mitgenommen  wor- 
den sei;  im  Reisetagebuche  ist  am  folgenden  Tage  eine 
Beobachtung  mit  dem  von  ihm  mitgeführten  Thermo- 
meter aufgezeichnet. 

Die  geschickte  Hand  aber,  die  für  Boyle  arbeitete, 
gehörte  wahrscheinlich  dem  Experimentator  der  Königl. 
Gesellschaft  Robert  Hooke,  berühmt  durch  zahlreiche 
Erfindungen  und  viele  Prioritätsstreitigkeiten. 

Am  9.  September  1663  sprach  Reale  in  der  unter 
Oldenburg  versammelten  Kgl.  Gesellschaft  den  Wunsch 
aus,  übereinstimmende  Thermometer  zu  erhalten,  um  in 
verschiedenen  Landesgegenden  vergleichbare  meteoro- 
logische Beobachtungen  zu  machen-,  die  Gesellschaft 
beauftragte  ihren  Experimentator,  R.  Hooke,  ein  Dutzend 
solcher  Weingeistthermometer  zu  beschaffen.  Am  22. 
Oktober  1663  verteilte  dieser  in  der  That  solche  ad- 
justierte Thermometer;  ein  solches  erhielt  auch  R.Moray-). 

R.  Hooke  beschreibt  die  Herstellung  seines  Normal- 
thermometers   in    der    Micrographie 3).     Es    lohnt    sich 

1  Journ.  d.  Voyage,  II.  p.  38;  nicht  1662,  wie  im  Bull.  d.  1. 
soc.  Beige  d' Astron.  1901,  p.  288  steht. 

'<  Huyg.     Oeuvr.  Bd.  IV,  p.  425,  Fussnote, 

Robert  Hooke  F.  R.  S.  Micrographia.  London  1665.  Am 
23.  November  1664  hat  der  Rat  der  R.  S.  angeordnet,  dass  dieses 
Buch  bei  den  Druckern  der  Gesellschaft  .In.  Harly  und  Ja.  AUestry 
gedruckt  werde  .off.  Biblioth.  h.  c.  I.  S  ;,  unsere  Stelle  p.  37—39. 


23 


wohl  der  Mühe,  diese  in  extenso  zu  geben,  als  ersten 
Versuch,  der  zwar  nicht  ganz  zu  dem  gehofften  Resul- 
tate führen  konnte,  der  aber  dafür  zeugt,  dass  es  Hooke 
ernstlich  daran  lag,  wirklich  vergleichbare  Thermometer 
zu  erstellen. 

Einleitungsweise  stellt  Hooke  einige  Thesen  auf 
über  Wirkungen  der  Wärme,  z.  B.  dass  eingeschlossene 
Flüssigkeiten  erwärmt,  die  stärksten  Wände  sprengen 
können.  Hiebei  spricht  er  den  Satz  aus:  That  Heat 
is  a  property  of  a  body  arising  from  the  motion  or 
agitation  of  its  parts.     Und  weiterhin  fährt  er  fort: 

Das  wird  klar  mittelst  der  geschlossenen  Thermo- 
meter, die  ich  nach  mehreren  Versuchen  zuletzt  zu  einem 
hohen  Grade  von  Sicherheit  und  Empfindlichkeit  ge- 
bracht habe  :  denn  ich  habe  einige  hergestellt  mit  Röhren, 
über  vier  Fuss  lang,  in  denen  die  sich  ausdehnende 
Flüssigkeit  sich  so  weit  verändert,  dass  sie  nahezu  bis 
zum  obern  Ende  steigt  in  der  Hitze  des  Sommers  und 
fast  bis  zum  Boden  sinkt  im  kältesten  Winter.  Die 
Röhren,  deren  ich  mich  hierzu  bediene,  sind  sehr  dicke, 
gerade  und  gleichmässige  Glasröhren  mit  engem  Lumen 
und  beides,  Kopf  und  Kugel,  habe  ich  absichtlich 
in  der  Glashütte  aus  demselben  Glasfluss  gemacht, 
aus  dem  auch  die  Röhren  bestehen;  diese  kann  ich 
leicht  in  der  Flamme  einer  Lampe,  erhitzt  mittelst 
zweier  Blasebälge,  fest  aneinander  schmelzen.  Auf  diese 
Weise  füge  ich  zuerst  die  Kugel  an  und  dann  fülle 
ich  beide,  Kugel  und  einen  Teil  der  Röhre,  je  nach 
der  Länge  und  der  Temperatur  der  Jahreszeit  mit  dem 
besten  rektifizierten  Weingeist,  tief  gefärbt  mit  der  lieb- 
lichen Farbe  der  Cochenille,  die  ich  dunkler  mache,  in- 
dem ich  einige  Tropfen  Ammoniak  zugiesse,  das  nicht 
zu  sehr  rektifiziert  sein  darf,  weil  es  geeignet  ist,  die 
Flüssigkeit  gerinnen  und  an  der  engen  Röhre  ankleben 


—     24 

zu  machen.  Diese  Flüssigkeit  habe  ich  durch  Ver- 
suche als  die  beste  unter  allen  Spirituosen  erfunden 
und  als  solche,  die  durch  die  Änderungen  der  Wärme 
und  Kälte  empfindlicher  berührt  wird,  als  andere  trägere 
und  schwerere  Flüssigkeiten  und  als  fähig,  eine  tiefe 
Färbung  anzunehmen  und  zu  behalten,  besser  als  irgend 
eine  andere  Flüssigkeit,  und  endlich  (was  sie  noch  an- 
nehmbarer macht)  nicht  Gefahr  läuft,  bei  irgend  einer 
bisher  bekannten  Temperatur  zu  gefrieren.  Habe  ich 
nun  diese  eingefüllt,  so  kann  ich  leicht  in  der  vorer- 
wähnten Lampenflamme  auch  den  Kopf  anschmelzen 
und  mit  der  Röhre  verbinden. 

Was  nun  die  Einteilung  der  Röhre  anbelangt,  so 
stelle  ich  fest,  bevor  die  Einteilung  der  Röhre  begonnen 
wird,  bis  wohin  das  Niveau  der  Flüssigkeit  in  der  Röhre 
sich  einstellt,  wenn  die  Kugel  in  gewöhnlichem  destil- 
liertem Wasser  steht,  das  im  Begriffe  ist  zu  gefrieren 
und  wenn  Eisnadeln  anschiessen  ;  diesen  Punkt  markiere 
ich  an  einem  passenden  Ort  der  Röhre,  damit  diese 
dann  imstande  sei,  auch  noch  manche  Grade  von  Kälte 
anzugeben  unter  dem  Gefrierpunkt;  den  Rest  meiner 
Einteilung  über  und  unter  diesem,  den  ich  mit  0  (Null) 
bezeichne,  ordne  ich  nach  dem  Grade  der  Ausdehnung 
oder  Zusammenziehung  der  Flüssigkeit  im  Verhältnis 
zu  der  Menge,  die  sie  beim  Eispunkt  aufweist.  Und 
das  erhält  man  sehr  leicht  und  genau  genug  auf  folgen- 
dem Wege: 

Man  stellt  ein  cylindrisches  Gefäss  her  mit  dünnen 
Silberplatten,  A  B  C  D  der  Figur  Z,  der  Diameter 
A  B  des  Innenraumes  soll  überall  zwei  Zoll  haben  und 
ebenso  die  Höhe  des  Gefässes  B  C;  beide  Seiten  oben 
und  unten  sollen  mit  einer  glatten  und  ebenen  Platte 
aus  derselben  Substanz  bedeckt  werden,  genau  ange- 
lötet ;  in  der  Mitte  der  Deckplatte  macht  man  ein  ziem- 


25 


lieh  weites  Loch  FE,  ungefähr  ein  Fünftel  Durchmesser 
der    Platte;    in    dieses    füge   man  mit  Cernent  befestigt 

eine  gerade  und  ebenmässige 
Glasröhre  E  F  G  H,  deren 
Lumen  genau  den  zehnten  Teil 
des  Durchmessers  des  silbernen 
Cylinders  misst.  An  dieser 
Röhre  bringt  man  eine  Marke 
an,  G  H,  mit  einem  Diamant, 
so  dass  der  Abstand  G  E  ge- 
nau zwei  Zoll  misst,  also  genau 
so  viel  als  der  Innenraum  des 
grossen  Cylinders;  man  teile 
dann  die  Länge  E  G  genau  in 
zehn  gleiche  Teile,  so  ist  der 
Inhalt  eines  jeden  dieser  Teile 
der  tausendste  Teil  des  In- 
haltes des  Cylinders.  Ist  nun 
dieses  Gefäss  so  gerüstet, 
so  kann  die  Markierung  und  Graduierung  des  Thermo- 
meters leicht  in  folgender  Weise  bewerkstelligt  werden  : 
Fülle  dieses  Cylindergefäss  mit  der  gleichen  Flüssig- 
keit, mit  der  das  Thermometer  gefüllt  ist  ;  dann  stelle 
beide,  das  Gefäss  und  das  Thermometer,  das  eingeteilt 
werden  soll,  in  Wasser,  das  zu  frieren  beginnt,  und 
bringe  das  Niveau  der  Flüssigkeit  im  Thermometer  zu 
der  ersten  Marke  0  (Null)  ;  dann  miss  so  viel  Flüssig- 
keit in  dem  Cylindergefäss  ab,  dass  das  Niveau  genau 
bis  zum  untern  Ende  des  schmalen  Glascylinders  reicht; 
dann  erwärme  langsam  und  allmählich  das  Wasser,  in 
dem  beide,  Cylindergefäss  und  Thermometer,  eingetaucht 
sind  und  sowie  du  wahrnimmst,  dass  die  gefärbte  Flüs- 
sigkeit in  beiden  Röhren  steigt,  so  markiere  mit  einem 
Diamant   verschiedene    Punkte    auf    der    Thermometer- 


26 


Röhre  an  solchen  Stellen,  die  beim  Vergleichen  der 
Ausdehnung  in  beiden  Röhren  mit  den  Teilstrichen  des 
Cylindergefässes  übereinstimmen.  Sind  auf  diese  Weise 
einige  wenige  Teilstriche  gemacht,  so  kann  der  Rest 
der  Röhre  eingeteilt  und  jeder  Teil  der  Skala  mit  ihrem 
Charakter  bezeichnet  werden. 

Ein  Thermometer,  auf  diese  Weise  hergestellt,  ist 
dann  das  passendste  Instrument,  das  als  Standart  für 
Hitze  und  Kälte  ersonnen  werden  kann;  denn,  da  es 
oben  geschlossen  ist,  ist  es  keiner  Veränderung  und 
keinem  Verderben  unterworfen,  auch  unabhängig  von 
den  Veränderungen  des  Luftdrucks,  denen  alle  andern, 
oben  offenen  Arten  von  Thermometern  ausgesetzt  sind." 

Wir  verkennen  nicht,  dass  die  von  Hooke  beschrie- 
bene Methode  für  die  Tüchtigkeit  des  Experimentators 
zeugt,  allein  einwandfrei  ist  sie  nicht,  scheint  auch  in 
gleicher  Weise  später  nicht  mehr  verwendet  worden 
zu  sein. 

Schon  die  Erstellung  des  Probegefässes  dürfte 
Schwierigkeiten  begegnen,  wenn  die  Röhre  ein  Lumen 
haben  muss,  das  durch  die  ganze  Länge  genau  gleich 
dem  zehnten  Teil  des  Gefässdurchmessers  ist.  Wenn 
hier  ein  kleiner  Unterschied  vorhanden  ist,  so  enthalten 
zwei  Zoll  der  Röhre  nicht  mehr  den  hundertsten  Teil 
des  Gefässes.  Auch  die  ungleich  schnelle  Erwärmung 
des  Metallgefässes  und  des  Glasthermometers,  die  un- 
gleiche Ausdehnung  von  Weingeist  verschiedener  Stärke, 
die  ungleichmässige  Ausdehnung  des  Weingeistes  bei 
steigender  Temperatur,  alle  diese  Umstände  bilden 
Fehlerquellen,  die  das  Resultat  beeinträchtigen.  Nichts- 
destoweniger ist  während  geraumer  Zeit  keine  Methode 
angewandt  worden,  die  bessere  Resultate  erzielt  hätte; 
denn  die  für  die  Florentinerthermometer  gewählten 
Punkte     der    grössten    Winterkälte    und    der    höchsten 


—     27     — 

Sommerwärme  haben  eine  zu  grosse  Unsicherheit,  um 
als  feste  gelten  zu  können  ;  sie  kommen  aber  noch  bis 
zum  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  zur  Anwendung. 
Aus  Hoo/c^s  Darstellung  aber  geht  hervor,  dass  er  den 
Schmelzpunkt  des  Eises  als  durchaus  festen  Punkt  an- 
gesehen hat. 

Als  Hliygens  erfuhr,  dass  in  England  vergleich- 
bare Thermometer  erstellt  und  an  verschiedene  Per- 
sonen verteilt  worden  seien,  wünschte  er  auch  ein  solches 
zu  erhalten  und  schrieb  daher  an  Mcray,  am  21.  No- 
vember 1664.     (Oeuvr.  Bd.  V,  p.   150.) 

Vous  m'obligerez  fort  de  m'envoier  par  occasion 
un  tel  thermomètre  que  vous  dites,  je  n'en  ay  jamais 
eu  que  de  petits  de  cette  sorte  qui  sont  scellez  her- 
métiquement. S'il  y  a  quelque  chose  de  plus  dans  la 
construction  des  grands  vous  m'en  pourriez  faire  la  des- 
cription paravance. 

Hierauf  folgte  der  Brief  von  R.  Moray  vom  19. 
Dezember  1664.     (Oeuvr.  Bd.  V,  p.   168,   169.) 

En  regardant  maintenant  les  autres  passages  de 
vostre  lettre  sur  les  quelles  il  me  reste  encore  quelque 
chose  a  vous  dire.  Je  trouve  que  J'ay  a  vous  faire 
la  description  du  thermomètre  de  Monsieur  Hoolî.  Je 
vous  la  feray  donc  en  bref.  Il  prend  un  tuyau  de 
verre  de  la  longueur  de  deux  pieds  ou  davantage,  (il 
en  a  fait  de  trois  pieds)  de  l'espaisseur  de  demiquart 
de  poulce,  le  creux  en  dedans  estant  large  de  1/io  de 
poulce  ou  moins,  et  en  y  soudant  une  balle  de  verre 
de  deux  poulces  de  diamètre  ou  environs  en  sorte  qu'il 
y  a  communication  entre  le  tuyau  et  la  balle  en  dedans 
fort  libre.  11  remplit  sa  balle,  comme  je  vous  cliray 
après  de  lesprit  de  vin  fort  pur  coloré  rouge  par  le 
bois  de  Brésil,  les  grains  du  Cochenille  ou  chose  sem- 
blable puis,  en  y  souciant  ou  ioignant  par  la  lampe  une 


—     28     — 

autre  balle  plus  petite  a  lautre  bout  du  tuyau  en  sorte 
qu'il  ne  respire  point,  il  met  le  thermomètre  dans  un 
châssis  de  bois,  sur  lequel  sont  marques  les  parties  par 
lesquelles  il  veut  comter  les  degrez  de  chaleur,  commen- 
çant par  le  milieu  du  Tuyau.  Le  plus  haut  marquant 
la  plus  grande  chaleur  d'esté,  et  le  plus  bas  le  degré 
de  froid  qui  fait  de  la  glace.  En  voycy  la  figure  sur 
la  marche  grossièrement  tirée:  mais  elle  suffira  pour 
vous  le  faire  comprendre.  Or  ayant  de  longuemain  fait 
un  ou  deux  de  ces  thermomètres  dans  l'esté  et  dans 
l'hiver  lorsque  les  extremitez  se  pouvoyent  observer,  il 
met  leau  de  vie  dans  ceux  quil  fait  iusqu'à  la  hauteur 
qu'elle  est  dans  ceux  qui  servent  de  reigle    aux  autres. 

Auf  der  daneben  gezeichneten  Skala  ist  0  in  der 
Mitte  und  Grade  sind  nach  oben  und  unten  aufge- 
tragen. Huoke's  Methode  ist  hier  wenig  genau  dar- 
gestellt. 

Unter  dem  2.  Januar  1665  *)  folgt  die  bemerkens- 
werte Antwort  von  Huygens: 

Je  vous  remercie  du  thermomètre  que  je  croy  fort 
juste  et  toutefois  les  petits  de  6  ou  7  pouces  ne  sont 
pas  a  mépriser,  parcequ'ils  sont  propres  a  faire  des 
essais  ou  les  grands  ne  pourroient  pas  servir,  comme  a 
mettre  soubs  une  poule  pour  scavoir  le  degré  de  chaleur 
qu'il  faut  pour  esclorre  les  œufs,  et  en  des  choses  sem- 
blables ou  la  grandeur  incommoderoit.  Monsieur  de 
Xoijers  le  Secrétaire  de  la  Reine  de  Pologne,  qui  m'a 
donné  autrefois  un  de  ces  petits,  me  dit  que  à  Florence 
il  en  avoit  vu  qui  estoient  entortillez  en  spirale,  ce  qui 
sert  pour  avoir  des  grandes  divisions  dans  un  petit 
volume  et  rendre  les  thermomètres  portatifs.  Il  seroit 
bon  de  songer  a  une  mesure  universelle  et  déterminée 
du  froid  et  du  chaud  ;  en    faisant   premièrement  que  la 

!)  Oeuvres  Bd.  p.  V,  188. 


—     29     — 

capacité  de  la  boule  eut  une  certaine  proportion  a  celle 
du  tuyau,  et  puis  prenant  pour  commencement  le  degré 
de  froid  par  lequel  l'eau  commence  a  geler,  ou  bien  le 
degré  de  chaud  de  l'eau  bouillante,  a  fin  que  sans  en- 
voier  de  thermomètres  l'on  peut  se  communiquer  les 
degrez  du  chaud  et  du  froid  qu'on  auroit  trouvé  dans 
les  expériences,  et  les  consigner  a  la  postérité. 

Diese  Antwort  von  Huygens  zeigt  uns,  dass  er  von 
Des  Noyers  ein  echtes  Florentinerthermometer  von  der 
kleinern,  bequemeren  Art  erhalten,  daran  aber  feste 
Punkte  vermisst  hat.  Aus  seinem  Vorschlag  aber,  wie 
man  die  Thermometer  einteilen  könnte,  ausgehend  ent- 
weder vom  Gefrierpunkt  oder  vom  Siedepunkt  des 
Wassers  unter  Berücksichtigung  der  Kapazität  der 
Röhre  im  Vergleich  zu  der  der  Kugel  —  aus  diesem 
Vorschlag  folgt,  dass  er  nicht  nur  den  Gefrierpunkt, 
sondern  auch  den  Siedepunkt  als  fest  angesehen  hat. 
Da  man  nun  mittelst  der  Florentinerthermometer  den 
Siedepunkt  des  Wassers  nicht  bestimmen,  seine  Kon- 
stanz also  auch  nicht  beobachten  konnte,  so  bleibt  die 
Frage  offen,  Avoher  Huygens  sich  die  Kenntnis  dieser 
festen  Temperatur  mag  verschafft  haben.  Sein  Vor- 
schlag fällt  im  AVesentlichen  mit  der  Anordnung  Hooke's 
zusammen,  gerade  wie  auch  spätere  Aufstellungen  von 
Skalen,  wie  z.  B.  die  von  liéaunmr.  Dass  Huygens 
selbst  sich  mit  Herstellung  von  Thermometern  nach  dem 
von  ihm  angegebenen  Prinzip  befasst  habe,  wird  uns  nir- 
gends berichtet;  seinen  Namen  tragen  keine  Thermometer. 

Überhaupt  scheinen  alle  geschlossenen  mit  Wein- 
geist gefüllten  Thermometer  bis  in  das  folgende  Jahr- 
hundert hinein  mit  dem  Namen  Florentinerthermometer 
bezeichnet  worden  zu  sein,  und  da  sie  weniger  zu  wissen- 
schaftlicher Beobachtung  als  zu  täglichem  Gebrauche 
verwendet  wurden,  war  der  Anspruch  auf  Vergleichbar- 


—     30     — 

keit  nur  bescheiden.  Wenn  nur  jeder,  der  sein  Ther- 
mometer besass,  ihm  entnehmen  konnte,  ob  und  in 
welchem  Masse  ungefähr  die  Temperatur  in  dem  Räume, 
in  dem  das  Instrument  sich  befand,  geschwankt  habe. 
Wahrscheinlich  hängt  mit  diesem  Gebrauche  auch  die 
verbreitete  Einteilung  zusammen,  die  ausging  von  einer 
erträglichen  Mitteltemperatur  (Tempere)  und  nach  beiden 
Seiten  fortschritt  zur  höchsten  Sommertemperatur  und 
zur  intensivsten  Winterkälte.  Es  existieren  wohl  nicht 
mehr  viele  Florentinerthermometer  dieser  geringern 
Sorte;  sonst  wäre  es  interessant,  sich  von  der  Berech- 
tigung der  Klagen  zu  überzeugen,  die  von  allen  Seiten 
in  Bezug  auf  deren  Unzuverlässigkeit  vernommen  werden. 

Die  physikalische  Sammlung  des  Bernoullianums 
besitzt  unter  ihren  alten,  nach  und  nach  recht  selten 
gewordenen  Thermometern  auch  ein  solches,  angebracht 
neben  einem  Barometer.  Es  trägt  die  Überschrift  : 
Thermometrum  Academiae  Florentinae  und  hat  eine 
auf  Papier  gedruckte  Skala,  die  nicht  gerade  besonderes 
Vertrauen  erweckt.  Um  die  Frage  zu  entscheiden,  ob 
dieses  Thermometer  die  Skala  der  Akademiker  zeige 
oder  eine  andere,  wurde  das  Instrument  von  dem  Brette 
losgelöst  und  Herr  Dr.  Henri  Yeillon  hatte  die  Freund- 
lichkeit die  Skala  mit  derjenigen  eines  Quecksilberther- 
mometers C.  zu  vergleichen,  d.  h.  zwei  Punkte  festzu- 
stellen, aus  denen  man  annähernd  den  Charakter  der 
Skala  erschliessen  konnte. 

Er  fand  folgende  Übereinstimmung  : 
40°  Florenz  =         40°  C. 

—  18°  Florenz  =  0°  C. 
Hienach  fällt 

0°  Florenz  =         12,4°  C, 
d.  h.  auf  Tempéré. 

—  40°  Florenz  =  —  15,2°  C. 


—     31     — 

Wenn  man  nun  40°  C.  als  höchste  Sommerwärme, 
-  15,2  C.  als  intensivste  Winterkälte  ansehen  kann, 
so  wäre  die  Skala  des  Florentinerthermometers  der 
Basler  Sammlung  : 

Winterkälte:  Tempéré:  Sommerhitze: 

—  40  °  0  °  +  40  ° 

Von  dieser  Skala,  die  ohne  Berücksichtigung  der 
ungleichen  Ausdehnung  von  Weingeist  und  Quecksilber 
erhalten  worden  ist,  ist  nur  ein  kleiner  Schritt  zu  der 
ersten  Skala,  mit  der  Fahrenheit  seine  ersten  genauen 
Thermometer  versehen  hat  : 

Winterkälte  :  Tempéré  :  Sommerhitze  : 

—  90  °  0  °  -f  90  ° 

Von  diesen  drei  Stationen  ist  das  Tempéré  auf 
spätem  Einteilungen  immer  wieder  erschienen  und  heute 
noch  nicht  aus  dem  Gebrauche  verschwunden. 

8)  Anwendung  des  Quecksilbers. 

Als  wichtigste  Änderung,  die  im  Laufe  der  Zeit 
an  dem  Elorentinerthermometer  angebracht  worden  ist, 
muss  die  Anwendung  von  Quecksilber  angesehen  werden. 
Alle  gebräuchlichen  und  über  die  Länder  verbreiteten 
Instrumente  enthielten  anfangs  Weingeist,  gefärbt  oder 
ungefärbt;  er  eignete  sich  hiezu  wegen  seines  grossen 
Ausdehnungskoeffizienten  und  seines  niedrigen  Gefrier- 
punktes. Der  Nachteil  der  ungleichmässigen  Aus- 
dehnung bei  verschieden  hohen  Temperaturen  war  zu- 
nächst noch  unbekannt.  Neben  dem  Weingeist  be- 
gegnet man  aber  auch  dem  Weine,  dem  Wasser  und 
selbst  dem  Quecksilber,  letzterm  freilich  nur  sehr  ver- 
einzelt und  ohne  Nachfolge.  In  der  That  findet  sich 
die  erste  Spur  einer  solchen  Verwendung  schon  bei 
den  Akademikern  del  Cimento.    In  den  Verhandlungen 


—     32     — 

dieser  Akademie,  nämlich  in  den  aus  den  Tagebüchern 
geschöpften  Aggiunti,  dem  Supplement  der  Saggi,  ist 
ein  Versuch  beschrieben,  angestellt  mit  einem  Wasser- 
und  einem  Quecksilbertliermometer.1)  Nachdem  darge- 
than  worden,  dass  es  zur  Erwärmung  des  Quecksilbers 
einer  kleinem  Wärmemenge  bedürfe,  als  zu  der  gleich 
grossen  Menge  Wassers  und  dass  die  Erwärmung 
schneller  erfolge,  fährt  der  Bericht  fort  : 

In  altre  esperienze,  similmente  ripetute  più  volte 
trovarono  che  immersi  due  termometri  equali,  uno  dei 
quali  a  mercurio,  l'altro  ad  acqua,  nei  liquidi  stessi. 
il  mercurio  si  muove  il  primo,  ma  percorre  un  tratto 
più  brève,  lo  che  essi  espressero  dicendo  che  è  meno 
distraibile,  cioè  capace  di  minor  dilatatione. 

Aus  diesem  Versuche  sind  weitere  Folgerungen 
nicht  gezogen  worden  und  es  sind  deshalb  auch  keine 
Thermometer,  mit  Quecksilber  gefüllt,  in  allgemeinern 
Gebrauch  gekommen.  Ein  solches  ist  jedoch  in  die  Hände 
Boulliaîi's  gelangt,  vielleicht  von  ihm  selbst  verfertigt 
und  kurze  Zeit  beobachtet,  dann  aber  als  zu  träge  bei 
Seite  gelegt  wrorden. 

Abbé  31aze,  der  die  Beobachtungen  Ismail  Boulliait's 
aufgefunden  und  die  Reise  des  Florentin erthermometers 
von  Florenz  über  Polen  nach  Paris  bekannt  gemacht 
hat,  berichtet  folgendes 3)  : 

Sur  le  premier  thermomètre  à  mercure.  Dans 
l'histoire  du  thermomètre,  écrite  par  M.  Renou  avec  un 
soin  et  une  érudition  qu'on  ne  saurait  contester,  on  lit: 
„Fahrenheit  est  le  premier  qui  ait  construit  un  ther- 
momètre à  mercure,  etc.  La  date  si  intéressante  pour 
lès  météorologistes,  du  thermomètre  à  mercure,  peut 
donc  être  rapportée  à  1721".     Or  dès  la   fin    de  Mars 

1'  Âggiunti  ai  Saggi  1841.  p.  LXXIV. 
2)  C.  R.  CXX.  p.  732-733.     (1895.) 


—     33     — 

1659,  ou  62  ans  avant  l'invention  de  Fahrenheit,  lsmaël 
Boulliau  employait  un  thermomètre  à  mercure  con- 
curremment avec  son  thermomètre  de  Florence.  Ce 
thermomètre  avait  une  échelle  arbitraire,  mais  il  nous 
a  été  possible  de  la  déterminer  en  profitant  de  cette 
circonstance  que  les  observations  ont  été  faites  com- 
parativement avec  d'autres  pour  lesquelles  le  thermo- 
mètre employé  était  celui  de  l'Académie  del  Cimento. 
Ayant  constaté  que  le  degré  6  est  celui  qui  revient  le 
plus  souvent,  nous  en  avons  calculé  la  valeur  par  la 
méthode  des  moindres  carrés.  Cette  valeur  est  6,66°  C, 
avec  une  erreur  probable  de  0,21  °.  Malheureusement 
les  observations  donnant  les  autres  degrés  sont  trop 
peu  nombreuses  pour  qu'il  y  ait  été  possible  de  pro- 
céder de  même  à  leur  égard.  Cependant  la  comparaison 
des  moyennes  nous  a  permis  de  fixer,  avec  une  assez 
grande  probabilité,  la  valeur  du  degré  inconnu  à  10,07°  C, 
ce  qui  met  le  Zéro  de  cette  échelle  à  —  53,76  °  C.  La 
température  de  la  glace  fondante  serait  de  5,34  °  C,  et 
celle  de  l'eau  bouillante  15,27°  C. 

Il  est  probable  que  ce  degré,  qui  en  représente 
plus  de  dix  des  nôtres,  était  indiqué  par  une  distance 
linéaire  assez  courte;  ce  qui  explique  comment  le  même 
degré  mercuriel  peut  avoir  été  noté  comme  équivalant 
tantôt  à  un  degré,  tantôt  à  un  autre  du  thermomètre 
del  Cimento.  Cela  nous  fait  aussi  comprendre  pour- 
quoi, après  six  semaines,  Boulliau  cessa  de  consulter 
régulièrement  ce  thermomètre  paresseux  et  presque  sans 
variations.  Il  est  possible  aussi  que  le  souvenir  de 
cet  échec  soit  pour  quelque  chose  dans  la  préférence 
que,  pendant  longtemps,  les  savants  français  ont  donné 
à  l'alcool  comme  liquide  thermométrique. 

Es  ist  nicht  zu  bestreiten,  dass  hier  der  Versuch 
vorliegt,  Quecksilber  als    thermometrische    Substanz    zu 

3 


—     34     — 

verwenden,  aber  ein  im  Ganzen  misslungener,  indem 
Boulliau  weiter  keinen  Gebrauch  von  diesem  Instru- 
mente gemacht  hat.  Wahrscheinlich  wurde  eine  Wein- 
geistthermometerröhre mit  Quecksilber  gefüllt,  das  nun 
bei  dem  5  bis  6  mal  kleinern  Ausdehnungskoeffizienten 
des  Quecksilbers  einen  ebensoviel  mal  kleinern  Aus- 
schlag geben  musste  als  das  Weingeistthermometer. 

Zur  Unterstützung  der  Behauptung,  dass  Queck- 
silber schon  nach  der  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  an- 
gewandt worden  sei,  wird  etwa  noch  angeführt,  dass  im 
Programm  der  Aufgaben  der  zu  gründenden  franzö- 
sischen Akademie  vorkomme:  Observer  les  fenomenes 
du  Ciel  et  de  la  Terre  par  le  moyen  des  Thermomètres 
du  vif  argent  etc. 

Wir  haben  diese  bemerkenswerte  Stelle  etwas  ge- 
nauer anzusehen  :  ') 

Am  6.  April  1663  schreibt  Chr.  Huygens  an  Lode- 
wijk  Huygens  von  Paris  aus: 

Monsieur  de  Montmor  accompagné  de  l'Abbe  Charles 
et  Monsieur  Sorblere  me  vinrent  visiter,  qui  m'ont  prié 
que  je  me  trouvasse  Mardy  qui  vient  (le  10  Avril)  à 
l'assemblée  pour  entendre  les  nouvelles  loix  et  ordon- 
nances que  l'on  y  va  establir. 

Hieran  schliesst  sich  ein  Schriftstück  à  Christiaan 
Huygens  (No.  1105)  betitelt:  Projet  de  la  Compagnie 
des  Sciences  et  des  Arts,  in  dem  die  Aufgaben  der  zu- 
künftigen Gesellschaft  aufgezählt  werden,  und  unter 
ihnen  (p.  327)  : 

La  Compagnie  entretiendra  commerce  avec  toutes 
les  autres  Académies  et  avec  tous  les  sçavants  de  tous 
les  Pays.  Pour  s'instruire  réciproquement  de  ce  qu'il  y 
a  de  particulier  dans  la  Nature  et  dans  les  arts,  et  de 
ce  qui  se  fera  de  nouveau   touchant    les   Livres   et   les 

l)  Huygens,  Oeuvres  compl.  Bd.  IV,  p.  323. — 325-  327. 


35 


sciences,  Et  pour  observer  par  ce  moyen  en  tous  les 
Lieux,  les  Saisons  les  vents,  le  plus  grand  chaud,  le 
plus  grand  froid,  la  déclinaison  de  l'Aimant,  les  flux  et 
reflux  des  Mers,  les  Eclipses,  les  Comètes,  les  météores 
et  les  autres  fenomenes  du  Ciel  et  de  la  Terre  par  les 
moyen  des  Thermomètres  du  vifargent,  des  pendules  et 
de  tout  les  autres  instruments  nécessaires  pour  pouvoir 
en  suitte  faire  nue  histoire  de  la  Nature  la  plus  uni- 
verselle qui  soit  possible,  sur  la  quelle  comme  sur  de 
solides  fondemens  on  puisse  travailler  à  bastir  une 
Physique  etc. 

Zieht  man,  was  sprachlich  unrichtig  ist,  Thermo- 
mètres und  du  vif  argent  zusammen,  so  klingt  die  Stelle 
wirklich  so,  als  sollten  Beobachtungen  mit  Quecksilber- 
thermometern angestellt  werden  ;  trennt  man  aber  die 
beiden,  so  muss  jedem  eine  besondere  Bedeutung  zu- 
kommen, und  da  bietet  sich  sogleich  die  Erklärung, 
dass  mit  Vif  argent  die  Quecksilbersäule  des  Torri- 
ce//i'schen  Versuches  gemeint  sein  muss.  Die  Stelle 
heisst  also  :  „mittelst  Thermometern,  Quecksilbersäulen, 
Pendeln  und  allen  andern  Instrumenten  etc."  Man 
hatte  eben  für  das  Instrument  des  To)'ricelli' sehen  Ver- 
suches noch  keinen  besondern  Namen;  denn  der  nament- 
lich in  England  gebräuchliche  Name  :  Wetterglas,  wurde 
für  das  Thermometer  gebraucht.  Boy  le  braucht  (1665) 
in  seinen  Experiments  touching  Cold  (z.  B.  p.  19.  23.  26) 
den  Ausdruck:  Mercurial  Cylinder  in  the  Torricellian 
Experiment. 

Zum  erstenmal  begegne  ich  dort  (p.  27)  dem  Namen 
Barometer,  wobei  Boy  le  beifügt  :  if  to  avoid  Circumlocu- 
tions  I  may  so  call  the  whole  Instrument,  wherein  a 
Mercurial  Cylinder  of  29  or  30  Inches  is  kept  sus- 
pended  after  te  manner  of  the  Torricellian  Experiment. 

Zu  bemerken   ist  übrigens,    dass   der   Irrtum    wohl 


—     36     — 

daraus  entsprungen  ist,  weil  Thermomètres   und   du  vif 
argent  nicht  durch  ein  Komma  getrennt  sind. 

Es  fällt  also  auch  dieses  Argument  für  eine  frühe 
Verwendung  des  Quecksilbers  zu  thermometrischen 
Zwecken  dahin. 

Erst  mit  E.  Halley  beginnt  die  wissenschaftliche 
Untersuchung  des  Quecksilbers  in  Beziehung  auf  dessen 
Ausdehnung,  bezw.  Verwendung  als  thermometrische 
Substanz.1)  Seine  Absicht  war  die  Mittel  zu  suchen, 
durch  die  man  übereinstimmende  Thermometer  erstellen 
könne,  ohne  Vergleichung  mit  einem  Normalthermometer. 
Zu  diesem  Behufe  untersuchte  er  das  Verhalten  ver- 
schiedener Flüssigkeiten  bei  Erwärmung  und  Abkühlung, 
darunter  auch  das  Quecksilber.  Er  fand,  dass  dieses 
bis  zum  Siedepunkt  des  Wassers  (wahrscheinlich  vom 
Eispunkte  an  gerechnet)  sich  um  den  74.  Teil  ausdehne, 
dass  es  auf  gleicher  Höhe  bleibe,  so  lange  das  "Wasser 
im  Kochen  erhalten  wurde  und  dass  es  die  Temperatur 
der  Umgebung  rasch  annehme  und  verliere.  Diese  Eigen- 
schaft würde  das  Quecksilber  als  thermometrische  Flüssig- 
keit empfehlen,  wenn  nur  seine  Ausdehnung  beträcht- 
licher wäre.  Allen  barometrischen  Beobachtungen,  die 
nicht  mit  thermometrischen  zusammengehen,  sprach  er 
nur  einen  bedingten  Wert  zu,  weil  die  Quecksilbersäule 
bei  gleichem  Luftdruck,  aber  verschiedener  Temperatur, 
bald  grösser,  bald  kleiner  sein  müsse.  Halley  hat  also 
die  auch  von  frühern  Forschern  geahnte  oder  ange- 
nommene Konstanz  des  Siedepunktes  des  Wassers  er- 
kannt und  Quecksilber  bedingt  als  thermometrische  Sub- 
stanz empfohlen  ;  den  Gefrierpunkt  hielt  er  für  einen 
kaum  genau  zu  bestimmenden  (p.  656). 

Das  Quecksilber    hat    denn    auch    Anwendung    ge- 


')  Phil.  Transact.  Xo.   1!)7  p.  650— 656.     1688. 


—     37     — 

fanden  durch   Christian  Wolf1),  der    folgende    Beschrei- 
bung gibt  : 

Therm oscopima  aliud  construere. 

Resolittio.  1)  Assumatur  globus  vitreus  Mercurio 
plenus  colloque  longiore  instructus  et  aqiue  in  olla 
contentée  totus  immittatur.  2)  Mox  sub  olla  excitetur 
flamma,  cumque  aqua  ebullit,  tubus  prope  gradum,  ubi 
tum  hseret  Mercurius,  hermetice  sigilletur. 

Demonstratio.  Mercurius  enim  refrigeratus  denuo 
descendit  in  globum,  adeoque  tubus   vacuus  relinquitur. 

Iam  si  calor  externi  seris  globum  ambientis  auge- 
tur,  Mercurius  rarefit  et  in  Collum  ascendit  et  caloris 
incrementum  indicat.     Est  ergo  thermoscopium. 

Scholion  I.  Thermoscopium  hoc  vel  hieme  replen- 
dum  est,  vel  aliquid  Mercurii  in  tubo  relinquendum,  an- 
tequam  immittatur,  ne  ullus  occurrat  frigoris  gradus 
non  notandus. 

Scholion  III.  Ceterum  hoc  thermoscopium  iisdem 
defectibus  laborat,  quibus  Florentinum,  minus  tarnen 
sensibiliter  mutationes  caloris  in  aëre  indicat.  Usus  ejus 
ex  subsequentibus  mox  elucesset. 

Diesem  Versuche  möchte  ich  doch  keine  zu  grosse 
Bedeutung  beimessen;  denn  es  scheint  dass  das  Wolf  sehe 
Thermometer  nicht  wesentlich  besser  beschaffen  ge- 
wesen sei,  als  das,  mit  welchem  Boullian  während  einiger 
Wochen  Beobachtungen  angestellt  hat;  denn  da  Wolf 
sagt  „minus  tarnen  sensibiliter  mutationes  caloris  in 
aëre  indicat",  so  hat  er  offenbar  nicht  ein  Thermometer 
gemacht,  bei  dem  das  Verhältnis  der  Röhre  zur  Kugel 
ein  passendes  war;  er  hätte  sonst  beobachten  müssen, 
dass  ein  Quecksilberthermometer  eher  empfindlicher  ist, 
als  ein  Weingeistthermometer.  Dass  Wolf  übrigens  das 
Quecksilberthermometer    nicht    zu     allgemeinerer    Ver- 

i)  Aërometriœ  Elera.  Lips.  1709.  Prop.  LXXIV  Probl.  XXXVI. 


—     38     — 

wendung  gebracht  hat,  geht  daraus  hervor,  dass  er  schon 
in  der  Ausgabe  seiner  "Werke  vom  Jahre  1713,  in  der 
Aërometrie,  die  einen  Abschnitt  der  Elementa  Mathe- 
seos universse  bildet,  und  in  ihrem  Caput  VII  die 
Wärmemessung  behandelt,  von  dem  Quecksilber  nicht 
mehr  spricht.  Dem  Florentinerthermometer  spricht  er 
den  Charakter  eines  Messinstrumentes  ab  „quonian'i 
ratio  caloris  hodierni  ad  hesternum  non  indicatur,  in- 
strumentum  calorem  non  metitur,  adeoque  Thermome- 
trum  non  est."1) 

Hiemit  begegnen  wir  nun  zeitlich  demjenigen  Phy- 
siker, der  sich  um  .die  Herstellung  und  Verbreitung 
guter,  vergleichbarer,  eine  deutliche  Sprache  sprechender 
Instrumente  die  grössten  Verdienste  erworben  hat: 
Daniel  Gabriel  Fahrenheit,  der  ohne  allen  Zweifel  dem 
Quecksilber  in  der  Thermometrie  eine  Bedeutung  ver- 
schafft hat,  die  ihr  keine  spätere  Zeit  weder  geraubt 
hat,  noch  rauben  wird.  Von  den  verschiedenen  Skalen 
werden  wir  in  einem  folgenden  Abschnitte  zu  reden 
haben.  Hier  mögen  nur  diejenigen  Notizen  angeführt 
werden,  die  uns  über  die  Verwendung  des  Quecksilbers 
Aufschluss  erteilen. 

Die  relative  Festigkeit  des  Wassersiedepunktes  war 
durch  E.  Halley  festgestellt;  mit  einer  Art  von  Luft- 
thermometer wurde  diese  von  Amontom  ebenfalls  ge- 
funden,2) zugleich  mit  andern  für  die  Physik  der  Luft 
wichtigen  Thatsachen.  An  Amontom  schliesst  nun 
Fahrenheit  an  in  einer  Mitteilung,  die  er  im  Jahre 
1724  in  den  Philosophical  Transactions  No.  381  I  ver- 
öffentlicht hat.     Sie  hat  folgenden  Wortlaut:  3) 


!)  Tom  I.  pag.  773. 

2)  Mém.  d.  l'Acad.  IHM!)  j>.  112;  1702  p.  167;  1703  p.  50. 

3)  Phil.  Trans.  1724.     No.  381.  I. 


—     39     — 

Expérimenta  circa  graduai  caloris  liquorum  non 
nullorum  ebullientium  instituta  A.  Daniele  Gabr.  Fahren- 
heit R.  S.  S. 

Cum  elapsis  abhinc  circiter  decem  annis  in  Histo- 
ria  Societatis  Regiœ  Parisiensis  legissem,  quod  celeberri- 
mus  Amontonius,  ope  alicujus  thermometri  ab  eo  in- 
venti,  detexisset,  a  quam  fixo  caloris  gracia  ebullire: 
statim  magno  accendebar  desiderio,  tbermometrum  ejus- 
modi  mihimet  ipsi  prœparare,  ut  pulcbrum  hocce  naturse 
phsenonienon  mihi  oculis  perlustrare  beeret,  et  de  veri- 
tate  experimenti  convictus  essem. 

Quapropter  thermometri  structuram  quidem  ten- 
tabam,  sed  ob  habitudinis  sufhcientis  in  elaboratione 
illius  defectum,  vana  erant  conamina,  licet  saepius  iterata; 
et  quoniam  etiam  alia  negotia  prohibebant  thermometri 
elaborationi  magis  insistere,  oportuniori  repetitionem 
illius  dedicabam  tempori.  Cum  defectu  virium  atque 
temporis  ardor  non  languescebat,  œque  avidus  enim 
experimenti  exitum  videndi  manebam.  In  mentem  autem 
mihi  veniebant  ea,  qua;  solertissimus  ille  rerum  natu- 
ralium  scrutator  de  rectificatione  barometrorum  scri]> 
serat;  observaverat  enim  altitudinem  columnse  mercuri- 
alis  in  barometro  a  vario  temperamento  mercurii  ali- 
quantulum  (satis  sensibiliter  tarnen)  turbari.  Ex  his 
rebar,  quod  tbermometrum  fortasse  e  mercurio  construi 
possit,  cujus  structura  non  adeo  difficilis  foret,  et  cujus 
tarnen  ope  experimentum  maxime  a  me  desideratum  ex- 
plorare  liceret. 

Prœparato  ejusmodi  thermometro  (licet  in  multis 
adliuc  imperfecto)  voto  tarnen  meo  eventus  respondebat  ; 
magna  enim  animi  voluptate  rei  veritatem  contem- 
plabar. 

Très  jam  erant  anni  elapsi,  in  quibus  opticis  aliis- 
que  incubuissem  laboribus,  cum    cupidus  fierem   experi- 


40 


mentis  explorare,  an  etiam  alii  liquores  fixo  ebullituri 
essent  gradu  caloris.  Exitus  experimentorum  sequenti 
continetur  tabula,  cujus  prima  columna  exhibet  liquores 
adhibitos;  secunda  illorum  gravitatem  spécificam;  tertia 
gradum  caloris,  ad  quem  unusquisque  liquor  ebulliendo 
pertigit. 

Gravitas  speciüca  liquorum    Gradus  ebullitione 
ad  48  yr.  calidorum  acquisiti 

Spiritus  vel  Alcobol  vini     .     .       8260  1 76 

Aqua  plu  via 10000  212 

Spiritus  nitri 12935  242 

Lixivium  cineris  clavellati  .     .     15634  240 

Oleum  Vitrioli       18775  546 

Gravitatem  specineam  cujuscunque  liquoris  adden- 
dum  necesse  judicavi,  ut  si  aliorum  expérimenta  jam  in- 
stituta,  vel  adhuc  instituenda,  a  memoratis  differrent, 
colligi  possit,  an  e  variatione  gravitatis  specifica,  vel  ex 
aliis  differentia  petenda  sit  causis.  Expérimenta  prae- 
terea  non  eodem  tempore  sunt  facta,  et  inde  etiam 
liquores  vario  teinperamenti  vel  caloris  gradu  erant 
affecti,  sed  quoniam  illorum  gravitas  diversimode  et 
inaequaliter  turbatur,  calculo  illorum  gravitatem  ad  48 
gradum  (qui  in  tbermometris  meis  medium  tenet  locum 
inter  terminum  intensissimi  irigoris,  arte  commixtione 
aqua-,  glaciei,  salisque  Armoniaci,  vel  etiam  maritimi, 
confecti,  et  inter  terminum  caloris  qui  in  sanguine  ho- 
minis sani  reperitur)  revocavi. 

Aus  der  Darstellung  Fahrenheits  kann  nicht  mit 
Bestimmtheit  ein  Jahr  ermittelt  werden,  in  dem  er  zu- 
erst Quecksilber  als  thermometrische  Substanz  ange- 
wendet hat;  es  herrscht  auch  bei  den  verschiedenen 
Autoren  hierin  keine  Übereinstimmung-,  so  verlegt  Mus- 
selten  broeekr)  dies  in   das    Jahr    1709,    was    unmöglich 

l)  Musschenbroek.  Introd.  ad  pb.il.  nat  IL  §  1568. 


—     41     — 

ist,  während  andere  in  das  Jahr  1714  und  wieder  andere 
in  das  Jahr  1721.  Diese  Angaben  erscheinen  un- 
richtig. 

Vor  1714  kann  es  nicht  geschehen  sein,  da  er  im 
Jahre  1724  berichtet,  es  sei  ihm  vor  10  Jahren  be- 
kannt geworden,  dass  das  Wasser  bei  einer  bestimmten 
Temperatur  siede  und  dass  er  sich  gerne  von  dieser 
Thatsache  selbst  überzeugt  hätte,  dass  ihm  aber  seine 
Versuche  misslungen  seien,  ohne  Zweifel,  weil  er  nur 
Weingeistthermometer  hiezu  benützte.  Später  sei  ihm 
der  Gedanke  gekommen,  wenn  nach  Amontons  die  Höhe 
der  Quecksilbersäule  im  Barometer  einigermassen  von 
der  Temperatur  abhänge,  so  müsste  auch  aus  Queck- 
silber ein  Thermometer  konstruiert  werden  können. 
Mit  einem  noch  unvollkommenen  Instrument  dieser  Art 
hat  er  sich  von  der  Richtigkeit  der  Thatsache  (der 
Konstanz  des  Siedepunktes)  überzeugt.  Nach  weitern 
drei  Jahren  beobachtete  er  die  Beständigkeit  der  Siede- 
punkte anderer  Flüssigkeiten.  Wir  werden  daher  nicht 
weit  fehlen,  wenn  wir  die  Entstehung  der  guten  und 
vollkommenen  Quecksilberthermometer  in  die  Zeit  um 
1718  verlegen. 

Im  Jahre  1714  übergab  Fahrenheit  an  Christian 
Wolf1)  in  Halle  zwei  Thermometer,  gefüllt  mit  blau 
gefärbtem  Weingeist.  Die  Röhre  war  in  26  gleiche 
Teile  geteilt,  von  denen  jede  wieder  4  Unterabteilungen 
hatte.  Von  dieser  Einteilung,  über  die  in  den  Act. 
Erudit.  a°  1714  p.  380.  381  berichtet  wird,  soll  später 
noch  gesprochen  werden. 

Die  Fahrenheit'schen  Thermometer,  sowohl  die  mit 
Weingeist  als  die  mit  Quecksilber  gefüllten,  die  noch 
dadurch  vervollkommnet  wurden,  dass  Fahrenheit  die 
Abhängigkeit  des  Siedepunktes  vom  Luftdruck  entdeckte, 

!)  Act.  Erud.  Lips.  1714.  p.  38ü  ;  V.  Swinden  p.  42. 


—      42     — 

wurden  allgemein  bewundert  und  allen  andern  Fabrikaten 
vorgezogen. 

So  berichtet  Désaguliers *)  :  Ces  dernières  années 
on  fait  usage  du  vif  argent  dans  les  thermomètres  et 
l'on  a  trouvé  qu'ils  étaient  plus  utiles  que  tous  les 
autres  ....  On  doit  regarder  Farenheit  d'Amsterdam 
comme  l'inventeur  de  ce  thermomètre  et  quoique  Prins 
et  quelques  autres  en  Angleterre,  en  Hollande,  en  France 
et  en  d'autres  pays  ayent  fait  de  pareils  instruments, 
comme  Farenheit,  nous  les  appellerons  toujours  Ther- 
momètres de  Farenheit,  voyant  que  le  Docteur  Boer- 
haave  ne  s'est  servi  que  de  ce  thermomètre,  et  que  la 
plupart  des  thermomètres  à  vif  argent  ont  été  gradués 
sur  cette  échelle. 

Musschenbroek  aber  schreibt  an  dem  angeführten  Orte: 

Cognitis  bis  vitiis,  mercurius  meliori  ratione  quam 
vini  Spiritus  in  usum  vocatur,  de  quo  substituendo  pri- 
mus  auctor  fuit  Halteyus  Anno  1680,  verum  Fahren- 
heytius  anno  1709  mercurialia  thermometra  fabrefacere 
et  divulgare  coepit  :  et  deinde  poliendo  ulterius  per- 
fecit.  Mercurius  punis,  quantum  hue  usque  a  memo- 
rato  tempore  observare  lieuit,  aeque  dilatabilis,  immu- 
tatus  et  liquoris  seterni  in  Belgio,  Gallia,  Anglia,  licet 
forte  non  in  Russia  perstitit,  quod  praeeipuum  est. 
Accedit,  quod  mercurius  in  pari  volumine  longe  cele- 
rius  ab  eodem  calore  afticiatur,  quam  spiritus  vini 
rectiticatus,  aut  Alcohol,  aut  quodeunque  aliud  cognitum 
fluidum  (aère  excepto).  Mercurius  etiam  omnium  ci- 
tissime refrigeratur. 

Und  an  einer  andren  Stelle:2)  Sunt  hsec  Thermos- 
copia    omnium    hue    usque    cognitorum    prœstantissimi, 

*)  Désaguliers.  Cours  d.  phys.  exp.  Trad.  p.  Pezenas  S.  I. 
Vol.  II.  Leç.  X.  34.  p.  328. 

2)  Teut.  Ac.  Cim,  Addit.  p.  13  (1731). 


—     43     — 

quse  sequabilissime  moventur,  satis  sensibilia  sunt,  atque 
longe  pluribus  inserviunt  experimentis,  quam  qme  spiri- 
tuin  vini,  serem  aliudve  fluicluni  continent,  aut  etiam 
magis  composita  sunt,  veluti  est  Amontonsianum. 

Boerhaave  führt  das  Fahrenheit'sche  Instrument 
mit  folgenden  Worten  ein  : x) 

Thermometrum  hoc  elegantissimum  quod  ex  votis 
meis  perfecit  ingeniosissimus  in  mechanicis  artifex 
Daniel  Gabriel  Fahrenheit. 

Weiterhin  : 

Vos  adite  fontem,  lseti  discite  et  grati,  quœ  super 
hac  re  ipse  (Amontonius)  commentatus  est  in  monu- 
mentis  Regia?  Scientiarum.  Inde  enim  discetis,  Egre- 
gium  hune  virum  re  demonstrasse,  quod  Aqua  Igné 
calefaeta  eo  usque,  ut  vere  ebulliat,  dein  auctiori  Igné 
apposito  quoeunque  nunquam  adigi  posse,  ut  plus  ca- 
lescat.  Attamen  .hoc  nobile  Inventum  notabili  sane  ob- 
servatione  amplificandum  est,  quam  subtiliter  invenit 
industrius  Fahrenheitius.  llle  enim  detexit,  quod  calor 
aquae  ejusdem  ebullieniis  semper  major  sit  constanti 
lege,  quando  ebullieniis  aquae  superficies  premitur  gra- 
viori  pondère  Almosphaerae;  rursumque  idem  calor 
diminuatur  ebullimti  aquae,  qaoties  pondus  atmos- 
phaerae  imminuitur.  Igitur  in  gradu  caloris  aqiue  fer- 
ventis  designando  apprime  necessarium  est,  ut  adnote- 
tur  simul  pondus  aëris  eo  tempore  in  Barometro  quum 
aliter  nihil  certi  scribatur  etc. 

Endlich  :  utamini  tum,  commendo,  Ulis  pulcherrimis 
Thermometris  Fahrenheitianis,  quae  de  Mercurio  conlîcit. 

Als  Nachteil  des  Weingeistes  pflegte  angeführt  zu 
werden,  dass  in  den  von  Maupertuis 2)  bei  der  arktischen 
Gradmessung    verwendeten    Weineeistthermometern    im 


!)  Boerkaave  El.  Chem.  I  2.  p.   170. 

-)  Maupertuis:  La  Figure  de  la  Terre.  Paris  173S-  p.  58. 


44     — 

Januar  1737  die  Flüssigkeit  gefroren  sei,  als  die  Queck- 
silberthermometer  nach  Réaumur  auf  37°  unter  0°  ge- 
sunken waren;  die  Skala  entsprach  nicht  derjenigen,  die 
wir  heute,  wenn  auch  mit  Unrecht,  nach  Réaumur  be- 
nennen. Die  Entdeckung,  dass  das  Quecksilber  bei 
tiefer  Temperatur  auch  erstarre,  verdankt  man  dem 
Petersburger  Akademiker  J.  A.  Braun  l),  der  in  einem 
Kältegemisch  am  14.  Dezember  1759  das  Quecksilber 
zum  Gefrieren  gebracht  hat.  An  diesem  Tage  fiel  eine 
Kälte  ein.  wie  sie  mit  Sicherheit  nie  in  Petersburg  be- 
obachtet worden  war;  denn  zwischen  9  —  10  Uhr  vor- 
mittags zeigte  das  Thermometer  (De  f  hie)  205  Grade; 
dies  entspricht  —  35,5°  C.  Die  Temperaturen  des 
Kältegemisches  sind  in  Zahlen  ausgedrückt,  die  der 
Wirklichkeit  nicht  entsprechen  können  (nämlich  bis  470° 
De  l'Isle.  was  =  —  213°  C.)  Dass  vorher  schon  ver- 
mutet wurde,  in  Sibirien  seien  auch  Barometer  und 
Thermometer  gefroren,  erzählt  Braun  selbst. 

Aus  der  vorausgehenden  Darstellung  geht  hervor, 
dass  schon  in  der  Jugendzeit  der  geschlossenen  Ther- 
mometer Versuche  mit  Quecksilber  gemacht,  dass  diese 
aber  wegen  des  geringen  Ausdehnungskoeffizienten  oder 
der  damit  verbundenen  Unemplindlichkeit  bald  aufgegeben 
worden  sind.  Erst  Fahrenheit,  der  geübte  Glastechniker, 
und  der  genaue  Beobachter  physikalischer  Vorgänge, 
brachte  es  dahin,  die  Qualitäten  des  Quecksilbers  zu 
thermometrischen  Zwecken  zu  verwenden  und  damit  das 
Instrument  zu  schaffen,  dessen  wir  uns  heute  bedienen. 
Die  Herstellung  der  Skala  wird  Gegenstand  des  fol- 
genden Abschnittes  sein. 

9)  Fahrenheits  Skalen. 

Unter  den  heute  im  allgemeinen  Gebrauch  stehen- 
den Thermoineterskalen  nimmt  die    von    Fahrenheit    in 


]j  Nov.  com  Petrop.  Vol.  XI.  p.  273. 


—     45 

sofern  eine  abweichende  Stellung  ein;  als  der  Ausgangs- 
punkt der  Skala  nicht  der  Schmelzpunkt  des  Eises  ist, 
sondern  namhaft  unter  ihm  sich  befindet  und  zwar  so, 
dass  er  um  32  von  den  Graden  unter  dem  Schmelzpunkt 
liegt,  die  man  erhält,  wenn  man  den  Fundamentalabstand 
zwischen  Schmelzpunkt  und  Siedepunkt  bei  760  Milli- 
meter Luftdruck  in  180  gleiche  Teile  teilt.  Dass  Fahren- 
heit selbst  seine  Skala  anders  abgeleitet  hat,  werden 
wir  im  folgenden  mitzuteilen  haben.  Für  alle  diejenigen, 
die  gewohnt  sind,  sich  der  80  oder  lOOteiligen  Skala 
zu  bedienen,  hat  die  Fahrenheit' sehe  Skala  etwas  be- 
fremdendes, fast  sonderbares.  Wie  ist  Fahrenheit  zu 
dieser  Skale  gekommen? 

Die  seltsamste  Antwort  auf  diese  Frage  hat  in 
neuerer  Zeit  ein  Engländer  Samuel  Wilks  gegeben,  der 
in  British  Médical  Journal  1900,  20.  October,  No.  2077 
pag.  1212  folgendes  schreibt: 

My  best  endeavours  made  for  man  y  years  have  altoge- 
ther  failed  in  obtaining  an  authentic  aecount  or  reason  as 
to  the  principle  on  which  Fahrenheit  construeted  bis 
well-known  scale,  which  is  now  universally  used  in  Eng- 
land. No  mention  of  its  meaning  is  to  be  found  in  any 
work  on  natural  philosophy  or  chemistry  with  which 
I  am  acquainted,  and  I  have  not  yet  met  with  a  pro- 
fessor  (and  I  have  interrogated  some  of  the  most  distin- 
guished)  who  could  give  nie  any  information  about  it. 
Most  of  them  admitted  that  they  were  quite  ignorant 
of  its  origin,  an  two  surmised  that  the  number  180, 
marking  the  degree  between  freezing  and  boiling  had 
something  to  do  with  the  half  circle.  My  friend.  Mr. 
Stromeyer,  an  engineer,  told  me  some  time  ago  that  he 
believed  the  scale  was  made  from  the  température  of  the 
blood,  an  probably  this  information  was  gained  from  the 
Encyclopaedia  Britanica,  to  which  I  shall  presently  refer. 


—     46     — 

Sir  Isaak  Newtons  Scale.  I  should  bave  taken  no 
further  trouble  in  the  matter  had  uot  my  interest  in  it 
been  again  revived  by  reading  a  paper  in  the  Philoso- 
phical  Transactions  for  the  year  1701,  in  which  it  is 
proposed  to  make  a  thermometer  founded  on  the  tem- 
pérature of  the  human  body.  The  paper  is  anonymous, 
but  I  believe  it  is  the  opinion  of  Lord  Kelvin  that  it 
was  written  by  no  less  a  man  than  Sir  Isaak  Newton. 

The  paper  in  the  Philosophical  Transactions  sup- 
posed  to  be  written  by  Newton  is  to  be  found  in  Vol. 
XXII  pag.  824.     April  1701. 

Hier  folgt  nun  die  Beschreibung  des  Newton'schen 
Leinölthermometers  und  dessen  Skale,  die  auf  zwei  festen 
Punkten  beruht,  nämlich  der  Temperatur  des  schmel- 
zenden Schnees  0°  und  der  Blutwärme  des  Menschen 
12°;  durch  Auftragen  weiterer  Skalenteile  gelangt  man 
bei  34°  zum  Siedepunkt  des  Wassers.  Von  einer  Be- 
rücksichtigung des  Luftdrucks  ist  nicht  die  Rede.  Näheres 
über  diese  Skale  folgt  weiter  unten. 

Nun  fährt  Samuel  Wilks  fort: 

A  few  years  after  the  publication  ot  this  paper 
Fahrenheit  made  bis  thermometer,  and  followed  Newton 
by  making  the  température  of  the  body  bis  first  resting 
place,  counting  upwards  and  downwards  from  this  fixed 
point.  Whether  he  knew  of  Newton's  essay  I  am  not 
aware,  but  in  all  probability  he  did.  He  found  he  could 
get  a  greater  cold  than  that  of  freezing  water  by  mixing 
together  ice  and  sait.  This  point,  he  made  bis  zéro. 
He  thought  also  that  it  would  be  better  if  he  enlarged 
the  scale  by  doubling  the  numbers,  and  making  that  of 
the  body  24  instead  of  12,  starting  of  course  from  bis 
own  zéro.  This  made  the  freezing  point  8  and  the 
boiling  point  53,  which,  as  his  predecessor  has  said,  was 
about  three   times   that  of  the  human  body.     His  scale 


—     47     — 

then  stood  thus:  Zéro  that  of  ice  and  sait  mixed,  8°  for 
freezing,  24°  for  human  body,  and  53°  for  boiling.  He 
then  further  extendet  the  scale  by  dividing  each  degree 
into  four  parts,  so  if  it  is  multiplied  by  four  we  bave 
the  scale  now  in  use,  32°  for  freezing,  96°  for  the  body, 
and  212°  for  boiling.  In  this  way  the  thermometer 
seems  to  hâve  been  evolved.  Subsequently  thèse  degrees 
were  still  found  to  be  too  large  for  accurate  measure- 
ment,  and  so  were  divided  into  ten  parts  each.  This 
is  a  modem  innovation,  for  the  décimal  System  did  not 
come  into  vogue  for  many  years  after  Fahrenheits  time. 

This  information  is  gained  from  Encyclopaedia 
Britanica,  and  I  apprehend  that  the  writer  of  the  ar- 
ticle must  bave  obtained  it  from  authentic  sources  —  from 
the  writings  of  Fahrenheit  himself  or  from  some  of  its 
contemporaines.  This  thermometer,  ivhich  I  always  re- 
gardée as  an  abomination,  is  now  looked  upon  by  me 
with  a  great  and  two-fold  interest. 

Im  Anschluss  führt  er  noch  eine  andere  Erklärung 
an,  die  er  aber  verwirft.     Er  bemerkt  weiter: 

I  cannot  but  hope  that  it  is  correct,  for  I  must 
admit  that  to  a  certain  extent  „my  wish  is  father  to  the 
thought."  For  the  future,  whenever  I  see  a  thermometer 
in  use  to  mark  the  température  of  the  body,  I  shal  be 
reminded,  that  it  was  first  used  for  this  purpose  in  order 
to  mark  the  starting  point  of  the  scale  from  which  all 
other  températures  were  to  be  reckoned.  At  the  same 
time  there  will  be  the  pleasing  remembrance  that  it  was 
our  great  Newton  who,  in  all  probability,  suggested  the 
température  of  the  body  as  the  starting  or  determinate 
point  in  the  thermometer,  and  marking  it  by  the  round 
number  12. 

WUWs  Kombination  lässt  sich  in  folgender  Weise 
zusammenfassen  : 


—     48     — 

Weil  der  eine  Punkt  der  Fahren  he  W 'sehen  Skale 
derselbe  ist,  den  Neuion  auch  angewendet  hat,  nämlich 
die  Blutwärme  eines  gesunden  Menschen,  weil  ferner 
Neaion  diesen  Punkt  vom  Gefrierpunkt  an  gerechnet 
mit  12  bezeichnet,  Fahrenheit  aber  von  einem 
viel  tiefern  Punkte  ausgehend  diesen  Punkt  mit  24  be- 
zeichnet, so  ist  offenbar  Fahrenheit  von  Newton  abhängig 
und  die  sonst  abscheuliche  Skale  der  in  England  und 
Amerika  gebräuchlichen  Thermometer  wird  zu  einem 
Gegenstände  der  Bewunderung. 

Eine  kühle,  nicht  national  gefärbte  Betrachtung  des 
Bestandes  der  Dinge  führt  zu  anderm  Schlüsse. 

Nrwion  erwähnt  zum  ersten  Male  Temperaturen 
ganz  allgemein  in  seinem  grossen  Werke,  den  Prinzipien, 
und  zwar  in  der  Ausgabe  von  1687  p.  498.  499. 

Ideoque  cum  distantia  Cometee  a  sole  Dec.  8.  ubi 
in  Perihelio  versabatur,  esset  ad  distantiam  Terrœ  a 
Sole  ut  6  ad  1000  circiter,  calor  Solis  apud  Cometam 
eo  tempore  erat  ad  calorem  Solis  œstivi  apud  nos  ut 
1000000  ad  36  seu  28000  ad  1.  Sed  calor  aquœ  ebul- 
lientis  est  quasi  triplo  major  quam  calor  quem  terra 
arrida  coneipit  ad  œstivum  Solem;  ut  expertus  sam: 
et  calor  ferri  candentis  (si  recte  conjeetor)  quasi  triplo 
vel  quadruplo  major  quam  calor  aqiue  ebullientis;  adeo- 
que  calor  quem  terra  arida  apud  Cometam  in  perihelio 
versantem  ex  radiis  Solaribus  coneipere  posset,  quasi 
2000  viribus  major  quam  calor  ferri  candentis.  Tanto 
autem  calore  vapores  et  exhalationes,  omnisque  materia 
volatilis  statim  consumi  ac  dissipari  debuissent. 

Wenn  Newton  sagt:  ut  expertus  sum,  so  müssen 
diese  Angaben  auf  bestimmten  Beobachtungen  beruhen  ; 
der  Ausgangspunkt  kann  kein  anderer  sein,  als  der  Ge- 
frierpunkt oder  der  Schmelzpunkt  und  die  Beobachtungen 
können  nicht  mit  einem  Weingeistthermometer  angestellt 


—     49     — 

sein,  sondern  es  bedurfte  dazu  wahrscheinlich  schon  des 
Leinölthermometers  und  des  glühenden  Eisens,  von  denen 
er  in  dem  berühmten  anonymen  Aufsatze  in  den  Philo- 
sophical  Transactions  1701.  270  spricht.  Als  fest  sieht 
Newton  nach  obiger  Notiz  an  den  Gefrierpunkt,  die 
höchste  Sommerwärme  und  den  Siedepunkt  des  Wassers. 
Letzteres  mit  einer  gewissen  Einschränkung.  Die  Festig- 
keit dieser  drei  Punkte  hat  aber  nicht  Neilion  zuerst 
oder  allein  erkannt,  vielmehr  wissen  wir,  dass  diese 
Kenntnis  bis  in  die  Zeit  der  Akademiker  del  Cimento 
und  Hiiygens  zurückreicht  und  also  nicht  ein  besonderes 
Verdienst  Newtons  involviert.  Und  was  die  Blutwärme 
des  gesunden  Menschen  anbelangt,  so  wurde  diese  später 
von  Newton  an  die  Stelle  der  höchsten  Sommerwärme  ge- 
setzt, wie  denn  auch  der  frühere  Akademiker  A.  Borelli 
die  Übereinstimmung  dieser  beiden  Temperaturen  bei 
einem  grössern  Säugetier  durch  direkten  Versuch  er- 
mittelt hat.     Er  teilt  mit1): 

Ut  exacte  gradum  caloris  cordis  agnoscerem,  Pisis 
vivi  cervi  pectus  aperiri  curavi,  et  subito  jussi  thermo- 
metrum  per  cicatricem  intra  cordis  sinistrum  ventricu- 
lum  insinuari:  et  vidi  maximum  gradum  caliditatis  non 
excessisse  gradus  40.  quantus  esse  solet  apud  nos  gradus 
caliditatis  solis  œstivi.  Et  postquam  similibus  thermo- 
metris  mensuravi  gradum  caloris  jecoris,  pulmonum  et 
intestinarum  in  eodem  cervo  vivo,  patuit  eodem  gradu 
caloris  foveri  cor,  ac  viscera  reliqua. 

Newton  hat  keinen  neuen  festen  Punkt  aufgefunden, 
der  zur  Einteilung  der  Thermometerskale  geeignet  ge- 
wesen wäre,  aber  eine  Flüssigkeit  angewendet,  die  zu 
der  von  ihm  beabsichtigten  Untersuchung  recht  dienlich, 
zu  allgemeinerem  Gebrauche  nie  gekommen  ist  und  hat 

])  Borelli.  De  motu  animalium.  1685.  II.  Cap.  VIII  prop.  XCVI 
pg.  187.  138. 

4 


50     — 

durch  eine  höchst  sinnreiche  Verknüpfung  mit  einem  sich 
abkühlenden  Körper  Temperaturen  bestimmen  können, 
die  vor  ihm  unnahbar  waren. 

Und  dass  der  Engländer  zur  Einteilung  eines  ge- 
wissen Abstandes  sich  der  Zahl  12  bediente,  ist  selbst- 
verständlich. 

Es  ist  niemals  bezweifelt  worden,  dass  der  anonyme 
Aufsatz  in  den  Philo sophical  Transactions l)  von  Newton 
stamme.  In  den  vergleichenden  Übersichten  der  Thermo- 
meter des  18.  Jahrhunderts  erscheint  das  Leinölinstru- 
ment nie  anders  als  mit  den  Namen  Newtons  und  in 
die  Sammlung  Newton'scher  kleiner  Schriften  von  Joh. 
Gastilioneus  1744.  op.  XXI.  p.  422  ist  die  anonyme 
Arbeit  aufgenommen.  Die  Autorität  von  Lord  Kelcin 
trägt  zu  dieser  Kunde  nichts  bei. 

Aus  diesem  Aufsatz  erfahren  wir,  dass  Newton  den 
Siedepunkt  des  Wassers  nicht  als  einen  ganz  festen  an- 
gesehen hat;  denn  in  der  Scala  graduum  caloris  führt 
er  bei  34°  an: 

Calor  cpio  aqua  vehementer  ebullit  et  mistura  dua- 
rum  partium  plumbi,  trium  partium  stanni  et  quinque 
partium  bismuti  defervendo  rigescit.  Incipit  aqua  ebul- 
lire  calore  partium  33  et  calorem  partium  3472  ebul- 
liendo  vix  concipit.  Ferrum  vero  defervescens  calore 
partium  35  vel  36  ubi  aqua  calida  &  37,  ubi  frigida  in 
ipsum  guttatim  incidit,  desinit  ebullitionem  excitare. 

Und  weiterhin  : 

Primum  igitur  per  Thermometrum  ex  oleo  lini  con- 
structum  inveni,  quod  si  oleum  ubi  Thermometer  in  nive 
liquescente  locabatur  occupabat  spatium  partium  10000, 
idem  oleum  calore  primi  gradus  seu  corporis  humani  rare- 
factum  occupabat  spatium  10256  et  calore  aquse  jamjam 
ebullire  incipientis  spatium  10705  et  calore  aqiue  vehe- 

*J  Phil.  Trans.  1701.  Nr.  270. 


—     51     — 

monter  ebullientis  spatium  10725,  et  calore  stanni  liqué- 
facti  defervientis  ubi  incipit  rigescere  et  consïstentiam 
amalgamatis  induere  spatium  11516  et  ubi  omnino  ri- 
gescit  spatium  11496.  Igitur  oleum  rarefactum  fuit  ad 
dilatatum  in  ratione  40  ad  39  per  calorem  corporis  hu- 
mani,  in  ratione  15  ad  14  per  calorem  stanni  de- 
fervientis ubi  incipit  coagulari  et  rigescere,  et  in  ratione 
23  ad  20  per  calorem  quo  stannum  deferviens  omnino 
rigescit.  Rarefactio  seris  œquali  calore  fuit  decuplo  major 
quam  rarefactio  olei,  et  rarefactio  olei  quasi  quindecim 
vicibus  major  quam  rarefactio  Spiritus  vini.  Et  ex  Lis 
inventis  ponendo  calores  olei  ipsius  rarefactioni  propor- 
tionales et  pro  calore  corporis  humani  scribendo  partes 
12  prodiit  calor  aqiue  ubi  incipit  ebullire  partium  33  et 
ubi  vehementius  ebullit  partium  34;  et  calor  stanni  ubi 
vel  liquescit  vel  deferviendo  incipit  rigescere  et  consi- 
stentiam  amalgamatis  induere  prodiit  partium  72,  et  ubi 
defervendo  rigescit  et  induratur  partium  70. 

So  lange  der  Siedepunkt  des  Wassers  durch  Ein- 
tauchen des  Thermometers  in  die  kochende  Flüssigkeit 
und  ohne  Berücksichtigung  des  Luftdruckes  bestimmt 
wurde,  konnte  wohl  eine  gewisse  Unsicherheit  konsta- 
tiert werden;  daher  spricht  diese  eher  für  Genauigkeit 
der  Beobachtung  als  für  das  Gegenteil;  doch  hätte  auch 
die  Körperwärme  in  gleicher  Weise  ein  unsicheres  Re- 
sultat ausweisen  sollen,  da  auch  sie  zwischen  gewissen 
Grenzen  schwankt. 

Um  zu  untersuchen,  ob  und  in  wie  weit  Fahrenheits 
Skale  von  der  Skale  Newtons  abhängig  sei,  müssen  wir 
die  erstere  möglichst  weit  zurückverfolgen. 

Der  am  24.  Mai  1686  in  Danzig  geborene  Daniel 
Gabriel  Fahrenheit  war  genötigt  nach  dem  1701  erfolgten 
Tode  seines  Vaters  in  Amsterdam  von  1702  an  die 
Handlung  zu  erlernen;    dort  hat  er  nach   dem  Berichte 


—     52     — 

eines  Zeitgenossen  die  vier  stipulierten  Jahre  „ausge- 
standen." Sein  Trieb  zu  den  Studien  war  mächtiger  als 
der  äussere  Zwang.  „Zu  dem  Ende  that  er  viele  be- 
schwerliche Reisen  zu  Wasser  und  zu  Lande,  konferierte 
mit  den  berühmtesten  Mathematikern  in  Dänemark  und 
Schweden,  verschickte  seine  Instrumente  nach  Ysland, 
Capland  und  nach  anderen  Orten,  von  wannen  ihm  die 
von  curieusen  Leuten  gemachten  Observationes  nach 
Amsterdam  überschickt  wurden;  wie  denn  notorisch,  dass 
er  bereits  anno  1709  in  dem  harten  Winter  sehr  merk- 
würdige Remarques  vermittelst  seiner  Wettergläser  ge- 
macht hat." 

Welcher  Art  sind  nun  diese  Thermometer  ge- 
wesen? 

Von  den  Instrumenten,  die  in  die  früheste  Arbeits- 
zeit des  jungen  Fahrenheit  zurückführen,  wird  behauptet, 
dass  sie  mit  den  spätem  in  befriedigender  Übereinstim- 
mung gewesen  seien.     Die  Skale  aber,  mit  der  sie  ver- 
sehen  waren,    hatte,    entsprechend    der   Skale    der   ver- 
käuflichen Florentinerthermometer,  in  der  Mitte  ein  0°, 
Tempéré,  und  zählte  sowohl  nach  der  grössten  Sonnen- 
hitze, als  nach  der  tiefsten   Winterkälte  je  90°,  also: 
-  90°  tiefste  Winterkälte, 
0°  Tempéré, 
-j-  90°  grösste  Sonnenhitze. 
(Siehe  pag.  31.) 

Während  aber  die  Florentinerthermometer  eine  un- 
sichere, nicht  von  Instrument  zu  Instrument  überein- 
stimmende Einteilung  hatten,  wird  gerade  diese  Eigen- 
schaft den  Fahrenheit1 'sehen  Instrumenten  nachgerühmt. 
Obgleich  nun  der  Fabrikant  sein  Hilfsmittel  geheim  ge- 
halten hat,  müssen  wir  doch  annehmen,  dass  seine  Aus- 
gangspunkte weniger  schwankend  waren  als  der  Name, 
mit  dem  sie  bezeichnet  wurden,   vermuten  Hesse;    d.  h. 


—     53     — 

er  hat  wahrscheinlich  diese  Punkte  bestimmt  durch 
Schnee  mit  Salz  und  Körpertemperatur,  wobei  wohl  als 
Kontrollpunkt  die  längst  als  fest  bekannte  Temperatur 
des  schmelzenden  Schnees  verwendet  wurde.  Ohne  eine 
solche  Annahme  ist  die  grosse  Übereinstimmung  dieser 
und  der  folgenden  Fabrikate  Fahrenheits  nicht  zu  er- 
klären. 

In  der  Absicht,  dieser  Skale  die  negativen  Grade 
zu  nehmen,  hat  der  Danziger  Michael  Christian  Hanow 
in  seiner  Skale  den  tiefsten  Punkt  ( —  90  F)  mit  0°  be- 
zeichnet, Tempéré  mit  45°  und  den  höchsten  Punkt  mit 
90°,  mit  welcher  Skale  in  Danzig  1739 — 1752  Beobach- 
tungen angestellt  worden  sind1);  da  aber  anno  1740  die 
tiefste  Temperatur  um  10°  tiefer  lag  als  0°,  hat  Hanow 
die  Skale  um  10°  gestreckt  und  nun  100°  vom  tiefsten 
zum  höchsten  Punkte  erhalten-,  Tempéré  fiel  dann 
auf  55°. 

Durch  seine  Beziehungen  und  Besprechungen  mit 
den  auswärtigen  Gelehrten  kam  Fahrenheit  dazu  eine 
andere  Skale  nicht  sowohl  zu  erfinden,  als  zu  adoptieren, 
und  zwar  hat  ohne  Zweifel  der  Verkehr  mit  Olaf  Rœmer, 
dem  berühmten  Berechner  der  Lichtgeschwindigkeit  und 
Erfinder  der  hauptsächlichsten  Instrumente  unserer  astro- 
nomischen Observatorien,  auf  den  jungen  Fahrenheit  den 
grössten  Einfluss  ausgeübt.  Wann  die  Änderung  voll- 
zogen worden  ist,  kann  nicht  mit  Bestimmtheit  angegeben 
werden,  weil  Fahrenheit  selbst  über  diesen  Punkt,  wie 
über  andere  noch  wichtigere  in  seinen  ausführlichen  Be- 
schreibungen seiner  Methode,  schweigt.  AVir  finden  aber 
andere  Zeuguisse: 

Hermann  Boerhaave  (Elem.  Chem.  I.  2,  p.  720) 
spricht  sich  folgendermassen  aus: 

1)  V.  Swinden.  p.  65.  66  und  Hanow.  Seltenk.  der  Natur 
II.  269. 


—     54     — 

Incipit  deinde  actio  Aquœ,  proprie  sic  dicta?,  in  sol- 
vendo  propria  vis  tum  demum,  quando  illa  fluida  adliuc 
est  in  gradu  proximo  glaciei  jamjam  futurœ.  Adeoque 
secundum  demonstrata  superiora  in  calore  graduum  tri- 
ginta  duorum  Thermometri  Fahrenheitiani.  In  quo  qui- 
dem  gradu  incipit  in  a3re  conglaciatio  pruinosa.  Atqui 
sub  hoc  initio  frigoris  glacialis,  anno  nono  hujus  seculi, 
dicitur  insignis  matbematicus  Rœmerus  Gedani  obser- 
vasse frigus  hybernum  usque  ad  gradum  primum  ejus- 
dem  Tbermoscopii,  cujus  ipse  inventor  primus  fuerat. 
Unde  triginta  duos  gradus  ibi  tum  increverat  infra  gla- 
cialem  gradum  frigus. 

Bœrhaave  (Elem.  Cbem.  Ed.  Basil.  1745.  p.  164) 
hielt  die  Temperatur  des  Nullpunktes  für  den  tiefsten, 
den  die  Natur  hervorbringen  könne,  während  auf  künst- 
liche Weise  tiefere  Temperaturen  erzeugt  werden  können. 

Natura  nunquam  generaverat  Frigus  nisi  ad  0,  tuni- 
que animalia  et  vegetantia,  ilico  moriebantur  omnia,  hoc 
correpta  frigore.  Ars  deduxit  ad  40  gradus  ultra  Frigus. 
Verum  ubi  gradui  32,  qui  est  congelationis,  addentur  40 
gradus,  calor  oritur  in  œre  adeo  fortis,  ut  eum  diu  con- 
stanter  talem  homines  difficile  ferant,  nisi  refrigerii  causas 
vicesque  interposuerint.  Discimus  hinc  quis  crederet? 
Frigus  conglaciandœ  jamjam  aqua?  ultra  hanc  suam  pote- 
statem  crescens  visum  fuisse  ad  72  gradus  ultra.  Quid 
fieret  in  natura  rerum,  si  talis  ibi  unquam  gigneretur 
temperies  ? 

Es  ist  nicht  wohl  einzusehen,  warum  der  Fahrcn- 
heit'sche  Nullpunkt  von  einem  so  erfahrenen  Beobachter 
wie  Bœrhaave  hat  können  als  eine  Minimaltemperatur 
der  Natur  angesehen  werden,  wenn  man  bedenkt,  dass 
nach  jetzigen  Beobachtungen  auch  in  unsern  Gegenden 
Temperaturen  unter  dem  Fahrenheit' sehen  Nullpunkt 
( —  17,8  C)   nicht  ganz  selten  vorkommen,    so  in  Basel 


55 


1830—27,0;  1845—23,3;  1879—24,0;  1893  —  23.2 
u.  s.  w.  (nach  freundlicher  Mitteilung  von  Herrn  Prof. 
A.  Riggenbach). 

Van  Sirinden  hat  Grund  anzunehmen,  Rœmer  habe 
im  Jahre  1709  nicht  in  Danzig  beobachten  können; 
Bœrhaave  führt  diese  Thatsache  mit  dicitur  ein;  den 
andern  Punkt  aber  „Thermoscopii,  cujus  ipse  inventor 
primus  fuerat"  berührt  dies  nicht.  Ja  das  letztere  wird  doch 
von  einem  unverdächtigen  Zeugen,  nämlich  dem  Danziger 
M.  Chr.  Hanow  des  bestimmtesten  bestätigt,  wenn  er 
ausspricht1):  Nach  den  wichtigsten  Wettergläsern,  welche 
Herr  Rœmer  in  Danzig  angegeben  hat  und  Herr  Fahren- 
heit am  besten  verfertigt,  kochet  das  Wasser  im  212. 
und  friert  im  32.  Grade. 

Hier  wird  genau  auseinandergehalten  was  liœmers 
ist  und  was  Fahrenheits:  Ersterer  hat  die  Skale  ange- 
geben, Fahrenheit  hat  die  exakten  Thermometer  er- 
stellt. 

Hanow  berichtet  aus  dem  Jahre  17402),  schon  20 
Jahre  vor  1709  habe  ein  Danziger,  Namens  Krikart, 
ein  Wetterglas,  jedenfalls  nach  der  gewöhnlichen  Floren- 
tinerart eingerichtet,  besessen  und  beobachtet.  Dieses 
soll  Fahrenheit  zu  Anfang  des  Frostes  im  Jahr  1708 
mit  frischem  Weingeist  gefüllt  und  nach  der  Angabe 
liœmers  gefüllt  haben. 

Über  Fahrenheits  Thermometer  erfahren  wir  näheres 
aus  der  Relatio  de  Novo  Barometrorum  concordantium 
genere  in  den  Act.  Erud.  a°  1714  p.  380.  381;  der 
Name  des  Verfassers  ist  nicht  genannt;  wahrscheinlich 
ist  der  Aufsatz  von  Chr.    Wolf  in  Halle  geschrieben: 


!)  Merkwürdig,  d.  Natur.  1737. 

-)  Nach  Momber  Alb.     Prof.  Daniel  Gabr.  Fahrenheit.     Alt- 
preuss.  Monatschr.  Bd.  XXIV.  1887.  Heft  1.  2.  p.  145. 


—     56     — 

Qiue  adeo  hactenus  desiderata  fuerunt,  barometra 
et  thermometra  concordantia  exquisita  industria  construit 
Daniel  Gabriel  Fahrenheit,  Dantiscanus,  qui  ab  aliquo 
tempore  apud  nos  commoratur  et  in  conficiendis  therrao- 
metris  atque  barometris  tarn  simplicibus  quam  compo- 
sitis  excellit.  Artificium,  quo  liorum  instrumentorum 
concordiam  constanter  ex  voto  obtinet,  ob  ratioms  do- 
mesticas  reticet;  effectum  tarnen  observarunt  multi,  qui 
ejus  thermometra  et  barometra  sibi  compararunt.  Ob- 
tulit  haud  ita  pridem  duo  thermometra  Cl.  Wolfio,  Ma- 
tern. Professori  Halensi,  ut  ea  sub  examen  revocaret. 
In  iis  globulorum  loco  conspiciuntur  cylindri,  spiritu  vini 
colore  cœruleo  tincto  repleti. 

Scala  utrique  eadem  applicata.  longitudinis  6  digi- 
torum  cum  y^  :  tota  dividitur  in  lu  partes  œquales,  qua- 
rum  unaqiuelibet  in  quatuor  subdividatur.  Parti  secundœ 
a  cylindro  nuineratœ  adscribitur  frigus  vehementissimum, 
et  ab  eo  usque  ad  extremitatem  scake  ascendendo  nu- 
merat  gradus  24,  quorum  quartus  frigus  ingens,  octavus 
»rem  frigidum,  duodecimus  temperatum,  decimus  sextus 
calidum,  vigesimus  calorem  ingentem,  24  denique  sestum 
intolerabilem  indicat. 

Contendit  autem  Fahrenheitius,  sibi  constare  metho- 
dum,  qua  (piivis  alius  ubivis  terrarum  thermometra  con- 
struere  possit,  suis  etsi  non  visis  similia,  ita  ut  cum 
iisdem  in  eodem  loco  reposita  ad  eosdein  scalorum  si- 
milium  gradus  liquorum  evectum,  vel  depressum  exhi- 
beant.  Wolßus  non  solum  per  pluiïmos  dies  observavit 
in  utroque  thermometro  liquorem  constanter  ad  eundem 
gradum  vel  gradus  ejusdem  scapulum  idem;  verum  etiam 
in  locis  calidioribus  mox  liquorem  in  utroque  œqualiter 
prorsus  ascendentem  notavit. 

Wenn  wir  nun  die  Ansicht  zu  begründen  versucht 
haben,  dass  die  sog.  Fahrenheit1  sehe  Skale  von  Rœmer 


—     57 

zuerst  angegeben  worden  sei,  obgleich  Fahrenheit  selbst 
bei  deren  Erstellung  und  Einteilung  den  Namen  Rœmers 
nicht  nennt,  so  bleiben  ihm  noch  der  Verdienste  genug  : 
Von  der  Verwendung  des  Quecksilbers  ist  schon  die 
Rede  gewesen;  den  Einfluss  des  Luftdrucks  auf  die 
Höhe  des  Siedepunkts  richtig  erkannt  zu  haben,  die  Er- 
findung eines  hierauf  gegründeten  Hypsometers  und  die 
Beobachtung  der  Abkühlung  des  AVassers  unter  dem 
Schmelzpunkt  des  Eises  sind  Thatsachen  genug,  um  die 
hohe  Bedeutung  und  die  Genauigkeit  dieses  Physikers 
in  vollem  Masse  zu  dokumentieren. 

Die  Beschreibung  der  eigenen  Thermometer  gab 
Fahrenheit,  lange  nachdem  diese  Instrumente  schon  all- 
gemeine Anerkennung  gefunden  hatten,  in  den  Phil. 
Transact.  vom  Jahre  1724  Nr.  382  zu  einer  Zeit,  da 
ISeicton  noch  lebte  und  da  dieser  wohl  hätte  müssen  ge- 
nannt werden,  wenn  Fahrenheit  dessen  Skale  einfach  in 
seine  eigene  verwandelt  hätte,  was  nach  dem  voraus- 
gehenden mehr  als  unwahrscheinlich  ist.  Seine  eigenen 
Thermometer  beschreibt  Fahrenheit  in  folgender  Weise  : 

Duo  potissimum  gênera  thermometrorum  a  me  con- 
ficiuntur,  quorum  unum  spiritu  vini  et  alterum  argento 
vivo  est  repletum:  Longitudo  eorum  varia  est,  pro  usu, 
cui  inservire  debent:  Omnia  autem  in  eo  conveniunt, 
quod  in  omnibus  scalœ  gradibus  concordent,  interque 
limites  fixos  variationes  suas  absolvant. 

Thermometrorum  scala,  qua?  meteorologicis  obser- 
vationibus  solummodo  inserviunt,  infra  a  Zéro  incipit  et 
96t0  gradu  finitur.  Hujus  scalœ  divisio  tribus  nititur 
terminis  fixis,  qui  arte  sequenti  modo  parari  possunt; 
primus  illorum  in  intima  parte  vel  initio  scalse  reperitur 
et  coramixtione  glaciei,  aqiue,  et  salis  Armoniaci  vel 
etiam  maritimi  acquiritur  ;  huic  mixturœ  si  thermometron 
imponitur,  fluidum  ejus  usque  ad  gradum,  qui  Zéro  no- 


—     58     — 

tatur,  descendit.  Melius  autem  hyeme,  quam  sestate  lioc 
experimentum  succedit.  Secundus  terminus  obtinetur, 
si  aqua  et  glacies  absque  memoratis  salibus  commis- 
centur,  imposito  thermometro  huic  mixturae,  fluidum  ejus 
tricesimum  secundum  occupât  gradum,  et  terminus  initii 
congelationis  a  me  vocatur;  aqua3  enim  stagnantes  tenuis- 
sime  jam  glacie  obducuntur,  quando  hyeme  liquor  thermo- 
metri  bunce  gradum  attingit.  Terminus  tertius  in  non- 
agesimo  sexto  gradu  reperitur;  et  spiritus  usque  ad  hune 
gradum  dilatatur,  dum  tbermometrum  in  ore  vel  sub  ax- 
illis  bominis  in  statu  sano  viventis  tarn  diu  tenetur  donec 
perfectissime  colorem  corporis  œquisivit.  Si  vero  calor 
bominis  febri  vel  alio  morbo  fervente  laborantis  investi- 
gandus  est,  alio  tbermometro  utendum,  cujus  scala  us- 
que ad  128  vel  132  gradum  prolongata  est.  An  autem 
bi  gradus  ferventissimo  caloiï  alicujus  febris  sufficiant 
nondum  expertus  sura,  vix  tarnen  credendum,  quod  cu- 
jusdam  febris  fervor  gradus  memoratos  excedere  debeat. 

Tbermometrorum  scala,  quorum  ope  ebullientium 
liquorum  gradus  caloris  investigatur,  etiam  a  Zéro  inci- 
pit  et  600  continet  gradus,  boc  enim  gradu  Mercurius 
ipse    (quo    thermometron    repletum  est)   incipit    ebullire. 

Ut  autem  quoque  thermometra  ab  omnibus  muta- 
tionibus  caloris  celeriter  afficiantur,  loco  globulorum  cy- 
lindris  vitreis  sunt  prœdita,  eo  enim  modo  ob  majoris 
superficiei  quantitatem  citius  a  variatione  caloris  iDene- 
trantur. 

Man  kann  die  Frage  aufwerfen,  warum  wohl  Fahren- 
heit, der  schon  vor  seiner  Bekanntschaft  mit  Rœmer  vor- 
treffliche Thermometer  konstruiert  hatte,  sich  durch  diesen 
bestimmen  liess,  von  seiner  Skale  abzugeben  und  eine 
Einteilung  anzunehmen,  welche  Wilks  „regardée!  as  an 
abomination",  bis  dieser  eine  Beziehung  zu  Newton  bat 
herausklüeeln  können. 


—     59     — 

Man  war  am  Anfang  des  Jahrhunderts  gewohnt, 
vom  Tempéré  auszugehen  und  nach  oben  und  unten  die 
Grade  zu  zählen,  eine  Gewohnheit,  die  bis  in  die  jüngste 
Zeit  fortgedauert  hat  und  vielleicht  noch  nicht  ver- 
schwunden ist.  Sofern  es  sich  nur  um  die  täglichen 
Beobachtungen  im  gewöhnlichen  bürgerlichen  Gebrauch 
handelte,  war  diese  Zählung  auch  ganz  normal.  Mit 
der  Verbreitung  und  namentlich  mit  der  Verbesserung 
der  Instrumente  kamen  diese  auch  zu  wissenschaftlicher 
Verwendung,  namentlich  zu  meteorologischen  Zwecken. 
Sobald  aber  einmal  Tabellen  von  Beobachtungen  zu- 
sammengestellt wurden,  war  die  fast  gleich  grosse  Zahl 
der  positiven  und  der  negativen  Grade  kein  Vorteil 
mehr,  sondern  ein  Hindernis,  vielleicht  auch  eine  Quelle 
mancher  Versehen.  Am  einfachsten  wurde  das  Hinder- 
nis beseitigt  dadurch,  dass  man  den  Ausgangspunkt  der 
Zählung  möglichst  tief  wählte.  Hiefür  aber  bot  sich 
dar  die  schon  verwendete  Temperatur  der  Mischung 
von  Schnee  und  Salz,  die  man  als  tiefste  Temperatur 
in  der  Natur  ansah.  Mit  einem  Male  verringerte  sich  die 
Anzahl  der  negativen  Grade  ungemein.  Das  haben 
Rœmer  und  Fahrenheit  eingesehen  und  darnach  haben 
sie  gehandelt;  das  aber  ist  der  grosse  Vorzug  der 
englisch-amerikanischen  Skala  und  um  dieses  Vorzugs 
willen  verdient  sie  heute  wie  zu  allen  Zeiten  dankbares 
Interesse. 

ßesaguliers,  der  selbst  unter  der  Leitung  von  Newton 
Leinölthermometer  konstruiert  hat  und  der  also  mit  ihrem 
Wert  und  ihrer  Beschaffenheit  genau  vertraut  sein 
musste,  sagt,  ohne  irgend  welche  Beziehung  zwischen 
der  Skale  von  Newton  und  der  von  Fahrenheit  anzu- 
geben, die  oben  zitierten  Worte  :  Ces  dernières  années  on 
fait  usage  du  vif  argent  dans  les  thermomètres  et  l'on  a 
trouvé  qu'ils  étaient  plus  utiles,  que  tous  les  autres  .  .  . 


—     60     — 

Die  allgemeine  Anerkennung  der  Fahrenheit* sehen 
Thermometer  haben  wir  oben  (p.  42  ff.)  mit  einigen  Aus- 
sagen Sachkundiger  belegt.  Auch  die  Übereinstimmung 
früher  erstellter  Instrumente  mit  solchen  aus  späterer 
Zeit  wird  durch  Zeugnisse  belegt,  doch  nicht  ausnahmslos. 

So  sagt  C.  Kirch  in  seinen  Annotationes  in  Thermo- 
metra r),  nachdem  er  sein  in  24 — 26°  geteiltes  Thermo- 
metra  beschrieben  hat,  das  vor  20  Jahren  ab  aecura- 
tissimo  Fahrenheitio  confectum  est: 

Observavi  ante  aliquot  annos,  meum  Thermometrum 
cum  alio  Fahrenheitiano  non  penitus  congruere,  quare  ab 
ipso  Cl.  Dil.  Fahrenheit  novum  et  aecuratum  Thermo- 
metrum expetii,  ut  meum  et  aliorum  Thermometra  juxta 
illud  examinare  possem.  Inveni  illud  Thermometrum 
cum  alio  Fahrenheitiano  bene  congruere,  a  meo  vero 
notabiliter  differre. 

Augustinus  Grischow2)  war  in  Berlin  seit  1725  mit 
meteorologischen  Beobachtungen  beauftragt;  er  ver- 
schaffte sich  teils  auf  eigene  Kosten,  teils  aus  den 
Mitteln  der  königl.  Akademie  vorzügliche  Thermometer 
verschiedener  Art,  brachte  sie  an  einen  günstigen  Ort 
nach  Norden  in  freie  Luft  und  verglich  sie  sorgfältig. 
Er  berichtet  nun  (1740),  dass  ein  vor  30  Jahren  für 
die  Akademie  von  Fahrenheit  selbst  verfertigtes  grosses 
Thermometer  mit  einem  von  demselben  Fahrenheit  vor 
wenig  Jahren  erstellten,  von  Amsterdam  bezogenen,  genau 
übereinstimme.  Diese  und  andere  Erfahrungen  be- 
weisen, dass  Fahrenheit  von  Anfang  an  mit  einer  grossen 
Genauigkeit  gearbeitet  hat  und  dass  die  3  Skalen,  die 
ursprüngliche  von  —  90  bis  -j-  90,  die  kleine  von  0  bis 
24  und  die  durch  Vierteilung  erhaltene  grosse  von  0  bis 
96  in  Übereinstimmung  geblieben  sind. 

i)  Miscell.  berol.  1737.  V.  129. 

-)  Miscell.  berol.  1710.  VI.  267—312. 


—     61     — 

Van  Swinden1),  der  auf  die  Vergleiclmng  der  ver- 
schiedenen Skalen  die  grösste  Sorgfalt  verwendet  hat, 
glaubt  nach  seinen  Erfahrungen  und  Beobachtungen  zu 
dem  Urteil  berechtigt  zu  sein: 

Si  maintenant  l'on  considère,  que  le  premier  Thermo- 
mètre de  Fahrenheit  a  été  trouvé  concordant  avec  le 
second  et  le  second  avec  le  troisième  ;  qu'ils  ont  tous 
été  trouvés  concordans  entr'eux;  que  par  conséquent  le 
premier  et  le  second  ont  été  construits,  l'un  et  l'autre, 
d'après  des  points  fixes;  que  le  troisième  est  en  effet  le 
même  thermomètre  que  le  second;  que  Fahrenheit  as- 
suroit  avoir  une  méthode  secrette  pour  les  construire, 
et  cela  sans  Etalon,  car  il  n'étoit  pas  nécessaire  de  voir 
un  Thermomètre  déjà  construit,  pour  en  graduer  d'autres; 
qu'il  a  publié  en  1723  ou  1724  la  manière  dont  il  con- 
struisoit  le  troisième  Thermomètre,  et  enfin  que  les  deux 
points  extrêmes  de  tous  ces  Thermomètres  sont  en  effet 
les  mêmes  quoiqu'ils  ayent  porté  differens  noms,  il  en 
résultera  je  crois  nécessairement  que  Fahrenheit  a  tou- 
jours employé  les  mêmes  points  fixes  dans  la  construction 
de  ses  Thermomètres. 

Newtons  grosses  Verdienst  um  die  Wärmemessung 
liegt  keineswegs  in  der  Wahl  der  festen  Punkte;  denn  der 
eine,  die  Temperatur  des  Blutes  eines  gesunden  Mannes, 
hat  nur  zweifelhaften  AVert,  und  auch  nicht  in  der  Wahl  der 
Zahl  12,  die  er  für  die  Anzahl  der  Grade  zwischen 
Eispunkt  und  Blutwärnie  wählte,  sondern  in  dem  Ver- 
suche die  Temperaturen  zu  bestimmen,  die  mit  keinem 
Weingeistthermometer  hatten  können  bestimmt  werden, 
weil  sie  über  dem  Siedepunkt  des  Weingeistes  liegen, 
also  in  der  Wahl  des  Leinöles  mit  seinem  hohen  Siede- 
punkt. Und  zweitens  in  der  Verknüpfung  der  Resultate, 
die  mit  dem  Leinölthermometer  gewonnen  wurden,    mit 

l)  Diss.  s.  la  comp.  d.  Therm.  §  44. 


—     62     — 

den  Resultaten,  die  mit  einer  regelmässig  nach  einem 
bestimmten  Gesetze  sich  abkühlenden,  glühend  gemachten 
Eisenstange  sich  ergaben.  So  hat  er  unter  anderm  ge- 
funden, 

(141°  C)  dass  bei     4S°  N  ()  ein  Gemisch  gleicher 

Teile     Wismut      und 
Zinn  schmilzt, 

(168°  C)      „     bei     57°  N  ()  ein    Gemisch    von    2 

Teilen    Zinn    und    2 
Teilen  Blei, 

(238°  C)      „     bei     81"  N  ()  Wismut, 

(282°  C)      „     bei     96°  N  (  )  Blei, 

(332°  C)      „     bei  114°  N  ()  im  Dunkel  beginnende 

Rotglut  u.  s.  w. 

Fahrenheits  Verdienst  um  die  Wärmemessung  be- 
steht ebenfalls  nicht  in  der  Wahl  gewisser  fester  Punkte 
und  gewiss  nicht  in  der  Zahl  24  ;  es  liegt  an  ganz  anderm 
Orte.  Er  hat  Thermometer  zu  gewöhnlichem  Gebrauche 
mit  grosser  Sorgfalt  hergestellt  und  eine  grosse  Über- 
einstimmung vieler  Instrumente  erreicht;  er  hat  das 
Quecksilber  in  zweckmässiger  Weise  angewendet,  die 
Abhängigkeit  des  Siedepunktes  vom  Luftdruck  erkannt 
und  berücksichtigt  und  hat  auf  den  Rat  eines  ausge- 
zeichnet erfahrenen  Mannes,  Olaf  Rœmer,  eine  Skale 
gewählt,  die  vor  allen  frühern  und  den  meisten  spätem 
den  Vorzug  hat,  dass  die  Anzahl  der  negativen  Zahlen 
besonders  bei  meteorologischen  Beobachtungen  ungemein 
verringert  ist.  Eine  gerechte  und  begründete  Bewunde- 
rung der  Fahrenheit* sehen  Arbeit  stützt  sich  auf  diese 
Thatsachen  und  nicht  auf  die  imaginäre  Verwandtschaft 
mit  Newton. 

10)  Celsius-Christiii-Liuiié- Stromer. 

Im  Jahre  1844  hat  Arago  der  Pariserakademie  nach 
einein  Briefe   des  Herrn  Requien  in  Avignon  aus  einem 


—     63     — 

Manuskripte  Linné's,  das  Herrn  D' Hombres-Firmas  an- 
gehört hat,  folgenden  Passus  mitgeteilt: 

Ego  primus  fui  qui  parare  constitui  therniometra 
nostra,  ubi  punctum  congelationis  0  et  gradus  coquentis 
aqua?  100;  et  hoc  pro  hybernaculis  horti;  si  Ins  adsuetus 
esses,  certus  sum  quod  ariderent. 

Der  Brief  ist  ohne  Zeitangabe. 

Renou  (p.  37)  zieht  hieraus  den  Schluss:  Mais  il 
est  hors  de  doute  que  le  thermomètre  centigrade  est  dû 
à  Linné  d'après  une  lettre  de  cet  homme  illustre  citée 
par  Arago  t.  V.  p.  608.  Ce  fait  m'a  été  confirmé  par 
Mr.  Hildbrandsson  d'Upsal,  qui  ma  dit  que  les  droits 
de  Linné  à  cette  découverte  sont  authentiques. 

Auch  die  Encyclopredia  Britannica  stellt  auf:  Linnœus 
introduced  the  mode  of  reckoning  from  0°  in  smelting 
ice  to  100°  in  boiling  water,  which  is  now  known  as  the 
centigrade.  In  wiefern  man  hier  von  einer  découverte 
reden  kann,  ist  nicht  einzusehen.  Es  ist  mir  nicht  be- 
kannt, dass  diese  Angabe  in  der  Folge  bestätigt  oder 
berichtigt  worden  wäre,  und  doch  ist  sie  besonderer  Be- 
achtung wert. 

Zwei  Forscher,  die  weit  weg  von  einander  wohnten 
und  ohne  Zweifel  von  einander  absolut  unabhängig 
arbeiteten,  beschäftigten  sich  gleichzeitig  mit  der  Her- 
stellung und  der  Einteilung  des  Quecksilberthermometers  ; 
beide  teilten  den  Fimdamentalabstand  des  Schmelzpunktes 
und  des  Siedepunktes  in  100  gleiche  Teile,  der  eine  be- 
ginnend mit  dem  Schmelzpunkt  0U  und  aufsteigend  zum 
Siedepunkt  100",  der  andere  beginnend  mit  dem  Siede- 
punkt 0Ü  und  absteigend  zum  Schmelzpunkt  100°;  der 
eine  arbeitete  in  Lyon:  Jean- Pierre  Christin,  ein  Arzt, 
der  andere  in  Upsala:   Andreas  Celsius,  der  Astronom. 

Über  den  ersten  erhält  man  sicherste  Kunde  durch 
einen  Aufsatz   von   /.  Fournet,    Professeur  à  la  faculté 


—     64     — 

des  sciences  à  Lyon:  Sur  l'Invention  du  Thermomètre 
centigrade  à  Mercure,  faite  à  Lyon  par  M.  Christin. 
Notice  lue  à  la  Société  d'agriculture  de  Lyon  dans  la 
séance  du  4  Juillet  1845. 

Der  andere  aber  hat  seine  Methode  in  einem  Auf- 
satze dargelegt,  dessen  deutsche  Übersetzung  heisst: 
Beobachtungen  von  zween  beständigen  Graden  auf  einem 
Thermometer,  von  Andreas  Celsius  in  :  der  königl.  Schwe- 
dischen Akademie  der  Wissenschaften  Abhandlungen 
aus  der  Naturlehre  etc.  auf  das  Jahr  1742,  übersetzt 
von  Abraham  Gotihelf  Kästner,  Vierter  Band,  Hamburg 
1750.  p.   197—205. 

Der  Inhalt  dieser  beiden  Abhandlungen  ist  kurz  zu- 
sammengefasst  folgender: 

Überzeugt  von  der  Unzuverlässigkeit  und  der  Unge- 
nauigkeit  der  im  südlichen  Frankreich  verbreiteten  Thermo- 
meter bemühte  sich  Christin  bessere  Instrumente  zu  er- 
stellen ;  unter  den  möglichen  Flüssigkeiten  hielt  er  für  die  ge- 
eignetste das  Quecksilber;  er  zog  dieses  dem  Weingeist  vor, 
weil  dieser  den  Nachteil  hat  bei  niedrigen  und  höhern  Tempe- 
raturen sich  ungleichmässig  auszudehnen.  Am  4.  September 
1740  zeigte  er  der  Akademie  in  Lyon  an,  er  habe  ein 
sicheres  und  einfaches  Mittel  gefunden  zur  Herstellung 
guter  Thermometer  und  er  halte  dafür,  es  müsse  jeden- 
falls die  Zahl  80  für  die  Skale  beibehalten  werden,  wie 
bei  der  Einteilung  des  Kreises  die  Zahl  360.  Man  er- 
kennt daraus,  was  für  eine  ungemessene  Verehrung  die 
Arbeit  Réaumur's  genoss,  der  bei  seiner  Einteilung  den 
Siedepunkt  des  Weingeistes  mit  dem  des  Wassers  ver- 
wechselt hatte.  Indessen  hielt  Christin  an  der  Zahl  80 
doch  auf  die  Dauer  nicht  fest,  sondern  teilte  im  Juli 
1743  in  französischen  Zeitungen  sein  hundertteiliges 
Quecksilberthermometer  mit  unter  dem  Namen:  Thermo- 
mètre de  Lyon,  selon  la  mesure  de  la  dilatation  du  mercure. 


65     — 

Die  beiden  festen  Punkte  wurden  bestimmt  durch 
Eintauchen  in  siedendes  Wasser  und  in  gestossenes  Eis. 
Dass  bei  der  Bestimmung  des  Siedepunktes  der  Baro- 
meterstand berücksichtigt  worden  wäre,  finde  ich  nirgends 
angegeben.  Der  Abstand  der  beiden  festen  Punkte  wurde 
in  100  gleiche  Teile  geteilt. 

An  Neidern  fehlte  es  Christin  nicht,  auch  nicht  an 
Verteidigern.  Verbreitet  wurde  das  Lyonerthermometer 
hauptsächlich  in  Paris,  in  der  Provence  und  im  Dauphiné, 
während  Lyon  selbst  es  weniger  freundlich  soll  aufge- 
nommen haben.  „Il  en  coûte  à  reconnaître  le  talent 
de  ses  concitoyens." 

„Si  l'académie  de  Florence  jouit  de  la  gloire  d'avoir 
inventé  le  premier  thermomètre,  aujourd'hui  le  plus  défec- 
tueux de  tous,  combien  est-il  plus  flatteur  pour  l'aca- 
démie des  beaux  arts  de  Lyon  de  voir  sortir  de  son 
sein  et  de  donner  en  quelque  sorte  la  vie  au  plus  par- 
fait des  thermomètres." 

Mit  diesem  Thermometer  ist  die  hundertteilige  Skale 
zuerst  in  Frankreich  in  Gebrauch  gekommen.  Bei  der 
Aufstellung  des  metrischen  Systems  mussten  verschiedene 
Temperaturen  berücksichtigt  werden;  hiebei  trat  die 
Centesimaleinteilung  in  den  Vordergrund,  so  z.  B.  bei: 
Vérification  du  mètre  qui  doit  servir  d'étalon  provisoire  1). 
Hier  wird  angegeben:  La  commission  des  poids  et  me- 
sures a  pensé  qu'il  convenoit  de  prendre  pour  point  fixe 
la  température  à  dix  degrés  du  thermomètre  centigrade 
und  als  Note  wird  beigefügt:  Nous  appelons  thermomètre 
centigrade  celui  dans  lequel  l'intervalle,  entre  le  terme 
de  la  glace  et  de  l'eau  bouillante  est  divisé  en  100 
parties  égales  ou  degrés.  Dans  le  thermomètre  de 
Réaumur   cet  intervalle  est  divisé    en  80  degrés.     Hier 


l)  Ann.  d.   chim.  XX.  257. 


66 


wie  weiterhin  wird  die  De  Lac'sche  Skale  fälschlicher- 
weise als  Réaumur 'sehe  bezeichnet. 

Auch  Celsius  knüpft  an  bei  der  Mangelhaftigkeit 
der  aus  Deutschland  nach  Schweden  kommenden  Floren- 
tinerthermometer.  Auch  er  fand  als  zweckmässigste 
Methode  die  Einteilung,  die  sich  auf  zwei  feste  Punkte 
stützt,  nämlich  auf  die  Temperatur  des  schmelzenden 
Schnees  und  des  gefrierenden  Wassers,  wobei  er  be- 
merkt, dass  man  nicht  nach  der  Art  von  Réaumur  die 
Temperatur  des  gefrierenden  Wassers,  sondern  die  des 
schmelzenden  Schnees  wählen  und  den  Siedepunkt  nicht 
durch  Eintauchen  des  Thermometers  in  siedendes  Wasser, 
sondern  durch  Einführen  in  den  ausströmenden  Dampf 
bestimmen  müsse.  Hiebei  sei  aber  nach  den  Ermitt- 
lungen des  erfahrenen  Mechanikers  in  Amsterdam, 
Fahrenheit,  zu  berücksichtigen,  dass  der  Siedepunkt  vom 
Barometerstande  abhängig  sei,  weshalb  er  selbst  als  nor- 
malen Druck  den  mittleren  Barometerstand  von  25  Zoll, 
3  Linien  (schwedisch)  annehme  (1742).  Versuche  mit 
schmelzendem  Schnee  hätten  ihm  die  Beständigkeit  der 
Temperatur  zu  verschiedenen  Zeiten  und  an  weit  aus- 
einanderliegenden Orten  gezeigt.  Und  zur  Ermittlung 
der  wahren  Siedetemperatur  bediente  er  sich  einer  Thee- 
kanne,  aus  deren  Schnauze  ein  kräftiger  Dampfstrom 
blies.  Auch  beobachtete  er,  dass  bei  jähem  Heraus- 
nehmen aus  dem  Dampfe  das  Quecksilber  anfänglich  stieg. 

Auf  diese  Untersuchungen  hat  Celsius  mehrere  Jahre 
verwendet.  Waren  nun  an  einem  Thermometer  die 
beiden  Punkte  bestimmt,  so  teilte  er  den  Abstand  in 
hundert  gleiche  Teile  ein  so  zwar,  dass  der  Siedepunkt 
mit  0°,  der  Gefrierpunkt  mit  100°  bezeichnet  und  die 
Skale  nach  unten  nach  Bedarf  verlängert  wurde. 

Mit  diesem  Thermometer  sind  in  Upsala  während 
mehrerer  Jahre  Beobachtungen  gemacht  worden,  die  im 


—     67 

Auszug  in  den  Abhandlungen  der  schwedischen  Aka- 
demie mitgeteilt  sind  und  zwar  erfahren  wir  je  die 
höchsten  und  niedrigsten  Temperaturen  der  einzelnen 
Monate  1742  bis  1750.  Im  15.  Bande  der  Abhand- 
lungen (1750)  steht  unter  der  Beobachtungsreihe: 

Zu  merken:  Des  sei.  Professors  Celsius  Thermo- 
meter ist  dergestalt  eingerichtet,  dass  0  beim  Punkte 
des  siedenden  Wassers  und  100  beim  Punkt  des  Ge- 
frierens  steht;  aber  an  Herrn  Prof.  Strömers  Thermo- 
meter steht  0  beim  Gefrierpunkt  und  100  beim  kochenden 
Wasser.  Man  würde  die  einen  Grade  auf  die  Grade  des  an- 
dern gebracht  haben,  wenn  diese  Unähnlichkeit  nicht  diente, 
des  sei.  Observators  (O.  P.  Hiorter)  Beobachtungen  von 
Herrn  Prof.  Strömers  seinen  zu  unterscheiden. 

Das  Thermometer  von  Celsius  scheint  lange  Zeit 
nicht  weithin  bekannt  geworden  zu  sein;  sagt  doch  P. 
Cotte  in  seinem  1774  erschienenen  Traité  de  Météoro- 
logie III.  p.   136: 

Monsieur  Celsius,  Professeur  d'Astronomie  à  Upsal 
et  l'un  des  Savans  qui  firent  le  Voyage  au  Pôle,  pour 
déterminer  la  Figure  de  la  Terre,  a  communiqué  aux 
Physiciens  de  Suède  un  thermomètre  de  son  invention, 
dont  f  ignore  la  construction. 

Und  im  eigenen  Vaterlande  kann  den  Bestrebungen 
zur  Verbesserung  des  Thermometers  auch  keine  grosse 
Bedeutung  zugeschrieben  worden  sein;  denn  in  dem 
Nekrolog  (Denkmaal)  des  Herrn  Prof.  A.  Celsius  im  8. 
Bande  der  Abhandlungen  (p.  143  ff.)  wird  wohl  seiner 
mathematischen  Begabung,  seiner  astronomischen,  magne- 
tischen, geodätischen,  optischen  Arbeiten  gedacht,  wäh- 
rend die  thermometrischen  Arbeiten  mit  keinem  Worte 
erwähnt  werden. 

Wo  bleibt  nun  noch  Platz  für  Linné?  Verdankt 
man  ihm  die  ganze  Arbeit  des  Celsius,  der  seine  Unter- 


—     68     — 

suchungen  mit  so  grosser  Klarheit  darlegt  in  einem 
Bande  der  akademischen  Schriften  Schwedens,  in  dem 
nicht  weniger  als  fünf  botanische  Mitteilungen  von  Linné 
stehen. 

Liest  man  die  Aussage  Limits  aufmerksam,  so  er- 
kennt man,  dass  er  nicht  die  centésimale  Einteilung  für 
sich  in  Anspruch  nimmt,  wie  Renou  und  mit  ihm  die 
Encyclopœdia  Britannica  ableiten,  sondern  nur  die  Be- 
zeichnung des  Gefrierpunktes  mit  0°  und  des  Siede- 
punktes mit  100°,  ohne  Zweifel  mit  Beziehung  auf  die 
entgegengesetzte  Ordnung  von  Celsius.  Damit  aber  tritt 
Linné  nicht  in  Konkurrenz  mit  Celsius,  sondern  mit 
Strömer,  von  dem  wir  nichts  anderes  wissen,  als  dass 
an  dem  Thermometer,  mit  dem  er  beobachtete,  eben- 
falls der  Gefrierpunkt  mit  0°  und  der  Siedepunkt  mit 
100°  bezeichnet  gewesen  sei,  ohne  dass  er  diese  Um- 
kehrung für  sich  in  Anspruch  nimmt.  Es  kann  also  immer- 
hin Linné  diese  Umkehrung  zuerst  vorgenommen  haben. 
Dies  zu  ermitteln  habe  ich  mich  in  LzVme'schen  Arbeiten 
umgesehen  und  dabei  folgenden  Beleg  dafür  gefunden, 
dass  Linné  vor  dem  Zeitpunkt,  den  Strömer  angibt,  sich 
schon  der  umgekehrten,  jetzt  üblichen  Skale  bedient  hat. 

Caroli  Linnœi  Hortus  Upsaliensis  Vol.  I.  1748  ent- 
hält die  Aufzählung  und  die  Beschreibung  der  exotischen 
Pflanzen,  die  von  1742  bis  1748  in  dem  botanischen 
Garten  von  Upsala  eingeführt  worden  sind.  In  dem  Ab- 
schnitt Horticultura  Topographica  finden  sich  folgende 
Angaben  : 

Tempérât»  planta?  et  gelu  intensiore  et  calore  hy- 
bernaculi,  supra  gradum  decimum  caloris  in  domo  ad- 
scendente  per  hyemem  lseduntur.  Oalida*,  Capenses  seu 
Aethiopicœ,  non  ferunt  hyemes  notrates  sub  dio,  nee  in 
hybernaculo  calido  ultra  12  gradus  servanda1,  florent 
hveme  lubentissime. 


—     69     — 

In  der   am  Ende    des  Buches   stehenden  Praefatio: 

Calor  summus  1747.  2  VII  hora  3*/4  post  merid.  gr. 
30  supra  punctum  congelationis. 

Frigus  summum  1740  25  I  noct.  gr.  28  infra  punc- 
tum congelationis,  ubi  punctum  congelationis  0,  calor 
aqua?  coquentis   100. 

Diese  präzise  und  deutliche  Angabe  Limits  lässt 
keinen  Zweifel  darüber,  dass  er  vor  Strömer  die  Um- 
kehrung der  Skale  vorgenommen  hat. 

Wir  werden  also  nicht  weit  von  der  Wahrheit  uns 
entfernen,  wenn  wir  Celsius  die  sorgfältige  Bestimmung 
der  festen  Punkte  und  die  centésimale  Einteilung  ihres 
Abstandes,  Linné  die  Umkehrung  der  Skale  auf  den 
Thermometern  für  die  Gewächshäuser,  und  Strömer  die 
Anwendung  dieser  letztern  Skale  zu  meteorologischen 
Beobachtungen  zuschreiben.  Man  wird  deshalb  dieses 
Thermometer  mit  Recht  Schwedisches  Thermometer 
nennen,  welchen  Namen  auch  Van  Swinden  gebraucht1). 


1)  Suède.  Lyon,  nicht  wie  Carr.  Bolton  in  seiner  Vergleichs- 
tabelle  (Table  of  Thermometer  Scales)  angibt:  Sue  de  Lyon,  nach- 
dem er  einige  Kolumnen  früher  schon  Celsius,  Christin  und  Strömer 
aufgeführt  hat. 


Über  die  Einwirkung  anorganischer  und  organischer 

alkalischer  Substanzen  auf  das  Oxydationsvermögen 

von  Metallsalzen. 

Von 
Ed.  Schaer. 

(Pharmaceut.  Institut  der  Universität  Strassburg.) 


Vor  einiger  Zeit  habe  ich,  im  engen  Anschlüsse  an 
Schönbein' 'sehe  Beobachtungen,  an  anderer  Stelle  l)  Un- 
tersuchungen .,über  die  aktivierenden  "Wirkungen  von 
reduzierenden  Substanzen  und  colloïdalen  Edelmetallen, 
sowie  von  Alkaloiden  und  andern  basischen  Stoffen  auf 
verschiedene  oxydierende  Verbindungen"  veröffentlicht. 
Dabei  wurde  auch  gewisser  „aktivierender"  Einflüsse 
gedacht,  welche  alkalisch  reagierende  Körper,  nament- 
lich Pflanzenbasen  auf  das  Oxydationsvermögen  ver- 
schiedener Metallsalze  ausüben  und  welche  zuerst  (1874) 
von  F.  Schlag denhauff m  (Nancy)  bei  Mischungen  von 
Ferrisalzen  mit  Pyrogallol,  sowie  von  Quecksilberchlorid 
mit  Guajakharzlösung  beobachtet  worden  sind.2) 

Diese  Versuche  des  letztgenannten  Autors  sind  in 
den  letzten  Jahren  von  mir  durch  eine  Reihe  weiterer 
Beobachtungen  ergänzt  worden,  die  zum  kleinern  Teile  in 
der  zu  Anfang  erwähnten  Abhandlung  Berücksichtigung 
gefunden  haben.     In    der  Zwischenzeit    sind   mir  durch 


1)  Liebig's  Ann.  der  Chemie,  323  (1902)  S.  32. 

2)  Union  pharmaceutique  XV  (1874)  p.  3  u.  37. 


71 


neue  Versuche  noch  weitere  Erscheinungen  dieser  Art 
bekannt  geworden  und  es  ist  daher  vielleicht  zweck- 
mässig, in  den  folgenden  Mitteilungen  eine  wenn  auch 
zunächst  nur  vorläufige  Darlegung  jener  sonderbaren 
Wirkungen  alkalischer  Stoffe  zu  geben,  welche  nicht 
allein  theoretisches  Interesse  beanspruchen  dürfen,  son- 
dern möglicherweise  auch  bei  verschiedenen  empirisch 
ausgebildeten  chemischen  Prozessen  der  Technik  eine 
Rolle  spielen. 

Es  möge  an  dieser  Stelle  noch  die  Bemerkung 
vorausgeschickt  werden,  dass  eine  gelegentliche  ein- 
gehendere Studie  über  die  erwähnten  chemischen  Wir- 
kungen in  meinem  Laboratorium  beabsichtigt  ist,  über 
deren  Ergebnisse  später  an  diesem  oder  anderem  Orte 
zu  berichten  sein  wird. 

Während  es  sich  bei  den  oben  angeführten  ersten 
Beobachtungen  Schlagdenhauffens  lediglich  um  einige 
die  Oxydationsvorgänge  beschleunigende  oder  einleitende 
Wirkungen  von  basischen  Stoffen  (Alkaloiden  und  ge- 
wissen alkalischen  anorganischen  Substanzen)  handelte, 
welche  bei  Ferrichlorid,  in  Gegenwart  von  Pyrogallol, 
oder  bei  Quecksilberchlorid,  in  Gegenwart  von  Guajak- 
harzlösung,  zu  konstatieren  waren,  hat  sich  infolge  der 
neuen  Versuche  der  Kreis  der  besagten  Erscheinungen 
auch  auf  anderweitige  analoge  Reaktionen  ausgedehnt, 
das  heisst  es  lassen  sich  solche  aktivierende  Wirkungen 
auch  bei  Kupferoxydsalzen  und  Silbersalzen  (vermutlich 
noch  bei  andern  oxydierenden  Metallsalzen)  beobachten; 
dieselben  beschränken  sich  ferner  nicht  auf  Pflanzen- 
basen und  alkalische  anorganische  Stoffe,  sondern  scheinen 
mit  einer  gewissen  Beschränkung  auch  basischen  organi- 
schen Substanzen,  wie  Anilin,  Chinolin,  Antipyrin, 
Thaliin,  Acetanilid  u.  s.  w.  zuzukommen  und  endlich 
lassen  sich  dieselben  nicht  nur  bei  einigen  wenigen  oxy- 


—     72     — 

dablen  Materien,  wie  Guajakharz  (resp.  Guajakonsäure) 
und  Pyrogallol  nachweisen  ;  sie  treten  vielmehr  in  man- 
chen Fällen  auch  dann  auf,  wenn  zum  Beispiel  Indigo, 
Aloin  (resp.  Isobarhaloin),  Natalaloin,  Anilin,  Guajakol, 
Phenylendiamin,  Brasilin  und  wohl  noch  andere  organi- 
sche Stoffe  zur  Erkennung  der  Oxydationsreaktion  ver- 
wendet werden. 

Nach  dem  eben  gesagten  ist  vielleicht  der  Schluss 
gerechtfertigt,  dass  es  sich  um  chemische  Vorgänge 
von  allgemeiner  Bedeutung  handelt,  welche  im  Zusammen- 
hange beobachtet  und  besprochen  zu  werden  verdienen. 

Was  zunächst  die  schon  mehrfach  erwähnten  Ver- 
suche von  Schlag  denhau  ff  en  betrifft,  die  sich  auf  Mi- 
schungen von  Pyrogallol  mit  Ferrichlorid,  Mercurichlorid 
und  Kujrferchlorid,  sowie  auf  Gemenge  von  Guajakharz- 
lösung  und  Mercurichlorid  beziehen,  so  ergeben  die- 
selben auf  das  deutlichste  die  „aktivierenden"  Wirkungen 
der  alkalischen  anorganischen  Stoffe,  sowie  einer  Anzahl 
von  Pflanzenbasen.  Die  bei  weiterer  Verfolgung  jener 
Beobachtungen  über  das  Verhalten  von  Ferrisalzen  zu 
oxydablen  Substanzen  (in  Gegenwart  alkalischer  Stoffe) 
vorgenommenen  Versuche  sind  noch  nicht  hinreichend 
abgeschlossen,  um  hier  mitgeteilt  zu  werden,  und  ich 
gehe  deshalb  sogleich  zur  Besprechung  der  aktivierenden 
Wirkungen  bei  Kupfer-,  Quecksilber-  (Mercuri-)  und 
Silbersalzen  über  und  zwar  soll  zunächst  von  den  Oxy- 
dationswirkungen der  Kupfersalze  auf  Guajakharz  die 
Rede  sein.  Wie  ich  in  verschiedenen  früheren  Publi- 
kationen, auf  die  hier  nicht  von  neuem  einzugehen  ist, 
gezeigt  habe,  vermögen  die  Lösungen  anorganischer  und 
organischer  Cuprisalze  innerhalb  gewisser  Konzentra- 
tionsgrenzen und  namentlich  bei  erhöhter  Temperatur 
die  Guajakharzlösung  direkt  ohne  Mitwirkung  anderer 
Substanzen    zu    bläuen    und   es    sind    deshalb    alle    ein- 


—     73     — 

sclilägigen  Versuche  über  Wirkung  dritter  Stoffe  mit 
stark  verdünnten  Kupfersalzlösungen  vorzunehmen,  von 
denen  festzustellen  ist,  dass  sie  innerhalb  gewisser  Tem- 
peraturgrenzen die  Guajakharzlösung  („Guajaktinktur" 
Schönbeins)  unter  allen  Umständen  intakt  lassen.  Im 
weiteren  ist  es  empfehlenswert,  an  Stelle  des  bisherigen, 
nicht  allein  von  Schöllbein,  sondern  auch  von  allen 
neueren  Autoren  benützten  Verfahrens  der  Anwendung 
der  Guajakharzlösung  in  alkoholischer  oder  alkoholisch- 
wässriger  Mischung  die  von  E.  Paelzold  (Inaug.-Diss. 
Strassburg  1901)  vorgeschlagene  Methode  der  Verwen- 
dung einer  1 — -2prozentigen  Chloroformlösung  des  Harzes 
(oder  noch  besser  einer  1/i — lprozentigen  Lösung  reiner 
Guajakon säure  in  Chloroform)  einzuführen,  wobei  sich 
das  in  Chloroform  leicht  lösliche  Guajakblau,  falls  ge- 
bildet, rasch  und  scharf  aus  den  wässrigen  Reaktions- 
gemischen abscheidet. 

Bringt  man  zu  einer  nicht  gebläuten  Mischung  der 
eben  genannten  Guajaklösung  mit  stark  verdünnter 
Kupfersalzlösung  (zum  Beispiel  Kupfersulfat,  -Acetat 
oder  -Formiat)  kleine  Mengen  von  Alkaloiden,  so  wird 
in  den  meisten  Fällen,  so  namentlich  bei  Atropin,  Co- 
niin,  Veratrin,  Morphin,  Codein,  aber  auch  bei  den 
übrigen  wichtigen  Pflanzenbasen,  schon  in  der  Kälte  oder 
nach  kurzer  leichterer  Erwärmung  die  Bildung  von 
Guajakblau  bewirkt,  das  heisst  es  scheidet  sich  nach 
kurzem  Schütteln  die  Chloroformlösung  mit  mehr  oder 
weniger  tiefblauer  Färbung  ab,  während  bei  Zusatz  von 
Coffein,  das  noch  eine  gewisse  Basizität  aufweist,  aber 
nicht  mehr  zu  den  eigentlichen  Pflanzenalkaloiden  ge- 
rechnet wird,  keine  Veränderung  eintritt,  ebensowenig 
bei  Anwendung  von  Glycosiden  (Amygdalin,  Phloridzin, 
Salicin  etc.)  oder  anderen  indifferenten  Stoffen  (San- 
tonin,  Cumarin,  Picrotoxin  etc.). 


—     74     — 

Man  möchte  auf  den  ersten  Augenblick  geneigt 
sein,  die  bei  Gegenwart  von  Alkaloiden  durch  Kupfer- 
salze (sowie  durch  die  später  zu  nennenden  Quecksilber- 
und Silbersalze)  bewirkten  Oxydationserscheinungen  da- 
rauf zurückzuführen,  dass  durch  die  Ptlanzenbasen  in 
ähnlicher  Weise  wie  durch  alkalische  anorganische  Stoffe 
aus  den  Metallsalzen  freies  Metalloxyd  respektive  Oxyd- 
hydrat abgeschieden  wird  und  letzterem  die  energischen 
Oxydationswirkungen  zukommen,  wie  ja  in  der  That  ver- 
schiedene Oxyde  und  Superoxyde  von  Schwermetallen, 
unter  andern  Silberoxyd  und  Quecksilberoxyd,  die  Guajak- 
lösung  energisch  zu  bläuen  vermögen,  während  andrer- 
seits zum  Beispiel  Eisenoxyd  und  Kupferoxyd  nebst 
ihren  Hydraten  unter  gewöhnlichen  Umständen  ohne 
Wirkung  auf  besagtes  Reagens  sind.  Für  die  letztge- 
nannten Metalloxyde  respektive  deren  Salze  würde  somit 
jene  Erklärung  nicht  stichhaltig  sein,  wohl  aber  könnte 
sie  für  die  Silbersalze  und  Mercurisalze  in  Frage  kommen, 
da  in  der  Litteratur  vielfach  die  Angabe  verbreitet  ist, 
dass  im  allgemeinen  die  Ptlanzenbasen  von  deutlich  al- 
kalischer Reaktion  die  Salze  der  Erden  und  Schwer- 
metalle unter  Abscheidung  ihrer  Oxyde  zu  zerlegen  ver- 
mögen. Die  Erfahrung  zeigt  jedoch,  dass  dieser  Satz 
nur  in  ganz  bedingtem  Masse  richtig  ist.  Allerdings 
zerlegen  einige  Alkaloide,  wie  beispielsweise  das  Coniin 
unter  andern  die  Kupfer-  und  Silbersalze,  andere  wie 
zum  Beispiel  das  Atropin  die  Mercurisalze  ;  in  vielen 
andern  Fällen  aber  ist  eine  Abscheidung  von  Metall- 
oxyd entweder  nur  bei  Anwendung  der  freien  iUkaloide 
in  Substanz  oder  in  konzentrierterer  Lösung  (Morphin) 
oder  bei  höherer  Temperatur  (Strychnin)  zu  konstatieren, 
oder  sie  bezieht  sich  nur  auf  einzelne  Metallsalze  und 
ist  namentlich  bei  Verwendung  so  verdünnter  Alkaloid- 
und  Metallsalzlösungen,  wie  solche  zu  meinen  Versuchen 


—     75     - 

gedient  haben,  nicht  oder  nur  ganz  ausnahmsweise  zu 
beobachten.  Es  wird  unter  diesen  Umständen  auch  der 
Vergleich  mit  den  oxydierenden  Wirkungen  konzentrier- 
terer  alkalischer  Metallsalzlösungen,  wie  etwa  der  al- 
kalischen Kupfertartratlösung  oder  der  alkalischen  Wis- 
muttartratlösung  (auf  Traubenzucker  etc.)  hinfällig  und 
wir  sind  gezwungen,  für  die  Mehrzahl  der  Fälle  eigen- 
tümliche Kontaktwirkungen  anzunehmen,  welche  bei  den 
Metallsalzen  mit  direkt  oxydierend  wirkenden  Oxyden 
(wie  zum  Beispiel  den  Mercurisalzen  oder  Silbersalzen) 
etwa  auch  als  „  Wirkungen  prädisponierender  Verwandt- 
schaft" (zwischen  Alkaloid  und  Säure  des  betreffenden 
Metallsalzes)  aufgefasst  werden  könnten.  In  vielen  Fällen 
und  bei  gewissen  Konzentrationsverhältnissen  der  Re- 
aktionsmischungen gilt  das  oben  gesagte  auch  für  die 
Wirkung  der  noch  zu  erwähnenden  weiteren  anorgani- 
schen und  organischen  alkalischen  Substanzen. 

In  gleicher  Weise,  wie  die  Pflanzenbasen,  zum  Teil 
noch  in  intensiverer  Weise  vermögen  auch  anorganische 
alkalische  Stoffe  die  Bläuung  der  Guajakharzlösung 
durch  stark  verdünnte  Kupfersalzlösungen  zu  bewirken. 
Es  gilt  dies  sowohl  von  stark  verdünnter  Kalkhydrat- 
lösung1) (Kalkwasser),  oder  Barythydratlösung,  als  auch 
von  den  schwach  alkalisch  reagierenden  Carbonaten  wie 
Calciumcarbonat,  sowie  von  einer  Anzahl  alkalisch  rea- 
gierender Salze,  wie  namentlich  Natriumacetat  und  Na- 
triumphosphat, aber  auch  von  Natriumsalicylat  und 
Natron  seifen,  selbst  wenn  letztere  frei  von  Atznatron 
oder  Xatriumcarbonat  sind,  endlich  auch  von  verdünntem 


*)  Bei  der  bekannten  grossen  Empfindlichkeit  des  (ruajak- 
blaus  für  Alkalien  eignen  sich  die  Lösungen  der  gewöhnlichen  Atz- 
alkalien zu  diesen  Versuchen  nicht  oder  wenigstens  nur  bei  An- 
wendung der  (Tuajak-Chloroformlösung  und  hei  Einhaltung  starker 
Yerdiinnunsf. 


—     76     — 

Ammoniak.1)  Ebenso  tritt  eine  Bläuung  der  Guajakharz- 
lösung  ein,  wenn  verdünnte  Kupfersalzlösungen  unter 
Zusatz  kleiner  Mengen  des  allerdings  stark  alkalisch 
reagierenden  Anilins  oder  Chinolins  auf  erstere  ein- 
wirken, während  dagegen  die  Gegenwart  der  vom  Anilin 
deri vierenden  Verbindungen  Acetanilid  und  Phenacetin 
sowie  des  Antipyrins  (Phenyldimethylpyrazolons)  und 
Thallins  die  Kupfersalze  nicht  zu  aktivieren  vermag. 

Nachdem  seinerzeit  Schlag  denhauff en  (1.  s.  c.)  die 
tiefe  Bräunung  einer  gelblich  gefärbten  kupfersalzhaltigen 
Pyrogalloilösmig  durch  verschiedene  Pflanzenbasen  be- 
obachtet hatte,  konnte  ich  in  Bestätigung  seiner  Ver- 
suche konstatieren,  dass  eine  energische  Oxydation  des 
Pyrogallols  durch  Kupfersalz  bei  Gegenwart  der  Mehr- 
zahl der  Alkaloide  sowie  verschiedener  oben  erwähnter 
alkalischer  anorganischer  Stoffe  eintritt,  während  Glyco- 
side  und  andere  neutrale  Substanzen  keine  aktivierende 
Wirkung  äussern.  Es  werden  diese  Versuche  später 
weiter  fortgesetzt  und  ergänzt  werden. 

Ebenso  auffällig  ist  die  aktivierende  "Wirkung  von 
Pflanzenbasen,  insbesondere  von  stark  basischen  Al- 
kaloiden  wie  zum  Beispiel  des  Atropins  bei  Zusatz  zu 
hellgelb  gefärbten  kupfersalzhaltigen  Lösungen  des Aloim.2) 


J)  Die  aktivierenden  "Wirkungen  selbst  sehr  kleiner  Ammoniak- 
mengen auf  Kupfersalze  (gegenüber  Guajaklösung)  habe  ich  bereits 
vor  vielen  Jahren  (Zeitschr.  f.  analyt.  Chemie  v.  Fresenius,  1874,  I) 
experimentell  nachgewiesen. 

-)  Wie  an  diesem  Orte  (Bd.  XIII.,  299  )  in  dem  Aufsatze  über 
Guajakblau  und  Aloinrot  bereits  angegeben  worden  ist,  entsteht 
das  von  Kluntje  zuerst  beobachtete  violettrote  Oxydationsprodukt 
nach  Léger  lediglich  aus  dem  im  käuflichen  Barbadoes-Aloin  mit- 
enthaltsnen  „Isobarbaloin."  Es  möge  deshalb  hier  die  Notiz  beige- 
fügt werden,  dass  nach  meinen  neuesten  Beobachtungen  ein  mit 
dem  früher  beschriebenen  Aloinrot  identisches  oder  jedenfalls  nahe 
verwandtes  Produkt  bei  verschiedenen  durch  Kupfersalze  oder  an- 


—      Vi      — 

Es  tritt  unter  diesen  Umständen  jene  Oxydation  des 
Aloins,  unter  Bildung  des  „Aloinrots"  das  heisst  eines 
Oxydationsproduktes  mit  locker  gebundenem  Sauerstoff, 
ein,  welche  schon  vor  Jahren  bei  den  sogenannten 
K  l  un  f/e' sehen  Aloereaktionen  (Einwirkung  von  Kupfer- 
salz auf  Aloelösung  bei  Zusatz  von  Cyaniden  oder  von 
Haloidsalzen)  beobachtet  und  unlängst  von  mir  in  einer 
ausführlichen  Studie  weiter  verfolgt  worden  ist.1) 

Wenn  eine  hellgelbe  Aloinlösung  (in  Methylalkohol 
oder  verdünntem  Äthylalkohol)  mit  sehr  wenig  Kupfer- 
salz versetzt  wird,  so  wird  dieselbe  canariengelb  und 
nimmt  sodann  nach  Zufügen  einer  kleinern  Menge  alko- 
holischer Atropinlösung  oder  Coniinlösung  beim  Stehen, 
langsam  in  der  Kälte,  bedeutend  rascher  nach  Erwär- 
mung der  Reaktionsmischung,  allmählich  die  intensiv 
himbeer-purpurrote  Farbe  an,  welche  den  Aloinrot- 
lösungen  zukommt.  Wird  an  Stelle  der  genannten  Al- 
kaloide  eine  Anilinlösung  verwendet,  so  färbt  sich  die 
Flüssigkeit  nach  dem  Erwärmen  nicht  purpurrot,  son- 
dern mehr  gelbrot.  Das  Verhalten  anderer  schon  oben 
erwähnter  alkalischer  Substanzen  wird  durch  spätere 
Versuche  festzustellen  sein.  Dagegen  hat  sich  ergeben, 
das  die  Alkaloide  auch  noch  anderweitige  energische 
Oxydationswirkungen  der  Kupferoxydsalze  auszulösen 
vermögen;  so  bewirken  beispielsweise  die  genannten 
Pflanzenbasen  und  zweifellos  auch  noch  andere  Alkaloide 
die  Entfärbung  von  Indigolösung  durch  Kupfersalz  (in 
der  Wärme)  und  ebenso  eine  intensive  Rötung  der 
kupfersalzhaltigen  Paraphenylendiamin-Lösung,  während 


dere  Substanzen  bewirkten  Oxydationen  auch  aus  dem  „Natalaloinu 
(Aloin  der  Natal-Aloë)  gebildet  wird,  obwohl  dieses  Aloin  bis  in 
die  letzte  Zeit  als  von  den  übrigen  Aloinen  nicht  unerheblich  ab- 
weichend betrachtet  wurde. 

!)  Vergl.  Archiv  der  Pharmacie  2:18  (1900)  S.  42  u.  279. 


—     78     — 

andrerseits  die  Alkaloide  die  verdünnten  Kupfersalz- 
lösungen gegenüber  Jodkaliumstärkelösung,  Guajakol  und 
Anilin  nicht  zu  „aktivieren"  scheinen. 

Ebenso  auffallend,  wie  bei  den  Kupferlösungen,  sind 
die  Wirkungen  alkalisch  reagierender  Stoffe  bei  Mer- 
curisalzen,  von  welchen  allerdings  bis  jetzt  nur  das  Mer- 
curichlorid  näher  untersucht  worden  ist. 

Nicht  allein  konnte  in  Übereinstimmung  mit  den 
frühern  Versuchen  von  Schlag  denhau  ff  en  die  intensive 
Bläuung  eines  Gemenges  von  Mercurichloridlösung 
und  Guajakharzlösung  durch  die  Mehrzahl  der 
Pflanzenbasen  —  sowie  das  Ausbleiben  des  „akti- 
vierenden" Einflusses  bei  Coffein,  sowie  bei  den 
Glykosiden  u.  s.  w.  (siehe  oben)  —  bestätigt  werden, 
sondern  es  zeigte  sich,  dass  eine  grössere  Zahl  zum 
Teil  schon  von  dem  genannten  Autor  angeführter  al- 
kalischer anorganischer  Substanzen  (vor  allem  die  bei 
den  Kupfersalzen  bereits  erwähnten  unlöslichen  Hydrate 
und  Carbonate  der  Erden  und  alkalischen  Erden,  sowie 
manche  alkalisch  reagierende  Salze)  in  gleicher  Weise 
die  mit  Mercurisalz  versetzte  Guajaklösung  energisch  zu 
bläuen  vermögen.  Es  geschieht  dies  bei  allen  genannten 
Stoffen  selbst  dann,  wenn  eine  Abscheidung  von  Queck- 
silberoxyd, wie  sie  zum  Beispiel  bei  Einwirkung  von 
Atropin  oder  von  Magnesiumoxyd  zu  beobachten  ist, 
nicht  konstatiert  werden  kann. 

Organische  alkalische  Stoffe,  so  Acetanilid,  Anti- 
pyrin,  Phenacetin  verhalten  sich  ebenso  indifferent  wie 
bei  Kupfersalzlösung,  wogegen  Thaliin,  Anilin  und 
Chinolin  auch  hier  eine  Bläuung  der  B,eaktionsmischung 
bedingen.  Es  ist  wahrscheinlich,  dass  eine  erhebliche 
Zahl  anderer  noch  nicht  geprüfter  anorganischer  und 
organischer  Stoffe  alkalischer  Natur  ein  gleiches  Ver- 
halten aufweist  und  dass  somit  die  Beschleunigung  oder 


—     79     — 

Auslösimg  oxydierender  Wirkungen  von  Kupferoxyd- 
und  Quecksilberoxydsalzen  eine  empfindliche  Reaktion 
auf  die  Gegenwart  selbst  kleiner  Mengen  alkalisch  rea- 
gierender Substanzen  darstellt. *) 

Wie  bei  den  Kupfersalzlösungen,  so  führt  auch  bei 
Mercurichlorid  die  Anwendung  der  Guajakharzlösung 
in  Chloroform  in  manchen  Fällen  zu  einer  viel  schärferen 
Reaktion,  namentlich  für  Fälle  gefärbter  Lösungen  und 
besonders  auch  deshalb,  weil  das  Guajakblau  in  Ohloro- 
formlösung  weit  stabiler  zu  sein  scheint,  als  in  alko- 
holisch-wässeriger Lösung. 

Wie  zwischen  dem  Verhalten  der  mit  wenig  Mer- 
curichlorid oder  mit  Kupfersalz  versetzten  Pyrogallol- 
lösungen  in  Gegenwart  von  Alkaloiden  (Atropin,  Coniin 
etc.)  vollkommene  Analogie  besteht,  insofern  in  beiden 
Fällen  starke  Bräunung  respektive  Oxydation  jener 
Substanz  eintritt,  so  zeigt  das  Mercurisalz  auch  eine 
entsprechende  Wirkung  auf  Aloinlösung.  Lösungen  des 
Barbaloins  oder  Natalaloins  (siehe  oben)  nehmen  nach 
Zusatz  einiger  Tropfen  einer  kaltgesättigten  Quecksilber- 
chloridlösung und  nachheriger  Beimischung  gelösten 
Atropins,  Coniins  und  anderer  Alkaloide  schon  in  der 
Kälte,  etwas  rascher  bei  leichter  Erwärmung  die  inten- 
sive Aloinrotfarbe  an,  während  auch  hier  das  alkalische 
Anilin  eine  dunkel  rotgelbe  Färbung  hervorruft. 

Endlich  möge  noch  hervorgehoben  werden,  dass 
auch  hinsichtlich  der  Entfärbung  der  Indigolösung,  so- 
wie der  Rötung  der  Phenylendiaminlösung  durch  Mer- 
curichlorid eine  aktivierende  Wirkung  der  Alkaloide 
in  genau  gleicher  Weise  wie   bei  Kupferlösung  konsta- 


x)  So  zeigten  neuere,  während  des  Druckes  dieser  Mitteilung 
vorgenommene  Versuche,  dass  u.  A.  auch  Piper  idin  und  Triae- 
thylamin  selbst  in  kleinsten  Mengen  sowohl  Cuprisalze  als  Mercuri- 
chlorid gegen  Guajakharz  und  gegen  Aloin  zu  activieren  vermögen. 


—     80     — 

tiert  werden  konnte  und  dass  auch  hier  bei  Einwirkung 
auf  Gruajakollösung  ein  negatives  Verhalten  zu  beob- 
achten war. 

Die  bisherigen  Ergebnisse  veranlassten  mich,  auch 
noch  das  Silbernitrat  in  Bezug  auf  aktivierende  Ein- 
flüsse alkalischer  Substanzen  zu  untersuchen,  da  be- 
kanntlich dieses  Salz  einerseits  durch  leichte  Reduzier- 
barkeit  bei  Kontakt  mit  zahlreichen  anorganischen  und 
organischen  Stoffen  (Ferrosalze,  Thiosulfate,  Ameisen- 
säure, Aldehyde,  Pyrogallol  etc.)  sich  auszeichnet,  andrer- 
seits in  verdünntem  Lösungen  sich  manchen  oxydabeln 
Substanzen,  wie  Guajakharz,  Indigoblau  gegenüber  in- 
different verhält.  Die  angestellten  Versuche  haben  ge- 
zeigt, dass  in  mancher  Hinsicht  deutliche  Analogien,  in 
einigen  Punkten  jedoch  auffallende  Abweichungen  im 
Vergleiche  mit  den  Cupri-  und  Mersurisalzen  bestehen. 

In  Betreff  des  Verhaltens  zu  Guajakharz-  oder 
Guajakonsäurelösung  wurde  beobachtet,  dass  verschiedene 
Alkaloide,  so  namentlich  das  Atropin,  Veratrin,  Chinin 
und  sonderbarer  Weise  auch  das  so  schwach  basische 
Coffein  intensive  Bläuung  der  silbernitrathaltigen  Guajak- 
lösung  hervorrufen,  während  sich  das  Morphin,  Codein, 
Strychnin  und  Brucin  gegen  Erwartung  negativ  ver- 
halten. 

In  gleicher  Weise,  wie  die  mehrfach  genannten  al- 
kalischen anorganischen  Stoffe,  zum  Beispiel  Kalkhydrat, 
Calciumcarbonat,  Natriumacetat,  Borax  u.  s.  w.  die 
Bläuung  der  Guajakharzlösung  selbst  durch  stark  ver- 
dünnte Kupfersalz-  und  Quecksilberchloridlösungen  be- 
wirken, so  erfolgt  eine  solche  Aktivierung  auch  bei  ver- 
dünnter Silbersalzlösung  und  im  weitern  ist  es  be- 
merkenswert, dass  mehrere  organische  Substanzen  basi- 
schen Charakters,  welche  wie  Acetanilid,  Antipyrin  und 
Phenacetin  weder  bei  Kupfer-  noch  bei  Quecksilbersalz 


—     81 

eine  Bläuung  des  Reaktionsgemisches  hervorrufen  oder 
wie  Thallin  nur  bei  Mercurichlorid  eine  solche  Wirkung 
zeigen,  bei  Silbernitrat  einen  bald  schwächeren,  bald 
intensiveren  aktivierenden  Einfluss  äussern,  wie  denn 
zum  Beispiel  durch  kleine  Thallinmengen  tiefe  Bläuung 
der  mit  sehr  verdünnter  Silberlösung  geschüttelten  Gua- 
jakchloroformlösung  bewirkt  wird.  Ebenso  vermögen  auch 
die  beiden  stark  basischen  Benzolderivate  Anilin  und 
Chinolin  starke  Oxydation  des  Guajakkarzes  unter  Bil- 
dung von  Guajakblau  einzuleiten. 

Die  aktivierende  Wirkung  einzelner  Pflanzenbasen 
auf  Silbernitrat  erstreckt  sich  auch  auf  oxydierende 
Reaktionen  des  Silbersalzes  gegenüber  anderen  oxyda- 
beln  organischen  Stoffen  ;  so  wird  beispielsweise  ver- 
dünnte Indigolösung  nach  Zusatz  geringer  Mengen  von 
Atropin  relativ  rasch  durch  solche  Silberlösungen  ent- 
färbt, welche  an  und  für  sich  eine  entbläuende  respek- 
tive oxydierende  Wirkung  auf  diesen  Farbstoff  nicht 
äussern,  und  ebenso  bewirkt  stark  verdünnte  Silber- 
lösung in  Gegenwart  des  genannten  Alkaloides  starke 
Bräunung  einer  alkoholisch-wässerigen  Guajakollösung. 
Bei  diesen  beiden  letztgenannten  Reaktionen  sind  jedoch 
gewisse  andere  Pflanzenbasen,  wie  Brucin,  Veratrin  und 
Coffein  (siehe  oben),  wenigstens  in  der  Kälte,  ohne 
Wirkung. 

Was  endlich  die  oxydierende  Wirkung  des  Silber- 
nitrates auf  Aloinlösungen  (unter  Bildung  des  Aloin- 
rotes)  betrifft,  so  ist  auch  hier  ein  durchaus  ähnliches 
Verhalten,  wie  bei  den  Kupieroxydsalzen  und  bei  Mer- 
curichlorid zu  konstatieren.  Während  eine  stark  ver- 
dünnte Silbernitratlösung  in  der  Kälte  keine  Rötung 
der  verdünnten  Lösungen  von  isobarbaloinhaltigem  Alain 
oder  von  Natal- A  loin  zu  bewirken  vermag,  erfolgt  nach 
relativ  kurzer  Zeit    die  Aloinrotbildung,    wenn    den  Re- 

6 


82 


aktionsraischungen  kleine  Mengen  einzelner  freier  Al- 
kaloide,  wie  Atropin,  Coniin,  Chinin  zugefügt  werden, 
während  auch  hier  Coffein,  abweichend  von  der  Guajak- 
harz-Silbersalz-Reaktion  ohne  Wirkung  bleibt.  Es  ist 
wahrscheinlich,  dass  bei  spateren  Beobachtungen  auch 
noch  eine  Reihe  anderer  Pflanzenbasen  einen  aktivieren- 
den Einfluss  zeigen  wird. 

Wenn  wir  die  vorstehend  mitgeteilten  Thatsachen, 
welche  übrigens  nur  als  Ergebnisse  vorläufiger  Beob- 
achtungen zu  betrachten  sind,  näher  ins  Auge  fassen 
und  uns  daran  erinnern,  dass  sich  sehr  analoge  Er- 
scheinungen bei  verschiedenen  Gruppen  von  oxydierend 
wirkenden  Metallsalzen  wiederholen,  wenn  wir  endlich 
konstatieren  können,  dass  die  geschilderten  „aktivieren- 
den" Einflüsse  basischer  Stoffe  nicht  nur  da  beobachtet 
werden,  wo  durch  die  alkalische  Substanz  eine  Ab- 
scheidung von  Oxyden  respektive  Oxydhydraten  aus  den 
betreffenden  Metallsalzen  bewirkt  wird,  sondera  auch  in 
den  Fällen  und  unter  solchen  Bedingungen,  wo  eine 
solche  Zerlegung  der  Metallsalze  nicht  konstatiert  wer- 
den kann,  so  werden  wir  uns  der  Meinung  kaum  ver- 
schliessen  können,  dass  diesen  „aktivierenden"  Wirkun- 
gen auch  ein  theoretisches  Interesse  zukommt  und  dass 
die  Kenntnis  solcher  allgemeiner  verbreiteten  Erschei- 
nungen manche  schon  längst  bekannte  Reaktionen  viel- 
leicht in  ein  etwas  anderes  Licht  rückt.  Um  hier  nur 
ein  derartiges  Beispiel  anzuführen,  dessen  nähere  Be- 
sprechung in  einer  andern  Zeitschrift  erfolgen  soll,  möge 
an  die  in  der  medizinischen  Chemie  bekannte  „Biuret- 
Reaktion"  erinnert  werden,  welche  zur  Identifizierung 
sowohl  von  Harnstoff  als  auch  von  Eiweisstoffen  dient. 
Dieselbe  beruht  auf  einer  Veränderung  (Oxydation)  des 
aus  Harnstoff  bei  längerem  Schmelzen  gebildeten  Biurets 
und  wird  so  ausgeführt,  dass    das    Objekt  (bei  Eiweiss- 


—     83     — 

Reaktionen  die  auf  Albuminstoffe  zu  prüfende  Lösung) 
mit  einer  gewissen  Menge  Natron-  oder  Kalilauge  ver- 
setzt und  sodann  wenig  Kupfersulfatlösung  zugefügt  wird, 
wobei  meist  schon  in  der  Kälte,  oder  nach  leichter  Er- 
wärmung eine  violettrote  Färbung  eintritt.  Versuche, 
die  von  mir  anlässlich  dieser  Studie  über  den  Einfluss 
basischer  Stoffe  auf  das  Oxydationsvermögen  der  Kupfer- 
salze angestellt  worden  sind,  haben  sofort  ergeben,  dass 
die  Biuretreaktion  nicht  allein,  wie  zu  erwarten  war, 
mit  jedem  löslichen  Kupferoxydsalze,  sondern  auch  mit 
einer  ganzen  Reihe  alkalisch  reagierender  Substanzen 
(selbst  bei  Anwendung  kleiner  Mengen)  eintritt,  so  bei- 
spielsweise, wenn  die  Lösung  der  kaustischen  Alkalien 
durch  Kalk-  oder  Barythydrat,  durch  kleine  Mengen 
Ammoniak,  auch  durch  gewisse  Pflanzenalkaloide  (Atro- 
pin-,  Coniin-Lösung)  ersetzt  wird,  ja  selbst  bei  Anwen- 
dung einer  äusserst  schwer  löslichen  alkalischen  Sub- 
stanz, der  gebrannten  Magnesia  (Magnesiumoxyd).  Es 
ist  somit  die  fragliche  Reaktion  keineswegs  an  die  An- 
wendung von  Kali  oder  Natron,  das  heisst  an  eine  stark 
alkalische  Reaktion  der  Flüssigkeit  gebunden,  sondern 
erfolgt  auch  in  schwach  alkalischen  Reaktionsgemischen, 
was  sicherlich  um  so  bemerkenswerter  ist,  als  bisher 
wohl  die  Ansicht  vorgeherrscht  hat,  dass  bei  der  Biuret- 
reaktion mit  Albumin  durch  die  Wirkung  des  starken 
Alkalis  zunächst  irgend  eine  Spaltung  des  Eiweisskörpers 
unter  Bildung  des  Biuretkomplexes  erfolge,  welch  letz- 
terer sodann,  wie  bei  dem  entsprechenden  Versuche  mit 
reinem  Harnstoff,  durch  die  stark  alkalische  Kupfer- 
lösung unter  Bildung  des  violetten  Produktes  verändert 
respektive  oxydiert  werde.  Aus  dem  Gesagten  müssen 
wir  aber  schliessen,  dass  die  blosse  Einwirkung  des 
Kupfersalzes  bei  gleichzeitiger,  wenn  auch  schwacher 
alkalischer  Reaktion  genügt,  um  das  Eiweissmolekül  zu 


—     84     — 

„erschüttern,"  die  Biuretbildung  und  die  sofortige  Oxy- 
dation dieser  letzteren  Substanz  zu  veranlassen.  Wir 
könnten  somit  diese  Erscheinung,  im  Sinne  älterer  Auf- 
fassungen, als  Wirkungen  „prädisponierender  Verwandt- 
schaft" deuten;  jedenfalls  aber  schliessen  sich  die  Vor- 
gänge bei  der  unter  sehr  verschiedenen  Bedingungen 
eintretenden  Biuret-Reaktion  durchaus  den  unter  Alkali- 
Einfluss  erfolgenden  Oxydationswirkungen  der  Kupfer- 
oxydsalze und  anderer  Metallsalze  an,  welche  den  Haupt- 
inhalt der  vorliegenden  Mitteilung  bilden. 

Sirassburg,  im  September  1902. 


Die  Pygmäen  und  ihre  systematische  Stellung 
innerhalb  des  Menschengeschlechtes. 


Von 
J.  Kollmann. 


Mit  i  Figuren  im  Text. 

Diese  kleine  Studie  ist  Herrn  Professor  Hagenbach- Bischof  f 
gewidmet  als  Ausdruck  des  Dankes  für  das  warme  Interesse,  das  er 
seit  einem  Vierteljahrhundert  der  anatomischen  Anstalt  in  Basel  ent- 
gegengebracht hat. 


Eine  besondere  Abart  des  Menschengeschlechtes, 
die  Pygmäen,  ziehen  mehr  und  mehr  die  Aufmerksam- 
keit der  Naturforscher  auf  sich  ;  denn  die  Nachweise 
mehren  sich,  und  damit  die  Bedeutung  dieser  Erschei- 
nung für  die  Urgeschichte  des  Menschengeschlechtes. 
Solange  nur  in  Afrika  und  dem  Inselarchipel  kleine 
Menschen  gefunden  wurden,  erschienen  sie  als  ein  Ku- 
riosum,  das  au  sich  von  hohem  Interesse  war  schon 
wegen  der  Angaben  Homers  und  anderer  griechischer 
Autoren,  aber  weiter  ging  das  Interesse  bei  weitaus  den 
meisten  Schriftstellern  nicht.  Es  verging  eine  verhält- 
nismässig lange  Zeit,  bis  die  Beurteilung  etwas  tiefer 
griff.  Noch  bis  zu  Anfang  der  siebziger  Jahre  und 
selbst  noch  nach  dem  Erscheinen  des  interessanten  Bu- 
ches von  Schweinfurth,  „Im  Herzen  Afrikas",  hielt  man 


—     86     — 

die  Angabe  von  Pygmäen  nördlich  vom  Äquator  für 
reine  Erfindung,  für  mythisch,  und  als  er  gar  ein  Re- 
giment derselben  bei  dem  König  der  Mombottu  gesehen 
haben  wollte,  da  hielten  nicht  wenige  diese  Angaben 
des  erfolgreichen  Reisenden  zum  mindesten  für  Jäger- 
latein. 

In  dieser  geringschätzenden  Auffassung  hat  sich 
allmählich  ein  kleiner  Wandel  vollzogen,  weil  das  höchste 
Interesse  in  der  Frage  gipfelt:  Wie  verhalten  sich  die 
Pygmäen  ihrer  Abstammung  nach  zu  den  andern  Stäm- 
men, unter  denen  sie  leben  ?  Wenn  es  unzweifelhaft  ist, 
dass  die  Akka,  die  Batua  und  andere  —  Neger,  und  zwar 
Zwergneger  sind,  so  dürfen  sie  nicht  allein  für  sich  be- 
trachtet werden,  sondern  nur  im  Zusammenhang  mit 
andern  Negern.  Denn  eine  Verwandtschaft  zwischen 
ihnen  muss  doch  vorhanden  sein.  In  der  nämlichen 
Form  tritt  uns  dasselbe  Problem  überall  entgegen,  ob 
wir  die  Weddas  von  Ceylon,  die  Negritos  der  Philip- 
pinen und  die  Zwerge  der  Halbinsel  Malakka  betrachten 
oder  ob  wir  die  Pygmäen  Europas  berücksichtigen.  Bei 
den  letzteren  wird  die  Frage  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  akut.  Solange  nur  von  den  Zwergvölkern  unter 
den  farbigen  Rassen  die  Rede  ist,  trägt  die  ganze  Er- 
örterung mehr  einen  akademischen  Charakter;  sie  be- 
rührt uns  nicht  unmittelbar.  Sobald  aber  unsere  eigene 
Abstammung  dabei  auf  der  Tagesordnung  erscheint, 
erhöht  sich  die  Teilnahme  an  der  Diskussion,  denn  sie 
gewinnt  eine  grössere  Aktualität. 

Dabei  kommt  noch  ein  anderer  Umstand  in  Be- 
tracht. Solange  Pygmäenfunde  in  Europa  vereinzelt 
auftraten,  war  trotz  der  Verwandtschaftsfrage  das  Inter- 
esse kaum  lebhafter  erregt  worden,  denn  so  ein  paar 
Zwerge  konnten  ja  auch  am  Ende  pathologisch  sein. 
Sie   fielen    unter  den  Begriff  degenerierter  Rassen,    wie 


—     87     — 

wohl  manche  dachten.  Diese  Beurteilung  wird  aber 
immer  unzulänglicher,  denn  es  bestätigt  sich  mehr 
und  mehr,  dass  Europa  einst  eine  ganze  Bevölkerung 
von  Pygmäen  besass,  wie  heute  noch  die  Philippinen 
oder  Ceylon  oder  das  dunkle  Afrika.  In  dieser  Hin- 
sicht sei  deshalb  daran  erinnert,  dass  in  der  Schweiz, 
und  zwar  an  drei  verschiedenen  Orten,  Pygmäenknochen 
in  Gräbern  der  neolithischen  „Periode,  vermischt  mit 
Skelettresten  hochgewachsener  Europäer  gefunden  worden 
sind.  Wie  noch  heute  die  farbigen  Pygmäen  zumeist 
mit  den  farbigen  hochgewachsenen  Stämmen  zusammen 
leben,  so  war  dies  während  der  neolithischen  Periode 
auch  in  Europa  der  Fall.  Das  beweist  jede  neue  Ent- 
deckung dieser  Art,  so  z.  B.  in  Frankreich.  In  einer 
neolithischen  Station,  genannt  Cave  aux  Fées  bei  Brueil 
(Departement  Seine-et-Oise)  sind  Knochen  von  Pygmäen 
neben  Knochen  hochgewachsener  Leute  gefunden  wor- 
den, und  zwar  bis  zu  9  Prozent.  Das  ist  freilich  nicht 
übermässig  viel,  aber  man  weiss  ja,  wie  bei  Ausgrabun- 
gen mit  den  Menschenresten  verfahren  wird,  sie  werden 
in  unglaublicher  Weise  verschleudert.  Es  ist  deshalb 
gar  nicht  anzunehmen,  dass  gerade  die  Pygmäenknochen 
mit  besonderer  Sorgfalt  gesammelt  wurden.  Wenn  nun 
dennoch  so  viele  dort  in  jener  Periode  sicher  nachge- 
wiesen sind,  so  fällt  gerade  ein  solches  Zahlenverhältnis 
um  so  bedeutender  ins  Gewicht. 

In  einer  anderen  neolithischen  Station  ist  das  Ver- 
fahren übereinstimmend.  Unter  den  langen  Knochen 
von  Mureaux  belinden  sich  solche  von  Pygmäen  und 
von  hochgewachsenen  Leuten.  Dasselbe  ist  der  Fall  in 
einem  dritten  Gräberfelde  bei  Chalons-sur-Marne,  dessen 
Knocheninhalt  von  Manouvrier  unter  Mithülfe  von  Po- 
kro/vsky  beschrieben  worden  ist.  Als  die  erwähnten 
Gräberfunde    in  Frankreich    geborgen    wurden,    war  die 


—     88     — 

Thatsache  von  dem  Vorhandensein  von  Pygmäen  in 
Europa  noch  nicht  genügend  bekannt  und  so  kommt 
es,  dass  das  Vorkommen  der  Knochen  zwerghafter 
Leute  in  Frankreich  noch  bis  heute  gar  keine  weitere 
Berücksichtigung  gefunden  hat.  Aber  die  Vergleichung 
der  Zahlen  über  die  Länge  der  Oberschenkelknochen 
beweist  doch  klar,  dass  in  Frankreich  in  der  neolithi- 
schen  Periode  an  drei  verschiedenen  Orten  Pygmäen 
zusammen  mit  den  hochgewachsenen  Leuten  gelebt  ha- 
ben. Man  darf  mit  Sicherheit  darauf  rechnen,  dass 
noch  viele  Funde  der  Art  gemacht  werden,  denn  die 
Höhlenforschung  ist  dort  sehr  ergiebig.  Zahlreiche  und 
wichtige  Beiträge  haben  die  Anthropologen  dieses  Lan- 
des schon  geliefert,  besonders  für  die  neolithische  Pe- 
riode, denn  in  den  Höhlen  findet  sich  ein  Material  an 
Schädeln  und  Knochen  in  einer  Vollständigkeit  und 
Menge,  wie  es  in  Europa  kaum  irgendwo  mit  solcher 
Reichhaltigkeit  anzutreffen  ist. 

Jüngst  sind  nun  endlich  auch  in  Deutschland  Grab- 
felder aufgedeckt  worden,  welche  neben  Resten  von 
hochgewachsenen  Leuten  europäischer  Abstammung  auch 
Pygmäenknochen  enthielten.  Die  Fundorte  liegen  ein- 
mal am  Rhein  (bei  AVorms  und  Egisheim)  und  dann 
fern  ab  zwischen  Breslau  und  dem  Zobten,  dem  frucht- 
barsten Gebiete  Schlesiens.  Diese  schlesischen  Funde 
ragen  in  die  Bronze-,  in  die  römische  und  in  die  sla- 
vische  Periode  herein  !  Prof.  Thilenius  hat  die  Pygmäen 
durch  Messung  unzweifelhaft  nachgewiesen.  ')  Damit 
rückt  die  Existenz  der  Rassenzwerge  der  Jetztzeit  ziem- 
lich nahe,  und  dem  Funde  kommt  eine  besondere  Be- 
deutung zu.  Denn  es  wird  dadurch  bewiesen,  dass  das 
Vorkommen  der  Pygmäen    in   Europa    viel    länger    ge- 

i)  Globus  Bd.  81  Nr.  17.  1902. 


—     89     — 

dauert  bat,  als  man  bei  den  bisberigen  Funden  in  der 
Schweiz  und  in  Prankreich  annehmen  durfte.  Dieser 
Umstand  kann  kaum  überschätzt  werden,  wenn  man 
beachtet,  dass  in  Europa  noch  heute  auch  lebende  Pyg- 
mäen vorkommen.  Serpi  und  Manila  haben  in  Sizilien, 
namentlich  in  der  Provinz  Girgenti,  die  unzweifelhaf- 
testen   Belege    von    lebenden    Rassenzwergen    erbracht. 

Bei  einem  Besuche  in  dem  anthropologischen  In- 
stitut in  Rom  wurde  mir  eine  Reihe  solcher  Schädel 
vorgelegt,  die  Dr.  Mantia  auf  Friedhöfen  gesammelt 
hatte.  Einen  aus  dieser  seltenen  Reihe  hat  mir  Pro- 
fessor Sergi  sogar  zum  Geschenk  gemacht,  er  ist  der 
craniologischen  Sammlung  der  Anatomie  in  Basel  ein- 
verleibt worden.  Alle  Schädel  sind  „normal",  d.  h.  sie 
tragen  keine  Zeichen  von  Verkümmerung  durch  patho- 
logische Prozesse  an  sich.  Der  Nachweis  von  Pygmäen 
ist  von  den  beiden  italienischen  Forschern  auch  durch 
andere  Kennzeichen  geliefert  worden,  so  dass  über  das 
Vorkommen  von  Rassenzwergen  in  Sizilien  bis  in  die 
jüngsten  Tage  herein  keine  Zweifel  bestehen  können. 
Bei  der  Wichtigkeit  des  Gegenstandes  folgt  (Seite  90) 
die  Abbildung  des  si/.ilischen  Pygmäenschädels  aus  der 
Basler  Sammlung,  von  oben  gesehen  und  daneben  die 
Abbildung  eines  Europäerschädels  der  grossen  Rasse. 
Durch  diese  Nebeneinanderstellung  wird  der  Unterschied 
unverkennbar. 

Nachdem  nun  auch  in  der  Schweiz,  in  Frankreich 
und  in  Deutschland  Reste  von  Pygmäen  gefunden  wur- 
den, welche  von  der  neolithischen  bis  zu  der  slavischen 
Periode  fortlaufen,  so  ergiebt  sich  ein  Verhalten,  das 
mit  demjenigen  Asiens,  Afrikas  und  des  südlichen  In- 
selarchipels übereinstimmt.  Alle  diese  Kontinente  be- 
sitzen eine  kleine  Abart  des  Menschengeschlechtes,  welche 
durch    besondere    Merkmale    von    den    grossen    Rassen 


—     90 


abweicht.  Das  ist  ein  Ergebnis  von  grosser,  allgemeiner 
Tragweite.  Denn  alle,  welche  von  dem  Gesichtspunkt 
der  Entwicklung  aus  die  Menschenrassen  ins  Auge 
fassen,  werden  zu  der  Erwägung  gelangen  :  das  Men- 
schengeschlecht war  ursprünglich  aus  Pygmäen  und  aus 
hochgewachsenen  Rassen  zusammengesetzt. 

Mit  jedem  neuen  Funde  über  die  Verbreitung  der 
Pygmäen  wächst  die  Bedeutung  dieser  Thatsache.  Wir 
haben  bis  jetzt  angenommen,  die  grossen  Rassen  seien 
die  einzigen  Formen  des  Menschen  gewesen,  welche  den 


Fig.   1.     Schädel  eines  Pygmäen  aus  Sizilien.    Kapazität    1031  cem 
und  Schädel  eines  Europäers,  grosse  Rasse,  Kapazität  1460  cem. 

Erdball  bevölkert  haben,  jetzt  erfahren  wir,  dass  auch 
kleine  Menschenrassen  dazu  beigetragen  haben.  Dass 
dies  in  einem  sehr  weiten  Umfang  der  Fall  war,  be- 
weisen schon  die  obigen  kurzen  Nachrichten  über  vier 
Kontinente  :  nämlich  über  Europa,  Asien,  Afrika  und 
den  Inselarchipel.  Noch  stand  bis  jetzt  der  grosse 
amerikanische  Kontinent  aus.  Nunmehr  hat  sich  für 
die  neue  Welt  der  Nachweis  führen  lassen,  dass  die 
Bevölkerung  jenes  Kontinentes  ebenfalls  Pygmäen  ein- 
schliesst. 


91     — 

Nachrichten  über  Pygmäen  in  Amerika  sind  von 
Anthropologen  Amerikas  zwar  noch  nicht  beigebracht 
worden.  Brinton  verwies  alle  Angaben  dieser  Art  von 
A.  v.  Humboldt,  Martins  u.  A.  in  das  Bereich  der  Fa- 
bel. Mit  Unrecht,  denn  auf  dem  altberühmten  Toten- 
felde von  Ancon  und  in  den  Ruinen  von  Pachacamäc 
enthalten  die  Gräber  neben  Schädeln  und  Skeletten  der 
grossen  Leute  auch  solche  von  Pygmäen.  Das  greifbare 
Beweismaterial  hat  die  Prinzessin  Thérèse  von  Bayern 
beigebracht.  Unter  den  von  ihr  persönlich  gesammelten 
Schädeln  befinden  sich  solche  von  grosser  Kapazität  und 
solche  von  kleiner  oder  sogen.  Nanocephale.  Die  Zwerg- 
köpfe  besitzen  eine  Kapazität  von  nur  1060  bis  1192  ccm 
und  damit  dieselbe  Kleinheit,  wie  die  Schädel  der  Wed- 
das,  der  Negritos,  der  Andamanen,  der  Buschmänner 
und  der  zwerghaften  Europäer.  Alle  Erfahrungen  über 
die  körperlichen  Eigenschaften  der  Pygmäen  zeigen  nun, 
dass  die  Bässen  mit  kleinen  Köpfen  auch  von  geringer 
Körperhöhe  sind.  Wir  dürfen  also  von  den  kleinen 
Schädeln  aus  mit  Sicherheit  den  Schluss  ziehen,  dass 
die  Menschen  mit  den  kleinen  Köpfen  aus  Amerika 
ebenfalls  klein  von  Statur  waren.  Glücklicherweise  ist 
dafür  auch  ein  direkter  Beweis  beigebracht.  Prinzessin 
Thérèse  hat  auch  zwei  Oberschenkelknochen  von  jenen 
beiden  Grabstätten  mitgebracht,  und  beide  ergeben,  ob- 
wohl sie  von  völlig  ausgewachsenen  Individuen  herrüh- 
ren, dennoch  nur  eine  Körperhöhe  von  H61  und  1463 
mm,  Masse,  die  pygmäenhaft  sind,  wie  jene  der  Weddas 
oder  anderer  Zwergvölker. 

Es  war  ein  überaus  glücklicher  Griff,  neben  den 
Schädeln  auch  noch  ein  paar  Schenkelknochen  nach 
Europa  zu  transportieren,  denn  damit  vermehrte  sich 
die  Menge  und  die  Bedeutung  der  Belege.  Schädel  und 
Extremitätenknochen   zusammen    genommen,    haben   die 


92 


nämliche  Beweiskraft  wie  lebende  Pygmäen  selbst.  Das 
Vorkommen  von  dieser  Urform  des  Menschengeschlech- 
tes auch  in  Amerika  ist  damit  ein  für  allemal  festge- 
stellt und  jeder  fernere  Zweifel  ausgeschlossen.  Jetzt 
handelt  es  sich  nur  noch  darum,  die  weitere  Verbrei- 
tung dort  nachzuweisen,  und  hierzu  finden  sich  schon 
manche  Anhaltspunkte  in  der  Litteratur.  Nach  iCOr- 
bigmj  beträgt  die  mittlere  Körperhöhe  der  modernen 
Peruaner   unter  1600  mm,    ein  Mass,    das   zu  der  Ver- 


Fig.  '2.     Schädel  eines  Pygmäen.   Kapazität  1070  com  (J.  Ranke). 

Schädel  eines  Mannes  der  grossen  Rasse,  Kapazität  1-1-84 

(jR.    Yirchow).  Beide  von  den  Grabfeldern  Peru's. 

mutung  berechtigt,  dass  auch  heute  noch  Pygmäen  unter 
ihnen  leben  wie  vor  400  Jahren.  -  -  Die  kleinen  Schä- 
del sind  schon  Morton  aufgefallen,  denn  er  fand  bei  den 
Peruanern  die  kleinste  Kapazität  unter  allen  Amerika- 
nern. R.  Virchow  sah  unter  den  von  ihm  untersuchten 
Peruanerschädeln  auch  ausgemachte  Pygmäenköpfe  (er 
nennt  sie  Nanocephale),  ohne  alle  Deformation.  R.  G. 
Jl/ilibiirtons  und  Mac  Ritchies  Angaben  über  amerika- 
nische Zwergrassen  sind  von  vielen  Seiten  recht  abfällig 


—     93 

beurteilt  worden,  allein  es  dürfte  nunmehr  nach  den 
obigen  Belegen  denn  doch  geraten  sein,  diesen  Berichten 
etwas  mehr  Aufmerksamkeit  zu  schenken.  Wenn  unter 
einer  Anzahl  von  33  Schädeln  nachweislich  15  Pygmäen 
vorhanden  sind  (Ranke1),  dann  muss  die  Zwergbevölke- 
rung doch  recht  ansehnlich  gewesen  sein,  und  es  ist 
anzunehmen,  dass  sie  nicht  nur  auf  Ancon  und  Pacha- 
camâc  beschränkt  war.  Die  Litteratur  ist  auch  nach 
dieser  Seite  ziemlich  ergiebig.  Ich  will  nur  eine  That- 
sache  anführen,  welche  zeigt,  dass  Pygmäen  weit  unten 
auf  der  südlichen  Hälfte  Amerikas  einst  vorkamen.  Ten 
Kate  hat  aus  dem  Museum  von  La  Plata  über  die 
Grösse  von  Kniescheiben  berichtet,  die  an  den  Skeletten 
südamerikanischer  Herkunft  gefunden  wurden.  Voraus- 
geschickt möge  zunächst  werden,  dass  die  Kniescheibe 
in  einem  bestimmten  proportionalen  Verhältniss  zur  Kör- 
perhöhe des  Individuums  steht,  sie  ist  klein  bei  kleinen 
Leuten  und  gross  bei  grossen.  Laien  wie  Anatomen 
werden  dies  unbedingt  als  richtig  anerkennen.  Die  Un- 
terschiede betragen  nahezu  2  cm.  Ten  Kate  sind  nun 
zweierlei  Kniescheiben  aufgefallen,  solche,  die  gross  sind, 
wie  die  der  hochgewachsenen  Europäer,  und  kleine,  wie 
die  der  Pygmäen.  Der  Verfasser  hat  nur  die  eine 
Thatsache  an  sich  veröffentlicht  und  durch  tadellose 
Abbildungen  erläutert,  ohne  doch  von  Pygmäen  zu 
sprechen,  ebensowenig  wie  dies  Ranke  und  Virchow  bei 
der  Erwähnung  der  Schädel  aus  den  Totenfeldern  von 
Peru  gethan  haben.  Aber  nach  allen  Erfahrungen  über 
die  körperlichen  Eigenschaften  der  Rassenzwergc  geht 
aus  den  Angaben   über   die  Kniescheiben   deutlich   her- 


1)  Joh.  Ranke,  Beschreibung  der  Schädel  von  Ancon  und  Pa- 
châcamâc,  welche  I.  K.  H.  Prinzessin  Thérèse  von  Bayern  gesam- 
melt hat.  Abhandlungen  der  königl.  Akademie  der  Wissenschaften 
in  München  1900.    4°.    Mit  9  Tafeln. 


—     94 

vor,  dass  wir  es  mit  Teilen  eines  Zwergvolkes  zu  thun 
haben,  das  dort  in  den  Gebieten  des  La  Plata  mit 
einem   Volke    von    grossen  Leuten   zusammengelebt  hat. 

Für  mich  besteht  hierüber  auf  Grund  der  vorlie- 
genden Kniescheiben  nicht  der  geringste  Zweifel,  ebenso 
wenig  darüber,  dass  Ehrenreich  unter  den  Botokuden 
noch  lebende  Pygmäen  angetroffen  hat.  Ich  schliesse 
dies  aus  der  Körperhöhe  eines  Mannes  von  146  cm  und 
zweier  von  R.  Virchow  gemessener  Skelette,  die  nur 
eine  Körperhöhe  von  148  und  140  cm  ergaben.  Porte 
endlich  findet  unter  demselben  Volke  Körperhöhen  von 
1,85  m,  also  sehr  grosse  Leute,  daneben  aber  auch 
kleine,  und  zwar  Männer  und  Frauen,  die  nur  116  bis 
135  cm  hoch  sind!  Dazu  kommen  auch  Nachweise  von 
Schädeln  mit  kleiner  Kapazität,  die  von  den  verschie- 
densten Autoren  bestätigt  werden  (Lacerda  und  Peixoto, 
Canestrini  e  Moschen,  R.  Virchow).  Also  auch  in  die- 
sem Gebiete  amerikanischer  Stämme  die  nämliche  in 
allen  übrigen  Kontinenten  vorkommende  Erscheinung: 
das  Zusammenleben  grosser  Rassen  mit  Zwergrassen. 
Und  das  ist  noch  in  der  jüngsten  Zeit  der  Fall  gewesen 
in  den  eben  angeführten  Gebieten  Amerikas  wie  auch 
auf  der  Santa  Cruz-Insel  und  in  Kalifornien. 

So  wären  denn  nach  den  vorliegenden  Erfahrungen 
die  Pygmäen  auch  über  den  amerikanischen  Kontinent 
zerstreut  wie  über  den  von  Europa,  Asien,  Afrika  und 
den  Inselarchipel.  Damit  scheint  mir  ein  schwerwie- 
gendes Hindernis  beseitigt,  das  bisher  einer  tieferen 
natürlichen  Deutung  der  Pygmäen  entgegenstand.  Die 
Funde  in  Europa  und  Amerika  sowie  jene  auf  den  übri- 
gen Kontinenten  drängen  mehr  und  mehr  dahin,  die 
Pygmäen  als  Urrassen  aufzufassen,  die  zuerst  in  die 
Erscheinung  traten.  Aus  ihnen  haben  sich  dann,  durch 
Mutation,  die  hochgewachsenen  Rassen  entwickelt. 


—     95 

Ehe  ich  auf  die  Begründung  des  letzten  Satzes 
eingehe,  sind  zwei  schwerwiegende  Einwände  zu  berück- 
sichtigen, die  bisher  laut  geworden  sind  :  erstens  der 
Widerspruch  gegen  die  tiefgreifende  Verschiedenheit 
zwischen  den  Pygmäen  und  den  grossen  Leuten,  und 
zweitens  der  Widerspruch  gegen  die  Annahme  eines 
hohen  Alters  der  Pygmäen,  wie  es  dem  übrigen,  grossen 
Menschentum  zukommt. 

Man  hört  von  vielen  Seiten  die  Behauptung,  die 
Zwerge  seien  auf  pathologischer  Grundlage  entstanden. 
Allein  diese  Annahme  beruht  auf  der  Verwechslung 
kleiner  degenerierter  Menschen,  wie  sie  überall  einmal 
vorkommen,  mit  den  kleinen  Rassenmenschen,  die  man 
genauer  erst  seit  den  letzten  Dezennien  kennt.  Kleine 
verkümmerte  Menschen,  Bucklige  u.  dergl.  wurden  im- 
mer Zwerge  genannt  und  auch  als  Pygmäen  bezeichnet. 
Die  meisten  von  uns  haben  solch  traurige  Gestalten 
gesehen.  Ich  habe  vorgeschlagen  sie  Kümmerzicerge 
zu  nennen,  zum  Unterschied  von  den  kleinen  aber  ge- 
sunden Rassenmenschen,  von  denen  weiter  oben  die 
Rede  war.  Diese  kennen  von  Angesicht  zu  Angesicht 
nur  die  kühnen  Reisenden,  welche  sie  in  der  Wildniss 
aufgesucht  haben.  Diese  Zwerge  müssen  durch  ein  an- 
deres Wort  als  solche  kenntlich  gemacht  werden,  und 
werden  am  besten  Rassenzwerge  oder  Pygmäen  genannt. 
Das  letztere  Wort  stammt  aus  der  klassischen  Zeit  und 
wird,  wie  wir  sehen  werden,  mit  Recht  für  die  Rassen- 
zwerge beibehalten,  welche  die  Alten  bereits  als  solche 
kannten. 

Zu  weiterer  Aufklärung  sei  noch  folgendes  be- 
merkt. Kümmerzwerge,  oft  auch  Liliputaner  genannt, 
entstehen  nachweislich  durch  Degeneration,  wobei  man 
annimmt,  dass  schon  die  Keimzelle  abnorm  war.  Ihre 
Körperhöhe  schwankt  zwischen  1    Meter    und  1,30,    sie 


—     96 

sind  dabei  nicht  übel  proportioniert  mit  Ausnahme  des 
Kopfes.  Über  einem  kleinen  Gesicht  erhebt  sieh  näm- 
lich in  der  Regel  ein  etwas  grosser  Oberkopf,  der  Ge- 
hirn  genug  einschliesst,  um  sich  in  der  menschlichen 
Gesellschaft  geschickt  zu  benehmen.  Solche  Kümmer- 
zwerge treten  isoliert  auf  inmitten  der  grossgewachsenen 
Bevölkerung.  Das  einzelne  Glied  einer  Familie  bleibt 
zwerghaft,  während  die  übrigen  normal  sind.  Solche 
Kümmerzwerge  werden  bisweilen  durch  geschickte  Un- 
ternehmer von  vielen  Orten  her  zusammengebracht  und 
zu  einer  kleinen  Schauspielertruppe  vereinigt,  die  überall 
das  Entzücken  der  Kinder  bildet.  Mit  solch  verküm- 
merten kleinen  Scharen  haben  die  in  freier  Natur  auf- 
gewachsenen Rassenzwerge  aber  nichts  zu  thun  Es  ist 
leider  noch  nicht  hinreichend  bekannt,  warum  die  Küm- 
merzwerge auf  einer  kindlichen  Stufe  des  Wachstums 
stehen  bleiben,  wobei  namentlich  das  Knochensystem 
affiziert  ist.  Die  Epiphysenknorpel  der  Extremitäten- 
knochen sind  ebenso  wie  manche  Knorpel  an  der  Schä- 
delbasis bei  diesen  Zwergen  selbst  in  einem  Alter  von 
30 — 36  Jahren  noch  unversehrt  erhalten,  also  noch  zu 
einer  Zeit,  in  welcher  bei  normalen  Menschen  und  auch 
bei  den  Rassenzwergen  diese  Knorpel  längst  verknöchert 
sind. 

Solche  Kümmerzwerge,  deren  äussere  Erscheinung 
noch  etwas  anziehendes  weil  etwas  kindliches  an  sich 
trägt,  sind  aber  nicht  die  einzigen  Formen,  unter  denen 
kleine  Menschen  „Zwerge"  auftreten.  Starke  Grade 
von  Rachitis  erzeugen  Gestalten,  die  zwerghaft  und  ver- 
krüppelt zugleich  sind.  Die  psychischen  Qualitäten  kön- 
nen dabei  schwanken  zwischen  hochgradiger  Intelligenz 
und  stumpfem  Blödsinn.  In  diese  weite  Kategorie  ge- 
hören die  Zwerge,  die  in  dem  Rom  der  Cäsaren,  an 
den  Fürstenhöfen  Europas,    Afrikas  und  Indiens  zu  al- 


—     97 

lerhand  Kurzweil,  auch  als  „Hofnarren"  verwendet  wur- 
den. Speke  (64)  sah  einen  solchen  bei  einem  Negerkönig 
in  Unyoro,  also  einen  Kümmerzwerg,  keinen  Rassen- 
zwerg. Übrigens  hat  Speke  auch  eine  Abbildung  dieses 
verkümmerten  Menschen  gegeben,  so  dass  dadurch  jeder 
Zweifel  über  die  Degeneration  dieses  Zwergen  ausge- 
schlossen ist.  Speke  hatte  es  mit  einem  rachitischen 
Manne  der  im  übrigen  grossen  Negerrasse  zu  thun.  Die 
Herren  Bretts  und  Kolisko  haben  in  einem  grossen 
Werke  (00)  alle  die  verschiedenen  Sorten  der  Kümmer- 
zwerge aufgeführt,  welche  auf  pathologischer  Grundlage 
entstehen.  Es  gibt  fünf  verschiedene  Arten,  welche  das 
Minimalmass  der  Körpergrösse  der  betreffenden  Men- 
schenrasse nicht  erreichen.  Diese  Zwergarten,  von  de- 
nen die  eine  oder  andere  jedem  Leser  bekannt  sein 
dürfte,  haben  mit  den  Rassenzwergen  nur  die  geringe 
Körperhöhe  gemeinsam.  Diese  ist  aber  bei  den  Küm- 
merzwergen eine  krankhafte,  bei  den  Rassenzwergen 
dagegen  eine  rassentiafte  Eigentümlichkeit. 

Dieser  bedeutungsvolle  Unterschied  ist  erst  jetzt 
allmählich  klar  gelegt  worden,  deshalb  kann  es  kaum 
überraschen,  dass  diese  beiden  so  grundverschiedenen 
Zwergarten  oft  miteinander  verwechselt  wurden,  so  dass 
es  oft  schwer  fällt,  zu  entscheiden,  von  welcher  Art 
eigentlich  die  Rede  ist.  Dies  gilt  namentlich  bezüglich 
der  klassischen  Nachrichten.  So  ist  denn  allmählich 
eine  Zweifelsucht  entstanden,  die  viel  zu  weit  gegangen 
ist;  sie  hat  schon  im  Altertum  begonnen  und  sich  bis 
in  unsere  Tage  herein  fortgesetzt.  Ein  auffallendes 
Beispiel  dieser  Art  findet  sich  bei  dem  hervorragenden 
Geographen  G.  Forster,  der  sich  einst  auch  über  die 
Existenz  der  Pygmäen  ausgelassen  hat,  ein  Artikel,  an 
den  eben  jetzt  wieder  aufs  neue  erinnert  wird.  Forster 
ist  der  Ansicht,    die  Sage   von  dem  Volk   der  Pygmäen 

7 


98     — 

„das  an  des  Okeanos  strömenden  Fluten  von  den  Kra- 
nichen mit  Mord  und  Verderben  bedroht  wird"  (Ilias 
III,  6),  habe  nichts  gemein  mit  der  Kunde  von  kleinen 
Menschenstämmen  in  Afrika.  Diese  Auffassung  war  da- 
mals (1784)  gewiss  berechtigt,  weil  man  von  Pygmäen 
im  Innern  Afrikas  nichts  bestimmtes  wusste.  Wenn  ein 
scharfsinniger  Artikel  nach  fast  hundert  Jahren  in  Pe- 
termanns Mitteilungen  (71)  noch  dieselbe  Stellung  ein- 
nimmt und  meint,  es  handle  sich  um  eine  vollständige 
Fabel,  so  ist  dies  angesichts  der  Entdeckungen  über 
Pygmäen  offenbar  etwas  zu  weit  gegangen.  Man  darf 
die  Ansicht  Strabo's  nicht  ohne  weiteres  wiederholen, 
der  da  meinte,  was  die  Dichter,  der  Sänger  der  Iliade 
und  sein  Vorgänger  oder  Zeitgenosse  Hesiodus  von 
Pygmäen  gesagt  hätten,  sei  lediglich  der  „Ergötzung 
wegen  mitgeteilt."  In  den  beiden  obenerwähnten  Ar- 
tikeln sind  überdies  auch  die  Angaben  von  Aristoteles, 
Plinius  und  Herodot  einer  ablehnenden  Kritik  unterzogen 
worden. 

Ich  möchte  für  die  teilweise  Richtigkeit  der  alten 
Angaben  eintreten,  weil  in  der  jüngsten  Zeit  in  Ober- 
ägypten neben  den  Resten  der  hochgewachsenen  Rassen 
auch  Reste  von  Pygmäen  gefunden  wurden. 

Unter  der  Leitung  von  W.  31.  F.  Pétrie  (96)  hat 
jene  englische  Gesellschaft,  die  sich  die  archäologische 
Erforschung  Ägyptens  zur  Aufgabe  gemacht,  wertvolle 
Resultate  in  Abydos  und  seiner  nächsten  Umgebung 
erzielt.  Die  Resultate  liegen  in  vier  inhaltsreichen 
Bänden  veröffentlicht  vor,  zu  denen  noch  eine  beson- 
dere Abhandlung  von  Randal  Maclver  hinzukommt  (Ol), 
welche  die  craniologischen  Schätze  aufführt,  die  sowohl 
der  Steinzeit  Oberägyptens  als  der  Metallzeit,  und  zwar 
der  ersten  Dynastien  angehören.  Die  Leute,  welche  in 
diesen  Gräbern    von  Abydos,    wie    sie    generell    heissen 


—     99     — 

sollen,  bestattet  sind,  lebten  lange  vor  den  trojanischen 
Kämpfen  und  lange  vor  dem  unsterblichen  Sänger  der 
Utas.  Die  englischen  Gelehrten,  deren  Angaben  ich 
auf  Grund  der  Publikationen  ein  vollkommenes  Ver- 
trauen entgegenbringe,  nennen  für  die  untersuchten 
Grabfelder  und  ihre  Entstehung  die  Zeit  zwischen  4000 
bis  6000  Jahre  vor  Christus.  Maclver  hat  seiner  Ab- 
handlung mehrere  photographische  Tafeln  beigegeben, 
auf  denen  die  Schädel  in  drei  verschiedenen  Ansichten 
mit  peinlicher  Sorgfalt  wiedergegeben  sind.  Aus  diesen 
Tafeln  lässt  sich  mit  aller  nur  wünschenswerten  Sicher- 
heit entnehmen,  dass  die  Bevölkerung  von  Abgdos  aus 
Abkömmlingen  der  grossen  Rassen  Afrikas  und  aus 
Abkömmlingen  von  Pggmäen  zusammengesetzt  war1),  und 
zwar  kamen  gerade  Pygmäen  vor  in  einem  Verhältnis 
von  etwa  20%.  Nehmen  wir  an,  dort  oben  habe  eine 
Bevölkerung  Von  50,000  Seelen  gelebt,  so  befand  sich 
darunter  die  ansehnliche  Menge  von  etwa  10,000  Pyg- 
mäen. Woher  sie  kamen,  ist  natürlich  unbekannt,  aber 
man  wird  nicht  fehlgehen,  wenn  man  ihre  Heimat  im 
Sudan  annehmen  will.  Die  Figur  3  ist  nach  einer 
Photographie  angefertigt,  die  ich  Herrn  Maclver  ver- 
danke. Sie  zeigt  einen  Pygmäenschädel  und  daneben 
den  Schädel  eines  Abkömmlings  der  grossen  Rassen, 
beide  aus  der  Urzeit  Oberägyptens. 

Angesichts  dieser  unbestreitbaren  Beweise  über  das 
Vorkommen  von  Pygmäen  in  Oberägypten  zwischen 
4000 — 6000  vor  Christus  ist  es  in  hohem  Grade  wahr- 
scheinlich, ja  fast  gewiss,  dass  Aristoteles,  Homer,  He- 
siodus  und  andere  Schriftsteller  des  Altertums  eine  zu- 
treffende Nachricht  von  dem  Vorkommen  dieser  Passen- 
zwerge erhalten  hatten.  Die  skeptische  Abwehr  durch 
Strabo    war    ungerechtfertigt.     An    den   Angaben    über 

1)  Darunter  befand  sich  auch  ein  Kümmerzwerg. 


100     — 

Pygmäen  an  den  Quellen  des  Nil  bleibt  auch  nach  Be- 
seitigung aller  poetischen  Zuthaten  dennoch  ein  wahrer 
Kern.  Thatsächlich  kamen  dort  Pygmäen  vor.  Ossa 
loquuntur. 

Nun  kommen  aber  neue  Zweifel  anderer  Art.  Viele 
angesehene  Anthropologen  und  Ethnologen  sprechen  die 
Vermutung  aus,  alle  die  bisher  bekannt  gewordenen 
Pygmäenrassen  seien  lediglich  degenerierte  Abkömmlinge 
der  grossen  Leute,  unter  denen  sie  entweder  in  abhängi- 


Fig.  3.    Schädel  eines  Pygmäen  und  Schädel   eines  prähistorischen 
Nordal'rikancrs,  beide  aus  Abydos.     Nach  Maclver. 

ger  Stellung  leben,  oder  von  denen  sie  sich  getrennt 
haben.  Die  geringe  Körpergrösse  soll  von  Nahrungs- 
mangel herrühren,  v.  Wissmann,  der  an  seinen  Batua 
eine  Durchnittsgrösse  von  1,40  Meter  feststellte,  v. 
François,  der  am  obern  Tschuappa  die  Männer  ebenso 
gross  fand  und  die  Weiber  auf  1,20  Meter  schätzte, 
Schweinfwrth,  Long,  Felkiri,  Emin-Pascha,  Stnhlmann, 
Osk.  Lenz,  G.  A.  Fischer  u.  A.,  sie  alle  sollten  von  pa- 
thologischen, degenerierten  Menschen  getäuscht  worden 
sein?  Den  ersten  Anstoss  zu  dieser  seltsamen  Beurtei- 


loi 


limg  gab  vielleicht  die  Meinung  von  R.  Virckow,  es 
gäbe  manche  degenerierte  Menschenrassen.  Er  wollte 
damit  gewisse  somatische  Eigenschaften  der  Lappen 
und  der  Grönländer  treffen,  eine  Anschauung,  die  sich 
wohl  begründen  lässt.  Bezüglich  der  Rassenzwerge 
kenne  ich  aber  keine  bezügliche  Bemerkung  von  ihm, 
im  Gegenteil  bezüglich  der  Weddas  hat  er  eine  solche 
Auffassung  sogar  zurückgewiesen  und  in  einer  langen 
Diskussion  im  Schosse  der  Berliner  anthropologischen 
Gesellschaft  ist  er  Nehring  entgegengetreten,  der  seine 
Vorstellung  von  Kümmerformen  im  Tierreich  auch  auf 
gewisse  Menschenrassen,  insbesonders  auf  die  Pygmäen 
übertragen  wollte.  Eine  ausführliche  Darstellung  dieser 
Ansicht  findet  sich  bei  Ranke  (94)  und  neuerdings  bei 
Sokolowski  (02).  Sie  ist  keineswegs  neu.  Man  lese  nur 
die  Darlegungen  der  Herrn  Sarasin  (92);  da  wird  sich 
zeigen,  dass  ähnliche  Urteile  in  zahlreichen  Abstufungen 
schon  abgegeben  wurden  hinab  bis  zur  Vermutung,  die 
Weddas  seien  Affen.  Wenn  neuestens  die  alte  Variante 
wiederkehrt,  die  Weddas  seien  gewissermassen  Singha- 
lesen  unreinen  Blutes,  die  überdies  durch  ihr  Wald- 
und  Jägerleben  degeneriert  und  verwildert  seien,  so 
muss  man  fragen,  wo  denn  irgendwo  in  der  Welt  das 
Wald-  und  Jägerleben  degeneriert  hätte?  Abgesehen 
davon,  dass  alle  jetzigen  Kulturvölker  einmal  durch 
dieses  Leben  hindurchgegangen  und  sich  trotzdem  und 
gerade  deshalb  vortrefflich  erhalten  haben,  genügt  es  ja 
nur  an  die  Indianer,  die  Neger,  die  Australier  u.  s.  w. 
zu  erinnern.  Wer  hätte  jetzt  nicht  solche  Leute  gese- 
hen, welche  in  Karawanen  durch  Europa  geführt  werden 
und  doch  wahrlich  das  Gegenteil  von  Degenerationsvor- 
gängen zeigen. 

Die  Degenerationshypothese  ist  eine  voreilige  Ent- 
scheidung über  die  Rassenzwerge,  entstanden  unter  dem 


—     102 

Eindruck  jener  verkümmerten  Jammergestalten,  denen 
jeder  von  uns  schon  im  Leben  begegnet  ist,  entstanden 
unter  dem  Eindruck  pathologischer  Zwerge,  deren  Ent- 
stehungsgeschichte oben  erwähnt  wurde.  Beobachter, 
die  sich  nach  dieser  Richtung  hin  ihre  Objektivität  be- 
wahrt oder  gar  direkt  mit  den  lebenden  Rassenzwergen 
verkehrt  haben,  drücken  sich  über  die  körperliche  Be- 
schaffenheit ganz  anders  aus.  Ich  nenne  zuerst  über 
die  Wecldas  die  Herren  Sarasin,  deren  Angaben  in 
dieser  Hinsicht  ganz  entschieden  im  Gegensatz  stehen 
zu  der  Degenerationshypothese.  Im  Laufe  des  "Winters 
war  dann  Dr.  Leopold  Rütimeyer,  ein  vielbeschäftigter 
Arzt  aus  Basel,  in  Gesellschaft  der  Herren  Sarasin  in 
Ceylon,  und  hat  die  Weddas  aufgesucht.  Er  sprach  sich 
in  einem  Vortrag  in  der  Naturforschenden  Gesellschaft 
zu  Basel !)  ganz  entschieden  gegen  die  Degenerations- 
hypothese aus  mit  folgenden  Worten:  wenn  man  die  in 
ihrer  Weise  für  die  Lebensaufgaben  vollkommen  aus- 
gerüsteten, kräftigen  und  gesunden  Naturweddas  sieht, 
so  wie  wir  sie  gesehen  haben,  so  wird  man  eine  solche 
Idee,  es  handle  sich  um  Kümmerformen,  als  gekünstelt 
und  unnatürlich  zurückweisen.2) 

Soviel  gegen  die  Degenerationshypothese  mit  dem 
Zusatz,  dass  keines  der  Pygmäenskelette,  die  ich  ge- 
sehen,   Spuren    der  Degeneration    erkennen    liess,    und 


')  Sitzung  im  Juli  1902  im  Bernoullianum.  Der  Vortrag 
wird  im  Druck  erscheinen. 

L')  Zwei  andere  Beobachter,  deren  Werke  ich  nicht  selbst  ge- 
sehen, über  deren  Inhalt  ich  aber  von  kompetenten  Personen  un- 
terrichtet bin,  finden  die  Pygmäen  Afrika's  kräftig  gebaut  mit  gut 
entwickelter  Muskulatur.  Diese  Männer,  welche  direkt  mit  den 
Pygmäen  und  längere  Zeit  sogar  verkehrt  haben,  berichten  nichts 
über  Degeneration.  Die  Namen  der  beiden  Kenner  der  afrikani- 
schen Pygmäen  sind  Lloyd  und  Johnston.  Die  Titel  siehe  unten 
unter  Nr.  09  und  02. 


103     — 

ihre  Zahl  ist  doch  schon  recht  ansehnlich.  Sie  umfasst 
zunächst  die  Skelette  der  Schweizer  Pygmäen,  dann  die 
zahlreichen  Skelette  von  Pygmäen,  die  im  Besitze  der 
Herren  Sarasin  in  Basel  sich  befinden,  und  ein  An- 
damanenskelett  in  Florenz,  das  ich  mit  Mantegazza 
und  Regalia  untersucht  habe.  Unter  der  freundlichen 
Führung  des  leider  schon  verstorbenen  Sir  Will.  Floiver 
konnte  ich  die  Skelette  der  beiden  afrikanischen  Pyg- 
mäen sehen,  die  sich  in  dem  Museum  of  Natural  history 
in  London  befinden  und  die  s.  Z.  von  Emin  Pascha 
dorthin  geschenkt  wurden.  Ich  kenne  die  Schädel  si- 
zilianischer,  afrikanischer,  indischer  und  amerikanischer 
Pygmäen  und  bestreite,  dass  an  denselben  Spuren  von 
Degeneration  bemerkbar  sind.  Die  Skelette  stammen  alle 
von  gesunden  Repräsentanten  der  Rassenzwerge,  die  in 
den  ebengenannten  Kontinenten  gelebt  haben. 

Um  die  Stellung  der  Pygmäen  innerhalb  des  Men- 
schengeschlechtes später  diskutieren  zu  können,  muss 
jetzt  noch  ein  anderer  Einwand  erwähnt  werden. 

Bei  Gelegenheit  der  Diskussion  über  den  Anthro- 
poiden von  Trinil,  den  Pithecanthropus  erectus  Dubois 
habe  ich  die  Thesis  aufgestellt  (95),  die  Pygmäen  seien 
die  Vorläufer  der  grossen  Rassen.  Diese  Thesis  wird 
bestritten  und  darauf  hingewiesen,  im  Diluvium  seien 
bisher  nur  grosse  Bässen  gefunden  worden,  diese  seien 
deshalb  älter,  die  Grossen  stellten  den  Anfang  der 
Menschheit  dar  (Nehring).  Dieser  Einwurf  erscheint 
zweifellos  vielen  sehr  bedeutungsvoll,  obwohl  nach  meiner 
Meinung  das  Gewicht  dieser  Gegenbemerkung  sehr  ge- 
ring ist.  Denn  es  dürfte  sehr  schwer  fallen,  irgend 
einen  Naturforscher  zu  finden,  der  annehmen  wollte,  die 
Pygmäen  seien  erst  in  der  neolithischen  Periode  ent- 
standen. Zu  der  Zeit,  als  die  Menschheit  entstand, 
mussten  die  beiden  Formen  mindestens  gleichzeitig  auf- 


104     — 

treten.  Wenn  es  die  Grossen  waren,  die  zuerst  auf- 
traten, dann  mussten  nach  den  allgemeinen  entwick- 
lungsgeschiehtlichen  Prinzipen  die  Kleinen  doch  eben- 
falls mitentstehen.  Eine  doppelte,  unabhängige  Ent- 
stehung des  Menschengeschlechtes  ist  naturwissenschaft- 
lich betrachtet  eine  Unmöglichkeit.  In  solchen  Streitfällen 
ist  die  Cardinalfrage  am  Platz  :  Gibt  es  eine  Descendenz 
oder  gibt  es  keine.  Bekennt  sich  ein  Naturforscher  zu 
der  grossen  Lehre  von  der  Descendenz,  so  bleibt  kein 
anderer  Ausweg,  als  die  Annahme,  dass  die  Pygmäen 
und  die  Grossen  in  einem  Descendenzverhältnisse  zu 
einander  stehen  Dann  aber  muss  irgend  eine  Ent- 
scheidung gegeben  werden.  Da  liegen  nur  zwei  Mög- 
lichkeiten vor:  entweder  stammen  die  Kleinen  von  den 
Grossen  ab,  oder  die  Grossen  von  den  Kleinen.  Das 
erstere  läuft  auf  die  Degenerationshypothese  hinaus,  die 
unhaltbar  und  falsch  ist.  Es  bleibt  also  descendenz- 
theoretisch  nur  die  zweite  Möglichkeit  bestehen,  dass 
die  Grossen  von  den  Kleinen  abstammen.  Das  ist  nun 
in  der  That  nicht  nur  meine  Überzeugung,  sondern 
wohl  die  aller  Naturforscher,  welche  sich  mit  diesem 
Problem  beschäftigen. 

Von  allen  Beobachtern,  die  sich  eingehend  mit  den 
Pygmäen  befasst  haben  und  namentlich  von  allen,  die 
sie  aus  eigener  Anschauung  kennen,  und  deren  Urteil 
darf  wohl  am  meisten  Beachtung  finden,  werden  die 
Rassenzwerge  als  Urrassen  bezeichnet.  Die  ganze  Er- 
scheinung dieser  Menschenabart  legt  stets  den  Gedanken 
an  Urrassen  sofort  nahe,  wie  aus  allen  Reiseberichten 
einstimmig  hervorgeht.  Diese  Zwergrassen  haben  in 
ihrer  Erscheinung  etwas  „primitives",  etwas  ursprüng- 
liches an  sich  im  Vergleich  zu  den  grossen  Rassen. 
Der  Ausdruck  „Urrasse"  deutet  dabei  darauf  hin,  dass 
die  Pygmäen  die  ersten  Bewohner  des  betreffenden  Ge- 


—     105     — 

bietes  waren.  Das  ist  überdies  eine  Auffassung,  die 
auch  in  den  Überlieferungen  der  verschiedensten  Völker 
enthalten  ist,  seien  sie  Kultur-  oder  Naturvölker. 

Das  Fehlen  der  Überreste  in  dem  Diluvium  fällt 
diesen  Urteilen  gegenüber  nicht  so  sehr  ins  Gewicht, 
wie  man  glauben  möchte.  Die  Funde  werden  nicht 
ausbleiben.  Wenn  sie  bis  jetzt  mit  den  Grossen  zu- 
sammen in  dem  Diluvium  nicht  gefunden  wurden,  so 
rührt  dies  wohl  davon  her,  dass  sich  die  Grossen  von 
den  Pygmäen  getrennt  haben,  nachdem  die  Descendenz 
vollzogen  war.  Sie  lebten,  beide  Formen,  dann  ge- 
trennt, in  isolierten  Horden  wie  noch  jetzt  in  Central- 
afrika,  oder  auf  Ceylon.  So  lege  ich  denn  weniger  Ge- 
wicht auf  die  Thatsache  des  Fehlens  im  Diluvium,  da- 
gegen vielmehr  auf  das  übereinstimmende  Urteil  kom- 
petenter Naturforscher,  welche  die  Rassenzwerge  als 
Urrassen  betrachten,  womit  sie  die  Überzeugung  aus- 
drücken wollen,  aus  dem  Geschlecht  der  Rassenzwerge 
sei  das  Geschlecht  der  Grossen  und  zwar  auf  dem 
Wege  des  Transformismus  hervorgegangen.  Diese  Auf- 
fassung stimmt  mit  allem  überein,  was  wir  von  dem 
stammesgeschichtlichen  Entwicklungsgang  wissen.  Die 
kleinen  Formen  der  Pflanzen  und  Tiere  sind  immer  den 
grossen  vorausgegangen.  Zuerst  erschienen  die  Kleineu 
auf  dem  Schauplatz,  dann  erst  kamen  die  Grossen,  die 
sich  aus  den  Kleinen  entwickelten  im  Laufe  der  Zeit. 
Das  Gegenteil  stände  in  offenem  Widerspruch  mit  den 
Regeln  der  Entwicklung.  Der  aufsteigende  Gang  schreitet 
wie  ein  ehernes  Gesetz  fort.  Die  Forschungen  der 
Botanik,  der  Zoologie,  der  vergleichenden  Anatomie  und 
der  Palaeontologie  bestätigen  dies  überall.  Die  Riesen- 
amphibien, die  Riesensaurier,  die  Riesenvögel,  die  gros- 
sen Raubtiere,  die  grossen  Einhufer  und  die  grossen 
Wiederkäuer  —  sie  alle   sind  nicht  unvermittelt  sofort 


—     106     — 

als  grosse  Formen  entstanden,  sondern  haben  sich  aus 
den  verwandten,  nahestehenden  kiemern  Arten  allmählich 
entwickelt.  Zu  den  schon  vorhandenen  Thatsachen  hat 
Wortmann  neue  hinzugefügt  (Nr.  98). 

Nach  all  diesen  Darlegungen  ist  es  klar,  dass  nicht 
die  geringste  Veranlassung  vorliegt,  für  den  Menschen 
einen  andern  Entwicklungsgang  anzunehmen,  man  muss 
vielmehr  voraussetzen,  dass  die  grossen  Menschenrassen 
aus  den  kleinen,  also  aus  den  Pygmäen  hervorgegangen 
sind,  ein  Gedankengang,  der  mit  Anschauungen  R.  Vir- 
chow's  übereinstimmt  und  sich  wohl  mit  denen  vieler 
Naturforscher  decken  wird,  sobald  sie  sich  einmal  mit 
diesem  Problem  beschäftigen  werden. 

Um  diesen  Gedankengang  nicht  bloss  in  Worten, 
sondern  sozusagen  sichtbarlich  zu  veranschaulichen,  be- 
diene ich  mich  des  folgenden  Schemas,  wie  es  im  täg- 
lichen Leben  stets  angewendet  wird,  sobald  es  sich 
darum  handelt,  komplizierte  Verwandtschaftsverhältnisse 
einer  Familie  darzustellen.  Dieses  Schema  besteht  der 
Hauptsache  nach  aus  divergierenden  Linien,  die  von 
bestimmten  Punkten  ausgehen  (Fig.  4).  Zu  diesem  Schema 
diene  die  folgende  Erläuterung.  Durch  römisch  I,  einem 
Rechteck,  ist  die  Urhorde  des  Pygmäengeschlechts  ver- 
sinnlicht.  Sie  war  klein  und  bestand  aus  gleichartigen 
unter  sich  übereinstimmenden  Individuen.  Die  Erfah- 
rungen über  die  geographische  Verbreitung  der  Tierwelt 
drängen  dahin,  für  diese  Urhorde  ein  einziges  Ursprungs- 
centruin anzunehmen.  In  diesem  Centrum  vermehrten 
sie  sich  zu  einem  grossen   Urstamm  von  Pygmäen. 

Das  kann  als  die  erste  Periode  (I)  in  der  Entivick- 
lung  des  Menschengeschlechts  bezeichnet  werden.  Wo 
sich  dieses  Centrum  befand  und  wie  lange  diese  erste 
Periode  dauerte,  kann  hier  nicht  erörtert  werden.  Die 
zweite    Periode    in    der    Entwicklung    des   Menschenge- 


107 


schlechtes  begann  nach  den  Regeln  der  Descendenz  da- 
mit, dass  sich  aus  der  Spezies  der  Rassenzwerge,  das 
ist    aus   der  Urhorde    drei  Unterarten    oder   Subspezies 


Gr. 


Gr. 


P- 


Gr. 


••• 


\   ÇT)Gr\  0Gr. 
P(p        Pf)        P 


Q 


V.  Typen. 


„  psâ     IV.  Rassen. 


jpGr.  III.  P=Pyomäen 

/  Gr.=  Grosse  Sub- 

H  spezies. 


II.  Subzpezies  der 
Pygmäen. 


WBfflM^  I.  Urhorde  von 

MMwmm  Pygmäen. 

Fig.  4.     Schematische  Darstellung  der  Entwicklung   des  Menschengeschlechts  und 
der  systematischen  Stellung  der  Pygmäen  zu  den  grossen  Rassen. 

derselben  kleinen  Menschen  entwickelten,  welche  sich 
durch  Haar,  Hautfarbe  und  durch  die  Form  der  Hirn- 
schädel von  einander  unterschieden.  Nimmt  man  die 
Form    der   Haare    als    bezeichnendes  Merkmal,  so  sind 


—     108     — 

diese  drei  Subspezies  als  wellhaarige  (cymotriche) , 
als  wollhaarige  (ulotriche)  und  als  straffhaarige  (lisso- 
triche)  zu  unterscheiden.  Diese  drei  Subspezies  sind 
noch  heute  am  Leben.  Zu  der  wellhaarigen  Subspezies 
gehören  die  Weddas  und  die  indischen  Pygmäen,  zu 
der  wollhaarigen  die  afrikanischen  Zwergrassen  und  die 
Negritos  und  zu  den  straffhaarigen  die  amerikanischen 
Pygmäen. 

Diese  zweite  Periode  der  Evolution  der  Pygmäen 
ist  in  dem  Schema  als  ein  System  divergierender  Linien 
angedeutet,  welche  schliesslich  in  kleinen  Kreisen  endi- 
gen Diese  kleinen  Kreise  sind  verschieden,  um  die 
bestehenden  Unterschiede  innerhalb  der  drei  Subspezies 
anzudeuten.  Die  divergierenden  Linien  sollen  gleich- 
zeitig die  Thatsache  der  Wanderung  ausdrücken,  durch 
welche  die  Rassenzwerge  in  die  verschiedenen  Konti- 
nente vordrangen. 

Die  dritte  Evolutionsperiode  entwickelte  eine  grosse 
und  bedeutungsvolle  Mannigfaltigkeit  des  Menschenge- 
schlechts dadurch,  dass  zu  den  Pygmäen  noch  die 
Grossen  hinzukamen.  Aus  der  cymo-,  ulo-  und  lisso- 
trichen  Subzpezies  der  Pygmäen  entstehen  ebensoviele 
grosse  Subspezies,  die  in  gleicher  Weise  von  einander 
verschieden  sind,  wie  die  Pygmäen.  Zieht  man  auch 
hier,  nach  dem  Vorgange  Haeckels,  der  die  Gliederung 
des  Menschengeschlechts  am  ausführlichsten  behandelt 
hat  (89),  die  Haare  als  unterscheidendes  Merkmal  heran, 
dann  sind  diese  grossen  Subspezies  am  besten  ebenfalls 
als  cymo-,  ulo-  und  lissotriche  zu  unterscheiden.  Dieser 
Vorgang  stellt  die  dritte  Schöpfungsperiode  des  Menschen 
dar,  und  ist  (siehe  Schema  römisch  III)  dadurch  ausge- 
drückt, dass  ein  kleiner  und  ein  dazu  gehöriger  grosser 
Kreis  dreimal  wiederkehrt  und  dass  der  grosse  als  eine 
Abzweigung  des  kleinen  erscheint. 


—     109     — 

Der  Vorgang  hat  sich  wie  bei  den  Pflanzen  und 
Tieren  in  der  Weise  abgespielt,  dass  ein  Teil  der  Pyg- 
mäen sich  in  grosse  Rassen  innerhalb  einiger  Genera- 
tionen umwandelte  und  zwar  durch  Mutation,  durch 
einen  Vorgang,  den  neuerdings  de  Vries  (01)  ausführlich 
geschildert  hat.  Die  Anwendung  der  Erfahrungen  über 
Mutation  für  die  Naturgeschichte  des  Menschen  ist  dann 
von  mir  kurz  durchgeführt  worden  (Ol). 

Mit  dieser  dritten  Entwicklungsreihe  ist  die  Urge- 
schichte der  Menschheit  noch  nicht  abgeschlossen.  Aus 
den  Subspezies  entwickelten  sich  nunmehr  erst  die  gros- 
sen und  diu  kleinen  Rassen,  die  wir  nach  den  Eigen- 
schaften des  Gesichtes  klassifizieren.    Damit  beginnt 

Die  vierte  Evolutionsperiode  des  Menschengeschlechts, 
diejenige  der  Rassen.  In  jedem  Rassenkontinent  treten 
Rassen  auf;  die  wellhaarige  Subspezies  der  Grossen 
lässt  aus  sich  wellhaarige  Rassen  hervorgehen,  die  woll- 
haarige Subspezies  wollhaarige  Rassen  und  ebenso  die 
straffhaarige  Subspezies  straffhaarige  Rassen.  Diese 
Periode  halte  ich  für  ausserordentlich  bedeutungsvoll, 
weil  sich  damit  charakteristische  Verschiedenheiten  in 
sehr  auffallender  Weise  ausprägen.  Die  langen  Gesichter 
und  die  breiten  sind  wichtige  Entwicklungsstufen,  die 
in  ihrem  ganzen  Umfang  noch  nicht  gewürdigt  worden 
sind.  In  beiden  Rassen,  den  Lepto-  und  den  Chamae- 
prosopen,  sind  scharfe  und  charakteristische  Zeichen 
vorhanden,  welche  durch  die  Corrélation  in  einen  ganz 
bestimmten  Zusammenhang  gebracht  werden.  Dazu 
kommen  die  Veränderungen  an  der  Hirnkapsel,  wodurch 
in  jedem  Rassen  kontinent  Langschädel,  Kurzschädel  und 
mittellange  oder  Mesocephalen  entstehen.  Die  anthro- 
pologischen Arbeiten  der  letzten  Jahrzehnte  haben  zahl- 
reiche Beweise  für  diese  Gliederung  des  Menschenge- 
schlechtes gebracht.     Die  Zeit,  in  der  diese  Gliederung 


—      110      — 

stattfand,  lässt  sich  annähernd  skizzieren  ;  sie  fand  wohl 
um  die  diluviale  Epoche  herum  ihren  vorläufigen  Ab- 
schluss.  doch  damit  noch  nicht  ihr  Ende.  Denn  die 
Menschheit  entwickelt  sich  somatisch  noch  weiter  inso- 
fern in  jedem  Rassenkontinent  noch  weitere  Differen- 
zierungen vorkommen.  Sie  sind  am  genauesten  in  dem 
Kontinent  der  wellhaarigen  Rassen  und  namentlich  Eu- 
ropas bekannt,  wo  die  blauen,  braunen  und  grauen 
Augen,  die  hellen  Haare  und  die  helle  Haut  u.  s.  w. 
hinzukommen. 

Die  fünfte  Stufe  in  der  Entwicklung  der  Mensch- 
heit ist  diejenige,  in  der  wir  uns  jetzt  befinden.  Die 
Gliederung  hat  sich  vermehrt  und  es  sind  wie  im  Tier- 
und  Pflanzenreich  Formen  entstanden,  die  als  Lokalva- 
rietäten  unterschieden  werden  können  und  für  die  ich 
den  Namen  „Typen"  vorschlage.  Es  finden  sich  z.  B. 
in  Europa  zwei  t/rachi/cephale  blonde  Typen,  und  ein 
brachycephaler  brünetter  Typus  ;  dann  zwei  dolichocé- 
phale blonde  Typen  und  ein  dolichocephaler  brünetter 
Typus,  also  mindestens  sechs  verschiedene  Lokalvarie- 
täten oder  Typen,  die  Mesocephalen  nicht  mitgerechnet. 
In  miserai  Schema  ist  nicht  genug  Raum  vorhanden, 
um  die  ganze  Reichhaltigkeit  der  Gliederung  zum  Aus- 
druck zu  bringen,  sie  ist  also  durch  die  divergierenden 
Linien  nur  angedeutet. 

Nach  der  Ausbildung  der  obenerwähnten  Typen 
ist  die  Reihe  der  Mutationsperiode  für  die  grossen 
Rassen  vorläufig  als  abgeschlossen  zu  betrachten.  Alle 
Zeichen  deuten  darauf  hin,  dass  seit  mehr  als  10,000 
Jahren  keine  neue  Mutationsperiode  eingetreten  ist. 
Nach  all  dem,  was  die  neolithische  und  die  paläolithische 
Periode  an  Funden  menschlicher  Knochen  geliefert  hat, 
sind  die  Rassen  und  ihre  Varietäten  bezüglich  ihrer 
charakteristischen  Merkmale  persistent  d.  h.  unverändert 


—    111    — 

geblieben,  wahrscheinlich  aber  seit  einer  längern  Zeit 
als  oben  in  Zahlen  angegeben  wurde. 

Das  in  Figur  4  aufgebaute  Schema  ist,  wie  aus  der 
Deutung  desselben  hervorgeht,  in  den  Perioden  röm. 
III — V  auf  unbestrittene  Thatsachen  der  Anthropologie 
hin  aufgebaut.  Nach  all  dem,  was  überdies  die  Ent- 
wicklung der  Tierformen  gelehrt  hat,  darf  man  also  an- 
nehmen, dass  das  Schema  der  Wahrheit  in  Bezug  auf 
Gliederung  und  Differenzierung  der  grossen  Hassen 
wenigstens  in  den   Hauptpunkten  nahe  komme.1) 

Die  Beziehungen  der  Pygmäen  zu  diesen  grossen 
Rassen  und  die  Stellung  der  Pygmäen  in  dem  System 
ist  zwar  in  dem  Schema  und  in  den  ersten  erklärenden 
Sätzen  schon  hinreichend  dargelegt,  allein  einige  zusam- 
menhängende Bemerkungen  mögen  hierüber  noch  Platz 
rinden. 

Die  Pygmäen  sind  nach  meiner  Darstellung  die 
Stammform  des  Menschengeschlechtes,  dem  phylogene- 
tischen Gesetz  entsprechend,  dass  die  grossen  Formen 
aus  den  kleinen  durch  Descendenz  hervorgehen. 

Nach  den  Erfahrungen  von  de  Vries  (Ol)  treten 
die  neuen  Eigenschaften  sofort  in  einer  bedeutenden 
Anzahl  von  Individuen  gleichzeitig  auf  und  zwar  in  un- 
gefähr 3  °/o.  Denken  wir  uns  eine  Horde  von  100,000 
sprachlosen  Quadrumanen,  gleichviel  welches  Namens, 
als  Vorläufer  der  Pygmäen,   dann   würden   3000  dersel- 


1)  Die  oben  augewandte  Terminologie  für  die  verschiedenen 
Gliederungen  der  Menschheit  sei  hier  übersichtlich  aneinanderge- 
reiht (vergleiche  das  Schemai: 

1)  Spezies  =  Art,  zum  erstenmal  aufgetreten  als  Urhorde  von 
Pygmäen  :  Römisch  I  des  Schema. 

2)  Subspezies  —  Abart,  aus  der  Spezies  hervorgegangen.  Nr.  II. 

3)  Rassen,  aus  den  Subspezies  hervorgegangen.  Schema  Nr.  IV. 

4)  Varietäten       Typen  =  Lokalvarietäten,  aus  den  Rassen  her- 
vorgegangen (siehe  Schema  Nr.  Vi. 


—     112     — 

ben,  sobald  die  Mutationsperiode  eintritt,  auf  einmal  in 
Pygmäen  mit  menschlicher,  artikulierter  Sprache  und 
einem  höhern  Gehirnvolumen,  mit  aufrechtem  Gang  und 
mit  geringem  Haarwuchs  umgewandelt  werden.  Diese 
3000  bildeten  die  Urhorde,  den  Urstamm  des  Menschen- 
geschlechtes. Noch  gleichartig  gebaut  und  beschaffen, 
stellen  sie  den  Ausgangspunkt  aller  weitern  Entwick- 
lungsformen des  Menschengeschlechts  dar.  (Siehe  Schema 
röm.  I). 

Diese  Urhorde  begann  nun  ihre  weitere  Entwick- 
lung. Durch  eine  Reihe  von  Mutationen  entstanden 
Horden  mit  Wellhaar,  Horden  mit  Wollhaar  und  Hor- 
den mit  Straffhaar,  die  sich  trennten,  mit  Eigenschaften, 
die  thatsächlich  bei  den  Pygmäen  der  verschiedenen 
Rassenkontinente  vorkommen.  Dieser  Vorgang  ist  durch 
römisch  II  ausgedrückt. 

Aus  diesen  drei  neuen  und  jetzt  durch  viele  Merk- 
male verschiedenen  Pygmäenhorden  (röm.  II)  erfolgte 
die  grosse  Thal,  die  Geburt  der  grossen  Rassen,  welche 
durch  ein  grösseres  und  schwereres  Gehirn  die  Pygmäen 
übertreffen  und  dadurch  für  den  Kampf  ums  Dasein 
und  für  die  Beherrschung  der  Welt  besser  ausgerüstet 
wurden.  Dieses  wichtige  Ereignis  ist  in  dem  Schema 
bei  röm.  III  dadurch  angedeutet  worden,  dass  neben 
jeden  der  drei  kleinen  Kreise  ein  grosser  gesetzt  wurde, 
der  überdies  mit  dem  kleinen  in  Zusammenhang  steht 
durch  eine  Linie.  Diese  Linie  ist  von  grosser  Bedeu- 
tung, denn  sie  soll  ausdrücken,  dass  die  Grossen  durch 
Descendeuz  von  den  Pygmäen  abstammen. 

Nachdem  eine  weitere  Divergenz  der  Pygmäen,  wie 
sie  aus  dem  Schema  namentlich  bei  römisch  IV  ange- 
deutet ist,  wegen  des  Mangels  bezüglicher  Untersuchun- 
gen noch  nicht  hinreichend  festgestellt  ist,  wurde  die 
Fortpflanzungslinie    der   Pygmäen    gerade   in    die    Höhe 


113 


gezogen  und  endigt  neben  denjenigen  Linien,  welche  die 
Varietäten    der   grossen    Hassen  andeuten  (bei  röm.  V). 

Obwohl  die  vorhergehenden  Ausführungen  lediglich 
dazu  dienen  sollten,  die  Stellung  der  Pygmäen  innerhalb 
des  Menschengeschlechtes  darzulegen,  gehen  aus  dem 
Schema,  das  diese  Stellung  zum  Ausdruck  bringt,  doch 
noch  zwei  wichtige  Umstände  hervor:  erstens,  dass  die 
Pygmäen  ebensogut  wie  die  grossen  Rassen  Mutations- 
perioden durchgemacht  haben  und  zweitens,  dass  den 
Mutationsperioden  solche  der  Konstanz  gefolgt  sind,  in 
denen  zwar  so,  wie  wir  dies  jetzt  noch  beobachten,  eine 
Menge  von  sog.  Anomalien  in  den  einzelnen  Organen 
auftraten,  aber  eine  fortschrittliche  Umänderung  der 
Formen  dennoch  ausgeschlossen  blieb. 

So  folgten  den  Mutationsperioden,  trotz  der  sog. 
Anomalien  oder  Abnormitäten,  wieder  Perioden  der 
Dauerbarkeit,  wie  sich  denn  auch  jetzt  die  ganze  Mensch- 
heit, soweit  die  Beobachtung  aufweist,  in  einem  solchen 
Zustande  des  Gleichgewichtes  befindet,  so  dass  man  von 
den  verschiedenen  Typen  der  Jetztzeit  (siehe  Schema 
röm.  V)  als  von  Dauertypen  sprechen  darf. 

Aus  dem  Schema  Fig.  4  ist  die  progressive  Ent- 
wicklung von  einer  pygmäenhaften  Urhorde  zu  den  Pyg- 
mäen und  von  den  Pygmäen  zu  den  hochgewachsenen 
Rassen  nur  in  den  allgemeinsten  Zügen  angedeutet. 
Spezielle  Fälle  bleiben  zunächst  völlig  ausser  Diskus- 
sion, wozu  ich  z.  B.  den  von  /?.  Virchow  (81)  einst 
bestrittenen  Zusammenhang  der  Weddas  mit  den  hoch- 
gewachsenen Rassen  Indiens,  besonders  den  Singhalesen 
hervorhebe.  Ich  führe  zunächst  seine  Worte  an,  weil 
sie  gleichzeitig  gegen  die  schon  oben  als  irrig  erwiesene 
Degenerationshypothese  Front  machen:  „Wie  die  Wed- 
das nicht  durch  regressive  Degeneration  aus  Singhalesen 
hervorgegangen  sind,    so  haben  sie  sich  sicherlich  nicht 


—      114     — 

durch    einfache    progressive    Evolution    zu    Singhalesen 
umgestaltet.     Gegen  einen  solchen  einfachen  Zusammen- 
hang sprechen  namentlich  die  Unterschiede  im  Gesichts- 
bau,  welche  alle  Beobachter  gleichmässig  bezeugen."  Ich 
erkenne    diesen    doppelten  Vorbehalt    mit  Freuden    an. 
Der   erstere    gegen    die  Degenerationshypothese    stimmt 
völlig  mit  meiner  Erfahrung  überein,   und  was  die  pro- 
gressive Evolution  der  Pygmäen  direkt   zu  den  Singha- 
lesen betrifft,    so    lehne    ich    eine  solche  genetische  Be- 
ziehung ebenfalls  ab.     Die  Singhalesen  sind,  wie  die  Ta- 
milen, Abkömmlinge  hochgewachsener  Rassen,  aus  ihnen 
direkt   hervorgegangen,    also    in   erster  Linie  starmnver- 
wandt  nur  mit   den   hochgewachsenen   Rassen  Indiens. 
Erst    in    zweiter   weit    zurückliegender  Linie    (siehe  das 
Schema)  darf  man    an   eine  Abstammung  von  Pygmäen 
denken.     Wie    sich    dieser    Vorgang    im   Einzelnen  ge- 
staltet   haben    mag,    muss    zunächst   noch  unentschieden 
bleiben.     Dazu  sind    noch  weitgehende  Studien  notwen- 
dig.    Nur    soviel  darf  nach  meiner  Meinung  angesichts 
der  Verschiedenheit   unter  den  Pygmäenstämmen  schon 
heute  ausgesagt  werden,  dass  die  grossen  Rassen  Euro- 
pas, jene   Asiens   und  jene  Afrikas    von  verschiedenen 
Pygmäenhorden    abstammen,    die    schon    in    der   Urzeit, 
wohl   im  Tertiär    aufgetreten    sind.     Von  diesem  weiten 
Gesichtspunkt   aus   muss   das  Schema  Fig.  4  betrachtet 
werden.  Die  divergierenden  Linien  deuten  auf  Verschie- 
denheiten   des    Ortes,    die    nach    Kontinenten    bemessen 
werden    müssen,    und  deuten   auf  Zeiträume,    die   nach 
Jahrzehntausenden    geschätzt    werden    sollen.      Nur    so 
lässt  sich  die  Thatsache  verstehen,  dass  die  Neger  neben 
sich  wollhaarige    negerartige  Pygmäen   besitzen,  die  cy- 
motrichen    Inder     und    Europäer     cymotriche    und    die 
lissotrichen  Indianer    lissotriche  Pygmäen  umschliessen. 


115     — 


Fassen  wir  das  Ergebnis  der  vorliegenden  Darle- 
gungen zusammen,  so  ergibt  sich  folgendes: 

1.  Neben  den  grossen  Rassen  sind  in  allen  Konti- 
nenten auch  kleine  Menschenrassen  zu  linden,  deren 
Körperhöhe  zwischen  120-150  cm,  deren  Hirngewicht 
zwischen  900  und  1200  ccm.  schwankt. 

2.  Auch  der  amerikanische  Kontinent  enthält  Pyg- 
mäen, wie  sie  zahlreich  in  Peru  und  an  anderen  Orten 
nachgewiesen  sind. 

3.  In  Europa  mehren  sich  die  Pygmäenfunde;  zeit- 
lich reichen  sie  von  der  neolithischen  Periode  (Schweiz 
etwa  10,000  Jahre  v.  Chr.)  bis  in  unsere  Tage  (Sizilien) 
herein  und  örtlich  sind  sie  über  Sizilien,  die  Schweiz, 
Frankreich  und  Deutschland  an  mehreren  Orten  zer- 
streut gewesen  (nach  Sergi  auch  in  Russland). 

4.  Die  Pygmäen  sind  keine  verkümmerten  degene- 
rierten Abkömmlinge  der  grossen  Rassen,  sondern  ge- 
sunde und  wohlentwickelte  jedoch  kleine  Abarten  des 
Menschengeschlechts. 

5.  Die  systematische  Stellung  zu  den  grossen  Ras- 
sen beruht  in  einer  stammesgeschichtlichen  Verwandt- 
schaft, wobei  die  Pymäen  als  Urrassen  aufzufassen 
sind,  aus  denen  sich  die  grossen  Rassen  entwickelt  haben. 

6.  Die  Nachrichten  der  Alten,  sowohl  der  Natur- 
forscher als  der  Dichter,  über  das  Vorkommen  von 
Pygmäen  an  den  afrikanischen  Sümpfen,  in  denen  man 
sich  den  Ursprung  des  Nil  dachte,  sind  in  der  Haupt- 
sache zutreffend.  In  den  Grabfeldern  Oberägyptens, 
die  aus  der  Urzeit  und  der  Zeit  der  ersten  Dynastien 
stammen,  liegen  Pygmäen  neben  den  grossen  Rassen 
bestattet.  Die  Gräber  gehören  teilweise  der  neolithi- 
schen Periode  an.  Zu  gleicher  Zeit,  wie  am  Schweizers- 
bild bei  Schaffhausen,  lebten  auch  in  Oberägypten  Pyg- 
mäen zusammen  mit  den  grossen  Rassen. 

Basel,  im  Juli  1901. 


116     — 


Literaturnachweise. 


00  Breus  u.  Kolisko.  Die  pathologischen  Becken  formen.  I.  Bd,  1  Teil. 

Leipzig  u.  Wien  1900.   —  Siehe  dort  die  ausgedehnte  Littera- 

tur,  auch  der  Arbeiten  von  R.  Virchow,  Marchand,  Kaufmann  u.  a. 
43  Forster's,  Georg  sämtliche  Schriften.  Vierter  Band.  Leipzig  1843. 

S.  360. 
89  Haeckel,  E.    Natürliche  Schöpfungsgeschichte.    8.  Auflage.  Berlin 

1889.  8°. 
93  Hseckel.  E.     Über  unsere  gegenwärtige  Kenntnis  vom  Ursprung 

des  Menschen.  Vortrag.  Bonn  1898.  8°. 
02  Johnston,  Sir  H.  The  Uganda  Protectorate.  2  vol.  London  1902. 

95  Kollmann,  J.     Verhandlungen  der  Berliner  anthropologischen  Ge- 

sellschaft. Ausserordentliche  Sitzung  v.  14.  Dez.  1895.  Diskus- 
sion über  den  Pithecanthropus  erectus  Dubois.  Siehe  dort  auch 
die  Litteratur. 

01  Kollmann,  J.     Die  Fingerspitzen  aus  dem  Pfahlbau  von  Corcelettes 

(Schweiz)  und  die  Persistenz  der  Rassen  Archivio  per  l'An- 
tropologia  e  l'Etnologia.  Vol.  XXXI  1901.  Festschrift  zur  Ju- 
belfeier der  italienischen  anthropologischen  Gesellschaft. 

99  Lloyd,  A.  B.  In  DwarfLand  and  Canibal  Country.  London  1899. 
Eine  Notiz  in  Journ.  Anthr.  Institut.  London,  Vol.  XXX,  1900. 
}vr.  280  (22). 

01  Maclver,  D.  R.  The  earliest  inhabitants  of  Abydos.  Oxford  1901. 
4°.   Mit  7  photographischen  Tafeln  und  mehreren  Tabellen. 

99  Marchand.  Über  einen  Fall  von  Zwergwuchs.  Sitzb.  der  Ges.  zur 
Beförderung  der  ges.  Naturwissenschaften.  Marburg,  März  1899. 
Siehe  dort  weitere  Litteraturhinweise. 

96  Pétrie,  W.  M.  F.  and  Qu i bei I .  J.  E.  Nequada  and  Ballas.  London. 

Publications  of  the  Egypt  exploration  Fund.  Mit  86  Tafeln. 
Quaritsch  1896.  4". 

00  Pétrie,  W.  M.  F.  with  Griffith,  F.  L.    The  Royal  Tombs.  Publications 

of  the  Egypt  exploration  Fund.  London  1900.  4°.  Mit  67  Taf. 

01  Pétrie,  W.  M.  F.  with  Chapters  by  Mace,  A.  C.  Diospolis  parva.  Pu- 

blications wie  oben.  London  1901.  4".  Mit  48  Tafeln. 
01  Pétrie,  W.  M.  F.  with  Chapter  by  Griffith,  F.  L.    The  Royal  Tombs 
of  the  earliest  Dynasties.   Publications  wie  oben  London  1901. 
4".  Mit  63  Tafeln. 


—     117     — 

01  Pétrie,  W.  M.  F.  The  Royal  Tombs  of  the  earliest  Dynasties.  Lon- 

don 1901.  4".  Ein  Atlas  von  mehr  als  50  Tafeln.  Publications 
wie  oben.  Siehe  ferner  Journal  of  the  Anthropological  Institut 
London  1898—1902.  Ferner  Zeitschrift  für  ägyptische  Sprache 
Bd.  35  mit  Abhandlungen  und  Notizen  von  Sethe,  Spiegelberg 
und  Ermann.  Die  Arbeiten  von  Amélineau.  Les  nouvelles  fouilles 
d'Abydos,  waren  mir  leider  nicht  zugänglich.  Ich  kenne  sie 
nur  aus  einer  Notiz  von  Maspero.  Revue  critique  1897. 

94  Ranke,  J.  Der  Mensch.  2.  Aufl.  2.  Bd.  S.  114  u.  ff.  Leipzig 
und  Wien  1894.  8". 

92  Sarasin,  P.  u.  Fr.  Ergebnisse  naturwissenschaftlicher  Forschungen 
auf  Ceylon.  Bd.  III.  mit  Atlas  von  84  Tafeln.  Wiesbaden 
1892-1893. 

02  Sokolowsky,  A.   Menschenkunde.  Eine  Naturgeschichte  sämtlicher 

Völkerrassen  der  Erde.  1902.    Mit  41  Tafeln.    3.  Aufl.    Union 

Deutsche  Verlagsgesellschaft. 
04  Speke,  J.  H.    Journal  of  the  discovery  of  the  source  of  the  Nile. 

2.  Auflage.  London  1864.  S.  551. 
83  Virchow,  Rud.  Foetale  Rachitis,  Cretinismus  u,  Zwergwuchs.  Arch. 

für  path.  Anat.     Bd.   94.    Berlin  1883.  —  Dort    sind  Hinweise 

auf  die  übrigen  wichtigen  Abhandlungen   desselben  Verfassers 

zu  finden,  die  sich  auf  diese  Frage  beziehen. 
81  Virchow,  R.    Über  die  Weddas  von  Ceylon  u.  ihre  Beziehungen  zu 

den  Nachbarstämmen.     Abhandlungen  der  Berliner  Akademie. 

Berlin  1881.  4°.  Mit  3  Tafeln. 
Reiss  u.  Stübel.    Das  Totenfeld  von  Ancon  in  Peru.   Darin  Abt.  XIV. 

Schädel  von  R.  Virchow.  Berlin.  Folio.  Mit  Tafeln.  108-116. 
01   De  Vries.     Die  Mutationstheorie,    Versuche    und  Beobachtungen 

üb.  die  Entstehung  der  Arten  im  Pflanzenreiche.  Leipzig  1901. 
98  Wortmann,  J.  L.  The  extinct  Gamelidae  of  North-America  and  some 

associated  Forms.  Bulletin  of  the  American  Museum  of  Natural 

History.  Vol.  X.  1898.  8°.   Mit  1  Tafel  und  23  Textfiguren. 
71  Über  Zwergvölker.    Petermanns  Mitteilungen.  17.  Band.   Gotha 

1871.    S.  1S9. 


Marine  Schmarotzer  in  Süsswasserfischen. 


Von 
F.  Zschokke  in  Basel. 


Die  Zusammensetzung  der  Parasitenfauna  eines 
Tiers  wird  durch  zwei  Gruppen  von  Faktoren  geregelt, 
Verhältnisse  der  umgebenden  Aussenwelt  und  Bedin- 
gungen, die  im  bewohnten  Wirt  und  im  Parasiten  selbst 
liegen.  Von  den  äusseren  Momenten  wirkt  besonders 
entscheidend  auf  den  Schmarotzerbestand  eines  Organis- 
mus der  Charakter  der  mit  ihm  lebenden  Tier-  und 
Pflanzenwelt.  Zu  ihr  tritt  der  Parasitenträger  in  un- 
unterbrochene, enge  Wechselbeziehungen,  von  denen 
sich  die  parasitologisch  wichtigsten,  wenn  auch  nicht 
einzigen,  in  der  gegenseitigen  Lieferung  und  Abnahme 
von  Nahrungsmaterial  ausdrücken.  Tier  und  Pflanze 
übertragen  Schmarotzer  auf  Wirte  und  empfangen  von 
ihnen  selbst  wieder  auf  mannigfach  gewählten  Wegen 
Parasitenbevölkerung.  Die  Wechselbeziehung  von  AVirt 
und  Zwischenwirt,  Träger  und  Überträger,  Räuber  und 
Beute  prägt  sich  notwendigerweise  im  faunistischen  Auf- 
bau der  Helmin thenwelt  jedes  Lebewesens  aus. 

Charakter  von  Fauna  und  Flora  hängt  indessen  in 
hohem  Grade  von  äusseren  lokalen  Verhältnissen,  von 
der  Natur  des  bewohnten  Mediums,  seinen  physikalischen 
und  chemischen  Eigenschaften  ab.  Mit  ihnen  wechselt 
von  Ort  zu  Ort  die  Tier-  und  Pflanzenwelt  und  gleich- 


—     119     — 

zeitig  die  sie  begleitende  Schmarotzergesellschaft.  Wie 
jedes  Medium  nur  bestimmten  Organismengruppen  pas- 
sende Heimat  bietet,  beherbergt  auch  seine  Tierbe- 
völkerung  nur  bestimmte,  anderswo  kaum  vorkommende 
Helminthen.  Die  chemischen  und  physikalischen  Be- 
dingungen des  Mediums  üben  so  durch  Ausschluss  und 
Zulassung  von  Wirten  und  Zwischenwirten  indirekt 
einen  tiefen,  auswählenden  Einfluss  auf  den  Stand  der 
Schmarotzerfauna  aus.  Dieselben  äusseren  Verhältnisse 
beeinflussen  die  Parasitenwelt  aber  auch  direkt  in  allen 
jenen  so  äusserst  zahlreichen  Fällen,  in  denen  die  Hel- 
minthen gewisse  Entwicklungsstadien,  Eier,  Embryonen, 
Larven  dem  freien  Medium  anvertrauen.  Von  der 
Aussenwelt  werden  nunmehr  unmittelbar  bestimmte 
chemische  und  physikalische  Bedingungen  gefordert, 
unter  denen  allein  die  betreffende  Helminthenspezies 
sich  entwickeln  kann  und  die  sich  oft  weitgehend  spezia- 
lisieren. So  wurde  früher  gezeigt,  dass  Reichtum  und 
Zusammensetzung  der  Helininthenfauna  im  stehenden 
und  Messenden  Süsswasser  nicht  unbeträchtlich  von 
einander  abweicht.  Die  Differenz  erklärt  sich  zum 
guten  Teil  dadurch,  dass  im  ruhenden  Wasser  die  Jugend- 
stadien mancher  parasitischen  Würmer  sich  frei  zu  ent- 
wickeln vermögen,  während  sie  im  Fluss  oder  Strom 
nicht  gedeihen  (63). 

Es  wird  somit  jede  Parasitenfauna  gewissermassen 
zum  Spiegelbild  der  Biologie  des  Wirts,  seiner  Lebens- 
gewohnheiten und  besonders  seiner  Beziehungen  zu  den 
Geschöpfen,  die  mit  ihm  den  Wohnort  teilen.  Jeder 
Nahrungs-  und  Wohnungswechsel  eines  Tiers  findet 
seinen  Wiederhall  in  Veränderungen  im  Helminthenbe- 
stand. Die  Parasitenbevölkerung  steht  aber  auch  unter 
dem  direkten  und  indirekten  Einfluss  von  Physik  und 
Chemie  der  umgebenden  Aussenwelt. 


—     120     — 

Folgt  so  der  Charakter  parasitischer  Gesellschaften 
äusserem  Drucke,  so  wird  er  nicht  minder  durch  innere, 
im  Wirt  und  Parasiten  selbst  liegende  Verhältnisse  be- 
stimmt. Jeder  Schmarotzer  passt  sich  im  Bau  und  in 
der  Lebensgeschichte  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
seiner  Herberge,  ihren  anatomischen  und  physiologischen 
Bedingungen  an  und  spezialisiert  sich  in  Bezug  auf 
dieselben.  Er  findet  die  zu  seinem  Gedeihen  nötigen 
Voraussetzungen  nur  in  einem,  oder  relativ  wenigen 
Wirtskörpern  realisiert. 

Allerdings  schwankt  der  Grad  der  Anpassungs- 
fähigkeit an  verschieden  gebaute  Wirte  in  weiten  Grenzen. 

Braun  (3)  erwähnt,  dass  oft  nahe  verwandte  Tier- 
arten von  gleicher  Ernährungs-  und  Lebensweise  eine 
recht  verschiedene  Cestodenbevölkerung  beherbergen. 
Phalaerocorax  graculus  und  Lestris  parasitica  z.  B., 
beides  grosse  Eischräuber,  besitzen  keine  Bandwürmer, 
trotzdem  sie  derselben  Beute  nachgehen,  wie  die  nahe- 
stehenden, an  jenen  Gästen  reichen  Lärm-  und  Sterna- 
Arten.  Dieser  parasitologische  Unterschied  dürfte  auf 
einer  Verschiedenheit  der  Verdauungssekrete  von  Phafa- 
crocorax  und  Lestris  gegenüber  Larus  und  Sterna  be- 
ruhen. Im  einen  Fall  würden  die  eingeführten  Band- 
wurmlarven der  Verdauung  erliegen,  im  anderen  nicht. 
Der  physiologischen  Differenz  entspricht  natürlich  auch 
eine  anatomische. 

In  anderen  Fällen  dagegen  dehnt  ein  Parasit  sein 
fannistisches  Verbreitungsgebiet  über  Wirte  sehr  ver- 
schiedener systematischer  Stellung,  d.  h.  sehr  abweichen- 
den Baus  aus.  So  bewohnt,  um  nur  extreme  Vor- 
kommnisse zu  nennen,  das  für  Süsswasserfische  typische 
Cestodengenus  Iclithyotaenia  auch  Amphibien  und  Rep- 
tilien, besonders  Schlangen,  und  gedeiht  der  Bandwurm 
von  Gans  und  Ente,  Drepanidotaenia  lanceolata,  auch 
im  Menschen  (63). 


121 


In  Echinorhynchus  proleas  kennen  wir  einen  Para- 
siten, der  bereits  seine  Zwischenwirte  aus  sehr  weitem 
Kreise  wählt  und  erwachsen  die  verschiedensten  Fische 
von  Meer  und  Süsswasser  besiedelt.  Die  Anoplocepha- 
linen  der  Säuger  kehren,  nach  Fuhrmann  (6),  in  den 
Vögeln  wieder. 

Wie  sehr  übrigens  die  vom  Wirt  selbst  gegebenen 
Bedingungen  auf  die  Zusammensetzung  einer  Parasiten- 
fauna entscheidend  einwirken,  wird  uns  bald  der  Süss- 
wasserfisch  Lola  vulgaris  zeigen.  Er  beherbergt  eine 
Reihe  rein  mariner,  hauptsächlich  den  Gadiden  zukom- 
mender Helminthen.  Trotzdem  Stockfische  und  Trüschen 
in  einem  ganz  verschiedenen  Medium.  Meer  und  Süss- 
wasser, sich  aufhalten,  trotzdem  für  sie  die  äusseren 
Bedingungen  wesentlich  verschiedene  sind  und  ihre 
Lebensweise  und  Nahrung  von  einander  abweicht,  be- 
sitzen sie  doch  einen  gemeinsamen  Bestand  durchaus 
typischer  Helminthen.  Die  nahe  systematische  Verwandt- 
schaft, der  ähnliche  anatomische  Bau  von  Lola  und 
Gadus  drückt  sich  in  entsprechenden,  parasitologischen 
Verhältnissen  aus. 

Zwei  Gruppen  von  Faktoren,  äussere  und  innere, 
legen  somit  Grenzen  für  die  Schmarotzerfauna  biologischer 
und  anatomischer  Organismeneinheiten.  Je  ähnlicher 
im  allgemeinen  in  Bau  und  Lebensgewohnheit  die  Wirte 
werden,  desto  ähnlicher  wird  auch  ihre  Schmarotzerwelt, 
desto  häufiger  treten  ihnen  gemeinsame    Parasiten    auf. 

Es  kann  nicht  auffallen,  dass  der  Parasitenbestand 
der  Vögel  von  demjenigen  der  Fische,  die  Helminthen- 
welt der  Säugetiere  von  derjenigen  der  Reptilien  wesent- 
lich abweicht. 

Sogar  innerhalb  der  grösseren,  systematischen  Ein- 
heiten verbreiten  sich  gewisse  parasitische  Organismen 
nur  über  bestimmte  durch  gemeinsame  Lebensweise  und 


122 

ähnlichen  Bau  umgrenzte  Wirtsgruppen.  So  lassen  sich 
die  schmarotzenden  Würmer  der  Süsswasserfische  im 
allgemeinen  denjenigen  der  Meerfische  entgegenstellen. 
Im  Meer  beherbergt  wiederum  Selacbier  und  Teleosteer 
eine  in  mancher  Hinsiebt  verschiedene  Würmerbevölke- 
rung. Bei  einer  parasitologischen  Untersuchung  von 
257  marinen  Fischen,  die  sich  auf  72  Arten,  20  Selacbier, 
51  Teleosteer  und  1  Ganoiden,  verteilten,  ergab  sich 
ein  bedeutend  überwiegender  Reichtum  an  Schmarotzern 
für  Haifische  und  Rochen  ;  besonders  gehörten  die  Cesto- 
den  last  ausschliesslich  den  Knorpelfischen  an.  Im 
Ganzen  waren  18  Selacbier  und  34  Teleosteer  Para- 
sitenträger; für  sie  gelten  folgende  Einzelzahlen: 


Für  jede  Gruppe  charakteristisch  : 


Infizierte  Fischarten. 

den. 

atoclcn. 

c 
tu 

rs 
© 

hoce- 
en. 

Total, 

o 

E 

cd 

=     c« 

(0 

CS    J= 

e 

s 

o     o. 

o 

h- 

z 

< 

20  Selacbierarten 

27 

4 

3 

0 

34 

51  Teleosteerarten 

6 

12 

17 

1 

36 

Von  96  Exemplaren  der  Selacbier  waren  14,  von 
160  Teleosteern  60  parasitenfrei.  Die  Selacbier  er- 
wiesen sich  von  einer  relativ  viel  grösseren  Arten-  und 
Individuenzahl  von  Schmarotzern  besetzt,  als  die  Tele- 
osteer. Sehr  wenige  Formen  infizieren  gleichzeitig  beide 
Fischgruppen  (58). 

Zu  ähnlichen  Resultaten  gelangte  Lönnberg  (24). 

Die  biologisch  und  anatomisch  verschieden  gestellten 
Fischfamilien  des  Süsswassers,  wie  Cypriniden,  Salmo- 
niden, Barsche,  Hechte,  werden  von  durchaus  typischen 
Helminthen   bewohnt.     Oft    charakterisieren  die  Schma- 


123     — 

rotzer  sogar  Genus  und  Spezies  des  Wirts.  Aus  dem 
Reichtum  und  der  Zusammensetzung  der  Parasitenfauna 
eines  Süsswasserfisches  lässt  sich  erkennen,  ob  der  be- 
treffende Helminthenträger  herbivor  oder  carnivor  ist; 
der  Schmarotzerbestand  verrät  das  Alter  des  Wirts,  er 
lässt  mit  einer  gewissen  Sicherheit  Schlüsse  zu,  über 
die  Natur  seines  Standorts,  Strom,  Bach  oder  See  und 
über  die  Jahreszeit,  in  welcher  er  gefangen  wurde. 

Im  allgemeinen  wird  aber  die  Verbreitung  der  para- 
sitischen Spezies,  wie  des  einzelnen  Individuums,  im 
süssen  Wasser  wieder  durch  die  beiden  Faktorengruppen 
der  Aussenwelt  und  der  Innenwelt  bedingt. 

Gegenwart  und  Abwesenheit  passender  Wirte  und 
Zwischenwirte,  sowie  Lebensgeschichte  und  Organisation 
des  Schmarotzers  selbst  und  des  Wirts  sprechen  ihr 
entscheidendes  Wort  mit.  Die  Notwendigkeit  Eier  oder 
freie  Jugendstadien  dem  Wasser  anzuvertrauen,  bedeutet 
für  manchen  Helminthen  Einschränkung  seines  Ver- 
breitungsbezirks. 

Dass  innerhalb  der  Klasse  der  Fische  gewisse  para- 
sitische Würmer  ihr  durch  Lebensweise  und  Bau  der 
Wirte  begrenztes  Verbreitungsgebiet  wenigstens  schein- 
bar überschreiten  können,  fand  bereits  kurze  Erwäh- 
nung. Einige  Fälle  auffälligen  Vorkommens  von  Schma- 
rotzern in  fremden  Wirten  und  ungewohnten  Medien 
sollen  auch  in  den  folgenden  Zeilen  erwähnt  und  fau- 
nistisch- biologisch  gewürdigt  werden. 

Der  einschneidende  Gegensatz  in  den  Lebensbe- 
dingungen von  Meer  und  Süsswasser,  die  Verschieden- 
artigkeit der  die  beiden  flüssigen  Medien  belebenden 
Fauna,  der  abweichende  Bau  und  die  verschiedene 
Lebensweise  potamophiler  und  mariner  Fische  lässt 
tiefgehende  Unterschiede  in  der  ichthyophilen  Parasiten- 
fauna beider  Bezirke  mit  Recht  erwarten. 


124 


In  der  Fischparasitenfauna  des  Süsswassers  treten, 
um  nur  die  markantesten  Erscheinungen  zu  nennen, 
durchaus  typisch  und  dominierend  die  Cestodengenera 
Tchthyotaenia,  Cyathocephalus,  Caryophyllaeus,  Corallo- 
bothrium,  Triaenophorus  hervor-,  in  den  Salmoniden  lebt 
Abothrium  infündibuliforme,  in  den  Karpfen  regelmässig 
die  Larve  von  Ligula,  in  den  Stichlingen  diejenige  von 
Schistocephalus ;  der  breite  Bandwurm  des  Menschen, 
Dibolhriocephalus  latus,  benützt  ebenfalls  Süsswasser- 
fische  als  Zwischenträger.  Die  Trematoden  liefern,  neben 
zahlreichen  charakteristischen  Distomeen,  wie  Distomum 
globiporum  und  D.  isoporum  für  die  Cypriniden,  die 
Kiemenschmarotzer  Dipbzoon  und  Gyrodaetylus,  die 
Nematoden  stellen  Cncullanus  und  viele  Ascariden,  die 
Acanthocephalen  mehrere  Echinorhynchen.  Letztere  sind 
wieder  besonders  häufig  in  der  rein  potamophilen  Gruppe 
karpfenartiger  Fische. 

Dagegen  umfasst  die  Schmarotzerfauna  mariner 
Fische,  abgesehen  von  charakteristischen  Acanthocephalen 
und  Nematoden,  eine  Fülle  nur  ihr  eigener  ektopara- 
sitischer  Trematoden.  Auch  die  Distomeen  finden  reiche 
Vertretung.  Ganz  besonders  bestimmend  und  faunistisch 
umschreibend  aber  stellen  sich  die  Cestoden  ein.  Ihre 
Repräsentanten  im  Meer  sind  viele  typische  Bothrio- 
cephaliden  ;  die  grosse  Majorität  der  Ordnung  der 
Tetraphylliden  mit  den  umfangreichen  Familien  der 
Onchobothriiden ,  Phyllobothriiden  und  Lecanicephaliden. 
Sie  alle  fehlen  im  Süsswasser  vollkommen.  Dasselbe 
gilt  von  der  Ordnung  der  Diphyllideen  und  Trypano- 
rhynchen. 

Die  letzteren  spielen  in  der  Parasitenwelt  der 
marinen  Fische  durch  weite  Verbreitung,  massenhaftes 
Auftreten  und  weitgehende  Spezialisierung  des  Haft- 
apparats    eine    überaus    wichtige     Rolle.      Ihr    Scolex 


—     125     — 

zerfällt  in  Kopf-  und  Kopfstiel  und  trägt  neben  zwei 
oder  vier  ßothridien,  vier  mit  Hacken  stark  bewehrte, 
rückziehbare  Rüssel. 

Im  Larvenzustand  leben  die  Trypanorhynchen  als 
„Tetrarhynchlts"  eingekapselt  in  sehr  verschiedenen 
marinen  Tieren.  Bevorzugt  werden  die  Knochenfische, 
doch  sind  die  Parasiten  auch  in  Cephalopoden  nicht 
selten.  Sie  finden  sich  ferner  in  dekapoden  Krebsen, 
in  Meerschildkröten  und  sogar  in  Polychaeten.  Auch 
die  Selachier  beherbergen  hin  und  wieder  Larven  von 
Trypanorhynchen,  doch  scheint  es  sich  in  diesen  Fällen 
um  verirrte,  auf  den  unrichtigen  Zwischenwirt  geratene 
Exemplare  zu  handeln.  Manche  Tetrarhynchen  be- 
wohnen gleichzeitig  die  verschiedensten  Fische;  F.  bi- 
sulcatus  Linton  parasitiert  sogar  gleichzeitig  in  Teleo- 
steern  und  Cephalopoden.  Oft  erweist  sich  derselbe 
Fisch  von  mehreren  —  bis  6  -  -  Tetrarhynchen  -  Arten 
besetzt.  Die  angedeuteten  Verhältnisse  mögen  durch 
einige  Zahlen  näher  beleuchtet  werden. 

v.  Linstow's  Compendium  nennt  als  Herberge 
von  Tetrarhynchen  in  der  Larvengestalt  82  Knochen- 
fische, 14  Selachier,  5  Cephalopoden,  eine  Schildkröte, 
die  Schnecke  Tethys  fimbriata  und  den  Polychaeten 
Aphrodite  aculeata.  In  dem  letztgenannten  Tier  er- 
wähnt bereits  Redi  den  Schmarotzer  im  Jahr  1684. 

Nach  der  grossen  Arbeit  Vaullegeards  (56) 
verteilen  sich  59  Spezies  von  Tetrar hynchus  auf  53 
Teleosteer,  15  Selachier,  2  Cephalopoden,  Chelonia  mi- 
das  und  Aphrodite.  Ausserdem  entdeckte  V  a  u  11  e  g  e  a  r  d 
den  meistens  in  MustelllS  vulgaris  zur  Strobila  an- 
wachsenden Tetrarhynchus  ruficollis  Eisenhardt  in  der 
Leber  und  Leibeshöhle  von  9  kurzschwänzigen  Deka- 
poden (55).  Die  Neapler  Fische  lieferten  mir  11  Wirte 
—  ausschliesslich  Selachier  —  und  12  Zwischenwirte 
von  Tetrarhynchen  (58). 


—     126     — 

Im  reiten  Strobilazustand  bevölkern  die  Trypano- 
rhynchen massenhaft  den  Darm  der  Plagiostomen,  viel 
seltener  und  wahrscheinlich  wieder  nur  verirrt,  denjenigen 
der  Teleosteer. 

Vaullegeard  nennt  als  Hauptwirte  32  Rochen 
und  Haifische  neben  nur  2  Knochenfischen,  v.  L  i  n  s  t  o  w 
33  Selachier,  5  Teleosteer  und  den  Cephalopoden  Loligo 
vulgaris  (11,  12).  Raja  elavata  allein  besitzt  unter 
seinen  Parasiten  acht  Arten  von  Trypanorhynchen  als 
Strobilae.  Im  Kettenzustand  sind  die  Würmer  auf  eine 
Reihe  von  Gattungen  —  Rhynchobothrium,  Dibothrio- 
rhynckus,  Telrarhunchobotlirium,  Synbothrium  etc.  — 
verteilt  worden. 

Die  Wichtigkeit  der  Trypanorhynchen  für  die  marine 
Parasitologie  hat  sich  aus  den  angeführten  Daten  so- 
fort ergeben. 

Im  süssen  Wasser  werden  diese  Schmarotzer  be- 
deutungslos. Sie  gelangen  etwa  in  die  Ströme  durch 
den  Transport  in  Wanderfischen.  Erst  in  neuester 
Zeit  aber  konnte  ich  ihr  freilich  überaus  seltenes  Vor- 
kommen in  reinen  Süsswasserfischen  feststellen.  Es 
handelt  sich  dabei  in  allen  Fällen,  bei  wanderndem  und 
stationärem  Fisch  des  Süsswassers,  um  eingekapselte 
Larven,  also  Tetrarhynchen.  Reife  Strobilae,  Rhyncho- 
bothrien,  sind  im  Strom  und  See  bis  heute  unbekannt 
geblieben. 

Van  Beneden  (54)  führt  zuerst  die  Trüsche, 
Lota  vulgaris,  unter  den  Wirten  von  Tetrarlnjuchus  an. 
In  demselben  Fisch  aus  dem  Genfersee  traf  ich  später 
ebenfalls  Tetrarhynchencysten  ;  als  weiteren  Wirt  von 
Tetrar II y nchus  kann  ich  den  rein  potamophilen  Wels, 
Silurus  glanis,  des  Bielersees  nennen.  Die  Fälle  vom 
Vorkommen  der  betreffenden  Parasiten  in  Süsswasser- 
fischen sollen  weiter  unten  eingehende  Würdigung  finden. 


—     127     — 

Unter  den  Wanderfischen ,  die  zwischen  Meer 
und  Süsswasser  regelmässig  wechseln,  bieten  besonders 
Lachs  und  Aal  mehreren  Arten  von  Tetrarhynchen 
Herberge. 

Lässt  sich  somit  die  Parasitenwelt  mariner  und 
potamophiler  Fische  durch  eine  faunistische  Schranke 
ziemlich  scharf  von  einander  trennen,  so  fehlt  es  doch 
nicht  an  Wirten,  welche  die  Elemente  beider  Helminthen- 
faunen in  ihrem  Körper  vereinigen.  Als  solche  para- 
sitologische  Bindeglieder  zwischen  Meer  und  Süsswasser 
dokumentieren  sich  die  Wanderfische.  Sie  schleppen 
marine  Parasiten  in  Fluss  und  See  und  tragen  Schma- 
rotzer der  Süsswasserfische  in  das  Meer  hinaus. 

Stör,  Maifisch  und  Finte  besitzen  in  ihrem  Hel- 
mintheninventar deutliche  marine  Beimengungen.  Im 
Aal  mischen  sich  parasitische  Würmer  aus  dem  Meer 
und  dem  Süsswasser  mit  Elementen,  die  nur  dem  Wander- 
fisch angehören.  Von  seinen  48  Helminthen  verbreiten 
sich  17  ganz  oder  vorzugsweise  in  meerbewohnenden 
Fischen.  Allerdings  wechselt  der  Charakter  des  Para- 
sitenbestands je  nach  dem  momentanen  Aufenthaltsort 
des  Fischs.  So  fand  Lin  ton  (20)  im  Meer  erbeutete 
Exemplare  von  Anguilla  hauptsächlich  mit  marinen  Para- 
siten besetzt.  Sie  beherbergten  folgende  für  Meerfische 
typische  Schmarotzer:  Agamonema  capsiilaria,  Ecliino- 
rhynchus  agilis,  Rhynchobothriwm  heterospine,  R.  im- 
parispine,  R.  bulbifer,  R.  spec,  Scolex  polyrnorphus, 
Distornum  grand iporum  und  D.  vitellosum.  Mitten  in 
dieser  marinen  Gesellschaft  aber  erscheint  ein  Ver- 
treter des  für  Süsswasserfische  so  ungemein  bezeichnen- 
den Genus  Ichthyotaenia,  1.  dilntata,  und  Eclüno- 
rhynchus  globulosus,  der  im  Süsswasser  24,  im  Meer 
keinen  einzigen  Wirt  zählt.  Beide  Würmer  stellen  sich 
offenbar  als  sekundärer   Import   in  das    Salzwasser  dar. 


—     128 

Parasitologisch  ganz  besonders  lehrreich  verhält  sich, 
nach  früheren,  ausführlichen  Darstellungen  (59,  60),  der 
grosse  und  kräftige  Raub-  und  Wanderfisch  Salmo  salar. 
In  der  lokal  und  temporal  sich  verändernden  Zusam- 
mensetzung seiner  Parasitenfauna  spiegelt  sich  nicht 
nur  die  Gewohnheit  weiter  Wanderungen  wieder,  sie 
spricht  auch  deutlich  für  den  Umstand,  dass  der  Lachs 
in  den  verschiedenen  Strömen  ein  recht  verschiedenes 
Nahrungsregime  befolgt.  Mit  Schmarotzern  reich  be- 
laden tritt  Salmo  salar  seine  Reise  in  das  süsse  Wasser 
an.  Er  verliert  im  Laufe  seiner  Wanderung  mehr 
und  mehr  diejenigen  Parasiten,  welche  den  offenen 
Darmkanal  unterhalb  des  Pylorus  bewohnen.  Immer- 
hin hat  der  Rheinlachs  auch  bei  Basel  noch  als  eine 
ungemein  reiche  Helminthenherberge  zu  gelten.  Er 
und  der  Maifisch,  die  grossen  Wanderer,  führen  eine 
ganz  fremde  Schmarotzerwelt  in  den  Rhein  ;  von  ihren 
20  Helminthen  sind  den  Fischen  des  genannten  Stroms 
sonst  17  fremd.  Die  im  fliessenden  Wasser  aus  schon 
angedeuteten  Gründen  wenig  reich  entfaltete  Fauna 
parasitischer  Würmer  erfährt  im  Oberlauf  des  Rheins 
durch  das  Eintreffen  von  Alosa  und  Salmo  eine  Stei- 
gerung von  2/5  der  Spezieszahl. 

Die  faunistische  Wichtigkeit  dieses  Helminthen- 
imports wird  ganz  besonders  dadurch  erhöht,  dass  der 
Rheinlachs  eine  ausschliesslich  marine  Parasitenwelt 
trägt.  Der  Charakter  seiner  gesamten  Wurmbevöl- 
kerung deckt  sich  mit  demjenigen  der  Helminthenge- 
sellschaft irgend  eines  grösseren  Meerfisches.  Marine 
Vertreter  der  Gattungen  Ascaris,  Echinorhynchus  und 
Distomutn,  daneben  besonders  aber  auch  zahlreiche 
Tetrarhynchen ,  drücken  der  Rheinlachsfauna  durch 
massenhaftes  und  weitverbreitetes  Auftreten  den  charak- 
teristischen Stempel  auf;  reine  Süsswasserparasiten  fehlen 


129 


ihr  ganz.  So  erhält  die  Schmarotzergesellschaft  der 
Rheinfische  überhaupt  einen  eigentümlichen  Anstrich. 
In  diesen  parasitologischen  Verhältnissen  spricht  sich 
die  biologische  Thatsache  aus.  dass  der  im  Rhein  auf- 
steigende Lachs  fastet.  Mit  dem  Wegfall  der  Nahrung 
schliesst  sich  im  Süsswasser  auch  die  Invasionspforte 
für  parasitische  Würmer. 

Ahnlich  wie  im  Rhein  lebt  der  Lachs  in  der  Elbe; 
er  nimmt,  nach  F  ritsch  (5),  auch  in  diesem  Strom 
bis  zur  Laichablage  absolut  keine  Nahrung  auf.  Dem 
entspricht  wieder  der  rein  marine  Charakter  der  Para- 
sitenbevölkerung des  Elbelachs.  Häufig  tritt  Tetra- 
rhynchus  macrobothrius  v.  Sieb,  auf,  daneben  erscheint 
die  für  Meerfische  so  charakteristische  Cestodenlarve 
Scolex  polyworphus. 

Anders  dagegen  verhalten  sich  die  aus  der  Ostsee 
in  die  Flüsse  aufsteigenden  Lachse.  Sie  ernähren  sich 
im  Süsswasser  reichlich  und  fügen  so  zu  ihren  marinen 
Parasiten  potamophile  Formen.  In  der  Ostsee  bleiben 
dem  Lachs  wenigstens  diejenigen  auf  der  Reise  in  das 
süsse  Wasser  erworbenen  Schmarotzer,  die  geschlossene 
Organe  bewohnen.  Verhält  sich  also  der  Rheinlachs 
in  Bezug  auf  seine  Schmarotzer  wie  ein  Meerfisch,  so 
beherbergt  dagegen  der  Lachs  aus  der  Ostsee  eine  aus 
marinen  und  potamophilen  Elementen  gemischte  Hel- 
minthengesellschaft. 

Im  Tay  überwiegt  in  der  Parasitenfauna  von  Salmo 
salar  an  Menge  und  Häufigkeit  der  marine  Bestandteil  ; 
doch  weist  die  Gegenwart  einiger  Gäste  von  Süss- 
wasserfischen  darauf  hin.  dass  der  Lachs  im  schottischen 
Fluss  die  Nahrung  nicht  ganz  verschmäht. 

Die  Wanderfische  erscheinen  uns  somit  als  fau- 
nistische  Vermittler  zwischen  Meer  und  Süsswasser.  Sie 
tragen    typische    Parasiten    von    dem    einen  Medium    in 

lJ 


—     130     — 

das  andere  und  sorgen  besonders  dafür,  dass  im  flies- 
senden Wasser,  Strom  und  Fluss,  dessen  Bedingungen 
nur  eine  massige  Entfaltung  der  Helminthenwelt  ge- 
statten, die  parasitischen  Würmer  reichere  Vertretung 
rinden. 

Im  neuen  Medium,  Meer  oder  Süsswasser.  wird 
der  eine  oder  andere  durch  die  Wanderer  importierte 
Schmarotzer  günstige  Entwicklungsbedingungen  und  be- 
sonders die  nötigen  neuen  Wirte  und  Zwischenwirte 
finden.  Das  führt  zu  einer  dauernden  Bereicherung  der 
marinen  und  potamophilen  Fauna.  Die  Parasitenwelt 
von  Meer  und  Süsswasser  erweitert  ihr  Gebiet,  indem 
sie  sich  gleichzeitig  vermischt  und  durchdringt 

Für  diese  Vermischung  wurden  in  früheren  Arbeiten 
(59,  60,  62)  zahlreiche  Beispiele  angeführt.  Reine  Meer- 
parasiten, wie  Ascaris  clavata,  Echiitorhynchus  actis, 
Dislomwm  varicum,  D.  appendimdatiim ,  schmarotzen 
auch  in  einzelnen  Süsswasserfischen,  während  Echiuo- 
rhynchus  pmteus,  E.  angustaius,  E.  tuberosus,  Triaeno- 
pliorus  nodulosus  u.  a.  m.  sekundär  im  Meer  passende 
Herberge  finden.  Besonders  auffallend  ist  die  Angabe 
Rudolphis,  dass  der  rein  marine  Schmarotzer  Scolex 
polymorphes  auch  im  Süsswasserfisch  Cottus  gobio 
vorkomme.  Denselben  Cestoden  fand  Frit  seh,  be- 
gleitet von  Distomum  varicum  und  Ascaris  clavata,  im 
Darm  von  jungen  Lachsen,  welche  den  Oberlauf  der 
Elbe  noch  nie  verlassen  hatten.  Es  setzen  diese  Funde 
voraus,  dass  auch  die  ausgewachsene  Kettenform  von 
Scolex  polymorphus,  das  in  Selachiern  parasitierende 
Galliobothrium ,  gelegentlich  in  die  Flüsse  verschleppt 
werde. 

Über  das  gegenseitige  Verhältnis  der  Parasiten- 
fauna mariner  und  potamophiler  Fische  mag  auch  die 
folgende  Betrachtung  der  Helminthen    von    zwei   reinen 


—     131     — 

Süsswassertieren,  Trüsche  und  AVels,  Lotet  vulgaris  und 
Silurus  glanis,  aufklären.  Von  ihnen  zählt  Lota  noch 
nahe  Verwandte,  die  Gadiden,  im  Meer,  während  Silur  n 
auf  stehende  und  seichte  Süsswasser  beschränkt  ist  ohne 
mit  Meerfischen  in  verwandtschaftlichen  Beziehungen 
zu  stehen.  Der  engere  oder  weitere  Zusammenhang 
mit  marinen  Angehörigen  drückt  sich  auch  in  der  fau- 
nistischen  Zusammensetzung  der  Parasitenwelt  beider 
in  Betracht  fallenden  Fische  aus.  Daneben  wird  sich 
ergeben,  dass  das  Vorkommen  von  Meerschmarotzern 
im  Süsswasser  nicht  allein  auf  die  Einschleppung  durch 
die  grossen  Wanderer  erklärt  werden  kann.  Die  Gegen- 
wart dieser  fremden  Elemente  in  den  Fischen  von 
»See  und  Fluss  scheint,  wenigstens  in  manchen  Fällen, 
auf  alte,  direkte  Einfuhr  zurückzuführen  zu  sein,  die 
sich  vollzog,  als  der  Wirt  selbst  aus  dem  Meer  all- 
mählich in  das  süsse  Wasser  überging. 

Zur  Aufstellung  des  parasitologischen  Inventars  von 
Lota  und  Silurus  diente,  in  Ergänzung  des  von  L  i  n- 
stow'schen  Compendiums  der  Helminthologie  und  des 
Nachtrags  dazu  (11,  12),  die  umfangreiche  neuere  Litte- 
ratur  über  Fischparasiten,  besonders  die  Arbeiten  von  : 
Ariola  (1),  Braun  (2),  Hausmann  (7),  Jaquet 
(8),  Kr  a  einer  (9),  Largaiolli  (10),  v.  Lin  stow 
(13—15),  Linton  (16—20),  Lönnberg  (21—24), 
Matz  (25),  Monticelli  (26—28),  Müh  lin  g  (29),  C. 
Parona  (80,  31),  Piesbergen  (32).  Pratt  (35), 
Prenant  (36),  v.  Ratz  (37),  Riggenbach  (38),  G. 
Schneider  (39),  Srarnek  (40),  Stiles  (41), 
S  tos  sich  (42  —  53)  und  Zschokke  (57—63).  Für 
Lota  vulgaris  Hess  sich  so  die  folgende,  stattliche  Para- 
sitenliste gewinnen. 


—     132     — 


Parasitische  Würmer  von  Lota  vulgaris. 


Name. 

Zahl  der  Wirte. 

Süsswasser- 

Heer- 

Wander- 

Total. 

Fische. 

Fische. 

Fische. 

Nematodes. 

1. 

Ascaris  mucronata 

Schrank, 

4 

0 

0 

4 

2. 

Ascaris  tenuissima  Rud., 

1 

1 

0 

2 

3. 

lotae  Linst., 

1 

0 

0 

1 

4. 

—       acus  Bloch, 

10 

9 

3 

15 

5. 

—       capsularia  Rud  , 

2 

55 

3 

60 

6. 

Cucullanus  elegaus  Zeel., 

13 

0 

5 

18 

7. 

Trichosoma  brevispi- 

culum  Linst., 

2 

0 

0 

2 

8. 

Agamouema  bicolor 

Dies,        .... 

4 

0 

1 

5 

Acanthoce- 

9. 

Echinorhynchus  globu- 

phala. 

losus  Rud., 

24 

0 

1 

25 

10. 

—     tuiierosus  Zed.,    . 

9 

2 

1 

12 

11. 

—     angustatus  Rud., 

20 

8 

2 

30 

12. 

—     proteusWestrumb, 

37 

19 

8 

64 

13. 

—     acus  Rud., 

3 

37 

0 

40 

14. 

—     borealis  Linst.,     . 

1 

0 

0 

1 

15. 

—     clavaeeeps  Zed., 

17 

0 

2 

19 

16. 

spec.  Zschokke,    . 

1 

0 

Ö 

1 

Trematodes 

.17, 

Distomum  tereticolle 

Rud.,     .       .       . 

10 

0 

3 

13 

18. 

—     simplex  Olss.        .  . 

1 

10 

1 

12 

19. 

Apoblema    appendicula- 

tum  Rud., 

5 

60 

8 

73 

20. 

(iasterostomum    fimbria- 

tum  v.  Sieb.,    . 

8 

0 

1 

9 

21. 

Diplostomum   volvens  v. 

Nordm., 

8 

0 

0 

8 

22. 

Dipluzoon  paradoxum  v. 

Nordm., 

14 

0 

0 

14 

Cestodes. 

23. 

Abothrium  rugosum  Rud., 

1 

11 

1 

13 

24. 

—       iniundibuliforme 
Rud.,    .... 

12 

1 

5 

18 

25. 

Dibothriocephalus  latus L., 

7 

0 

1 

8 

26. 

Triaenophorus  nodulosus 

Rud 

IG 

3 

3 

22 

27. 

(  yathoeephalus  trunca- 

tus  Pallas, 

9 

0 

2 

11 

28. 

Ichthyotaenia  ocellata 

Rud.,       .       .       . 

12 

1 

0 

13 

29. 

—     torulosa  Ratsch,  . 

15 

0 

0 

15 

30. 

Tetrarhynchus  erinaceus 

van  Ben.,    (Larva). 

1 

19 

1 

21 

31. 

Cysticercus  fallax  Olss., 

1 

0 

0 

1 

138 


Lola  vulgaris  bietet  somit  einer  grossen  Zahl  para- 
sitischer Würmer  Herberge;  aus  ihren  verschiedenen 
Organen  sind  acht  Nematoden,  acht  Acanthocephalen, 
sechs  Trematoden  und  neun  Cestoden  bekannt  geworden. 

Die  faunistische  Zusammensetzung  der  Schmarotzer- 
welt des  Fischs,  der  im  süssen  Wasser  allein  eine  grosse 
Gruppe  rein  mariner  Verwandter  vertritt,  verdient  in 
einiger  Hinsicht  nähere  Beachtung.  Die  Helminthen- 
fauna besteht  aus  recht  verschiedenen  Elementen.  Eine 
erste  Gruppe  bilden  die  parasitischen  Würmer,  welche 
bis  heute  einzig  in  Lola  gefunden  worden  sind,  die  also 
einstweilen  als  typische  Gäste  der  Trüsche  betrachtet 
werden  können.  Ihre  Zahl  ist  gering;  ausser  Ascaris 
lolae  Linst,  gehören  hieher  nur  zwei  Kratzer,  Echino- 
rhgnchus  borealis  Linst,  und  eine  nicht  näher  benannte 
Art  derselben  Gattung,  sowie  die  Cestodenlarve  Cysti- 
cercus fallax. 

An  Artenzahl  tritt  weit  bedeutungsvoller  das  zweite 
Element  hervor,  Parasiten,  die  ganz  oder  fast  ganz  auf 
Wirte  aus  dem  süssen  Wasser  beschränkt  bleiben.  Sie 
stempeln  Lola  auch  parasitologisch  zum  reinen  Süss- 
wasserbewohner.  Einige  schmarotzen  auch  in  Wander- 
fischen, nur  wenige  suchen  in  durchaus  vereinzelten 
Fällen  marine  Wirte  auf. 

Als  ausschliessliche  Süsswassertiere  müssen  unter 
den  Vertretern  der  zweiten  Gruppe  Ascaris  mucronata, 
Trichosoma  brevispiculum,  Diplostomum  volvens,  Diplo- 
zoon  paradoxum  und  Iclrfliyotamia  torulosa  betrachtet 
werden  ;  ebenso  rein  potamophilen  Charakter  besitzen 
aber  auch  die  Würmer,  welche  ihren  Wohnbezirk  auf 
Wanderfische  wie  Lachs,  Stint,  Schnäpel,  Aal  ausge- 
dehnt haben.  Es  sind  dies  Cucullanus  elegans,  Aga- 
monema  bicolor,  Ecliinorhynchus  globulosus,  E.  clavac- 
ceps,  Distomum   lereticolle,  Gasterostomum   fimbriatum, 


134     — 

Cyathocephalus  truncatus  und  der  breite  Bandwurm. 
Dibothriocepheihis  latus,  im  Larvenzustand.  Endlich 
zählen  zur  zweiten  Abteilung  zwei  sehr  charakteristische 
Schmarotzer  zahlreicher  Süsswasserfische,  von  denen  jeder 
einmal  in  einem  marinen  Wirt  angetroffen  wurde:  Abo- 
thrium  infundibuliforme  in  Motella  muslela  und  Jch- 
thyotaenia  ocellata  in  Sebastes  norvégiens.  Die  zweite 
Kategorie  von  Schmarotzern  aus  Lota  umfasst  eine 
Grosszahl  von  Formen,  die  durch  weite  Verbreitung  in 
zahlreichen  Wirten  und  oft  durch  massenhaftes  Auf- 
treten die  Parasitenfauna  der  Süsswasserfische  gerade- 
zu charakterisieren.  Es  genüge  in  dieser  Hinsicht 
folgende  Namen  zu  nennen:  Cucullanus  elegans,  Echino- 
rhyiiehvs  globulosus,  E.  claceieceps,  Distomum  tereticolle, 
Gasterostomwm  fimbriatum,  Diplozoon  paraeloxum,  Di- 
plostomum  volvens,  lehthyotaenia  torulosa,!.  ocellata,  Abo- 
thrium  infundibuliforme  und  Cyathocephalus  truncatus. 

Erwähnenswert  ist  auch  die  Thatsache,  dass  in  der 
Trüsche  die  parasitischen  Würmer  der  verschiedensten 
Familien  von  Süsswasserfischen  zusammentreffen.  Die 
Cypriniden  senden  in  den  Darmkanal  von  Lota  ihre 
typischen  Gäste  Echinorhynchus  glohulosus,  E.  clavaeceps 
und  lehthyotaenia  torulosa,  auf  die  Kiemen  Diplozoon 
paradoxum  \  die  Salmoniden  liefern  Cyathocephalus  trun- 
catus und  das  für  ihre  Abteilung  so  charakteristische 
Abothrium  infundibuliforme >■  ;  dazu  gesellt  sich  Aga- 
moneiua  bicolor  aus  den  Barschen  und  Distomum  tere- 
ticolle des  Hechtes.  Die  Parasitenfauna  von  Lota  um- 
fasst so  die  wichtigsten  Elemente  der  in  Süsswasser- 
fischen überhaupt  lebenden  Schmarotzerwelt. 

Als  dritter  Bestandteil  der  in  Lota  parasitierenden 
Tiergesellschaft  könnten  Würmer  betrachtet  werden,  die 
bei  weiter  Verbreitung  in  Wirten  des  Süsswassers  gleich- 
zeitig in  mehreren  Meerfischen  zu  Hause  sind.    Zu  dieser 


—     135     — 

Kategorie  wären  zu  rechnen:  Ascaris  temässima,  A.  acus, 
Echinorhynckus  angustatus,  E.  proteus,  E.  tuber  onus 
und  Triaenophorus  nodulosus.  Alle  genannten  Formen 
machen  faunistisch  den  Eindruck  reiner  Süsswassertiere, 
denen  es  gelungen  ist,  ihren  Wirtskreis  allmählich  in 
mariner  Richtung  auszudehnen.  Dabei  spielten  wohl 
die  Wanderfische ,  in  denen  die  fraglichen  Parasiten 
ebenfalls  nicht  selten  sind,  eine  vermittelnde  Rolle- 
Eine  Ausnahmestellung  nimmt  Ascaris  temässima  ein. 
Sie  bewohnt  einzig  Lota  und  ihren  marinen  Verwandten 
Merlangus  vulgaris.  So  dürfte  es  schwer  sein  zu  ent- 
scheiden, ob  die  ursprüngliche  Heimat  des  Nematoden 
im  Meer  oder  Süsswasser  liege. 

Ascaris  acus  gehört  dagegen  zum  typischen  Para- 
sitenbestand von  Hecht  und,  als  eingekapselte  Larve, 
von  zahlreichen  Cypriniden;  erst  durch  Lachs  und  Mai- 
fisch dürfte  sie  auf  die  marinen  Wirte  Betone  acus  und 
Clupea  harengus  übertragen  worden  sein.  Ahnliches 
gilt  wohl  von  dem  in  zahlreichen  und  verschiedenen 
Süsswasserfischen  erwachsen  und  larvär  schmarotzenden 
Bandwurm  Triaenophorus  nodulosus.  Er  bewohnt  auch 
wandernde  Salmoniden  und  verdankt  ihnen  den  nur 
selten  beobachteten  Import  in  die  Meerfische  Betone 
acus,  Ptatessa  flesus  und  Hippocampus  guttatus.  Kaum 
anders  liegen  die  Verhältnisse  für  die  drei  Acanthoce- 
phalen,  Echinorhgnchus  luberosus,  E.  angustatus  und 
E.  proteus.  Besonders  die  beiden  letztgenannten  Arten 
gemessen  in  den  allerverschiedensten,  rein  potamophilen 
Fischen  eine  so  weite  Verbreitung,  dass  sie  geradezu 
als  charakteristische  Bestandteile  der  Süsswasserfauna 
angesehen  werden  müssen.  Sie  stellen  sich  aber  auch 
in  Wanderfischen  ein  und  haben  eine  weitere  Heimat 
in  einer  nicht  unbeträchtlichen  Zahl  von  systematisch 
recht  verschieden  gestellten  Meerfischen  gefunden.    Echi- 


—     136     — 

norhynchus  tuberosus bewohnt  neben  seinen  regelmässigen 
Wirten  —  Cypriniden,  Hecht,  Trüsche,  Barsch,  Stich- 
ling  —  den  Wanderer  Aal  und  selten  die  marinen 
Fische  Belone  acus  und  Rhombus  maximus. 

Die  Parasitenfauna  von  Lota  vulgaris  fügt  sich  nach 
allem,  was  bis  jetzt  auseinandergesetzt  wurde,  aus  zahl- 
reichen Süsswassertieren  zusammen,  von  denen  manche 
eine  mehr  oder  weniger  weitreichende  Expansionsfähig- 
keit in  der  Richtung  des  Meeres  besitzen. 

Dazu  gesellt  sich  indessen  ein  weiteres,  fremdes 
Element:  Schmarotzer  von  marinem  Habitus.  Sie  kommen 
in  anderen  Süsswassertieren  entweder  gar  nicht  vor  — 
Distomum  Simplex,  Abothrium  rugosum,  Tetrarhynchus 
ecrinaceus  —  oder  schmarotzen,  ausser  in  Lota.  nur 
noch  in  ganz  wenigen  potamophilen  Fischen  —  Ascaris 
capsularia,  Apoblema  appendiculatum,  Eehinorhynchm 
acus.  Alle  diese  dem  Süsswasser  so  fremden  Geschöpfe 
verbreiten  sich  dagegen  sehr  ausgiebig  in  marinen  Wirten  ; 
sie  sind  somit  wohl  geeignet,  der  Parasitenfauna  von 
Lota  vulgaris  ein  durchaus  eigenartiges  Gepräge  zu 
geben.  Wichtig  ist  auch  die  Thatsache,  dass  mehrere 
der  betreffenden  marinen  Schmarotzer  in  den  zwischen 
Süsswasser  und  Meer  faunistisch  und  biologisch  ver- 
mittelnden Wanderfischen  nicht,  oder  nur  selten  auf- 
treten. 

Über  die  Verbreitung  der  einzelnen  Parasiten  marinen 
Charakters  von  Lota  vulgaris  liegen  folgende  Daten 
vor.  Ascaris  capsularia  lebt  eingekapselt  in  den  ver- 
schiedensten Meerfischen.  Im  Süsswasser  parasitiert 
sie  in  Trüsche  und  Hecht,  ausserdem  ist  der  Parasit 
bekannt  aus  den  Wanderfischen  Stör,  Lachs  und  Mai- 
iisch.  Sehr  wahrscheinlich  werden  indessen  unter  dem 
Namen  A.  capsularia  die  Larven  verschiedener  Nema- 
toden zusammengefasst,    so    dass   aus    dem  Vorkommen 


—     137     — 

dieser  offenbar  aus  mehreren  Formen  zusammengesetzten 
Art  faunistische  Schlüsse  kaum  gezogen  werden  können. 

Echinorhynchus  actis  gehört,  neben  zahlreichsten 
marinen  Wirten,  drei  Süsswasserbewohnern,  Hecht,  Wels 
und  Trüsche,  an.     Er  fehlt  den  Wanderfischen. 

Distomum  simplex  parasitiert  im  süssen  Wasser  nur 
in  Lota  ;  im  Meer  bewohnt  der  Trematode  eine  grössere 
Zahl  systematisch  ziemlich  weit  auseinanderliegender 
Teleosteer;  er  wurde  auch  in  Anguil/a  vulgaris  gefunden. 
Von  Apoblema  appendiculatum  bemerkt  Monticelli,  dass 
es  häufig  in  sehr  vielen  und  sehr  verschiedenen  Fischen 
lebe  und  von  allen  Angehörigen  des  alten  Genus  Disto- 
mum die  weiteste  zoologische  Verbreitung  besitze.  Es 
werden  für  den  Wurm  etwa  60  marine  Wirte  aufge- 
zählt; er  besiedelt  aber  auch  den  Darm  von  acht  Wander- 
fischen und  ist  vielleicht  von  ihnen  aus  in  seine  Wirte 
im  süssen  Wasser,  Barsch,  Trüsche,  Forelle,  Hecht, 
Stichling  vorgedrungen.  Unter  allen  Umständen  erweist 
sich  A.  appendiculatum  als  sehr  anpassungsfähig  an 
Wirte  heterogener  Lebensweise  und  verschiedenen  Wohn- 
orts, wenn  auch  manche  Angaben  über  sein  Vorkommen 
der  Nachprüfung  bedürfen.  Abotlrrium  rugostim  ist  der 
typische  Parasit  der  marinen  Gadiden;  er  findet  sich 
kaum  in  Fischen  anderer  Familien.  So  kann  seine 
Gegenwart  im  Stockfisch  des  süssen  Wassers,  Lota  vul- 
garis, kaum  überraschen.  Vereinzelt  kommt  Abothrium 
in  Salmo  salar  vor. 

Das  auffallendste,  faunistische  Faktum  indessen  bildet 
das  Vorkommen  von  Tetrarhgnchas  erinaceus  im  Süss- 
wasser.  Damit  erhält  eiue  grosse  und  relativ  hoch  spe- 
zialisierte Cestodengruppe.  die  Trypanorhyncha,  die  sonst 
durchaus  auf  marine  Fische  beschränkt  bleibt,  eine  pota- 
mophile  Vertretung.  Telrarlnjnvlius  erinaceus  Van  Ben. 
speziell  findet  sich  als  Larve  in  fünf  oder  sechs  Teleo- 


138 


steern,  die  ausgewachsene  Strobila  lebt  hauptsächlich  im 
Darm  verschiedener  Rochen.  Wenn  nach  Vaullegeards 
Annahme  Rhynchobothrium  imparispine  Linton  mit  Tetra- 
rhynchus  erinaceus  Van  Ben.  identisch  ist,  wächst  die 
Zahl  der  für  den  Parasiten  bekannten  Wirte  und  Zwischen- 
wirte bedeutend  an.  Der  Tetrarhynchus  findet  sich  dann 
in  etwa  zwanzig  marinen  Knochenfischen,  die  sich  auf 
sehr  verschiedene  systematische  Gruppen  verteilen.  Als 
Hauptwirte  figurieren,  neben  den  Angehörigen  der  Gat- 
tung Raja,  Tetronarce  occidenlalis,  Myliobatis freminvillei, 
Scymnus  lichia,  Hexanchus  grüeus  und  Heptanchus  ci- 
nereus.  Von  besonderer  Bedeutung  ist  es,  dass  Linton 
Rhynchobothrium  imparispine  (=  Tetrarhynchus  erinaceus 
Van  Benetl.),  begleitet  von  mehreren  anderen  Vertretern 
der  Trypanorhynchen,  eingekapselt  im  Aal  nachweisen 
konnte.  Durch  den  Wanderfisch  kann  also  auch  in  diesem 
Fall  der  marine  Parasit  in  das  süsse  Wasser  verschleppt 
werden. 

Über  das  Vorkommen  eingekapselter  Tetrarhynchen 
in  der  Trüsche  besitzen  wir  eine  Notiz  P.  J.  Van 
Benedens.  Er  zählt  unter  fünfzehn  marinen  Teleo- 
steern,  „qui  nous  ont  montré  des  Tétrarhynques  en  voie 
de  développement  entourés  de  leur  gaine"  ausdrücklich 
auch  die  potamophile  Lola  vulgaris  auf  (54).  Später 
bezieht  er  sich  auf  das  gegebene  Verzeichnis  mit  den 
Worten:  „J'ai  dit  plus  haut,  pag.  81,  en  parlant  du 
développement  des  Tétrarhynques,  quels  sont  les  pois- 
sons sur  lesquels  ces  vers  se  trouvent  le  plus  communé- 
ment.'' Wo  Van  Benedens  Tetrarhynchus  aus  Lota 
systematisch  unterzubringen  ist  und  besonders  ob  er  mit 
T.  erinaceus  zusammenfällt,  lässt  sich  leider  nicht  ent- 
scheiden. Die  durch  Van  Beneden  auf  ihre  Para- 
siten untersuchten  Exemplare  von  Lota  stammten  höchst 
wahrscheinlich  aus  dem  Meer  naheliegendem,    mit  dem- 


—     139     — 

selben  in  offener  Verbindung  stehendem  Süsswasser  des 
belgischen  Küstengebiets.  Gelegentliche  Einfuhr  mariner 
Schmarotzer,  durch  Wanderfische  z.  B.  iu  jene  süssen 
Gewässer  scheint  nicht  ausgeschlossen. 

Viel  verwickelter  liegen  die  hydrographischen  und 
damit  die  faunistischen  und  biologischen  Verhältnisse 
im  zweiten  Fall,  in  welchem  Lota  als  Zwischenwirt  von 
Rhynchobothrien  erkannt  wurde.  Das  Exemplar  der 
Trüsche,  das  auf  der  Aussenfläche  des  Magens  Tetra- 
rhynchencysten  trug,  wurde  im  Januar  1884  im  Genfer- 
see  gefangen  (57).  Es  stammt  somit  aus  einem  Wasser- 
becken, das  seit  sehr  langer  Zeit  durch  die  Stromschnellen 
im  Engpass  der  Perte  du  Rhône  vom  Meer  vollkommen 
faunistisch  abgeschlossen  ist.  An  marinen  Tierimport 
in  den  Genfersee  durch  die  Rhone  kann  in  der  Jetzt- 
zeit oder  in  historischer  Vergangenheit  nicht  gedacht 
werden.  Derselbe  datiert  in  entlegene  geologische 
Epochen  zurück.  Besonders  verhindert  die  Perte  du 
Rhône  Fisch-  und  damit  auch  Parasitenwanderungen  vom 
Mittelmeer  in  den  Léman. 

Dem  entspricht  denn  auch  die  Zusammensetzung 
der  Schmarotzerfauna  der  Genferseefische.  Über  die- 
selbe konnte  ich  früher,  im  Gegensatz  zu  entsprechenden 
Verhältnissen  im  grossen,  nach  dem  Meer  offen  stehenden 
Rheinstrom,  mitteilen,  dass  ihr,  mit  Ausnahme  des  sehr 
seltenen  Tetrarhynchus  aus  Lota,  ganz  marine  Elemente 
vollkommen  fehlen.  Sie  stellt  in  jeder  Beziehung  eine 
reine  und  durchaus  typische  Tierwelt  des  Süsswassers 
dar  (62).  Für  Lota  vulgaris  des  Geufersees  speziell 
gilt  folgende  Liste  schmarotzender  Würmer: 

Ascaris  capsularia, 

A.  acus, 

A.  ienuissima, 

Cucutlanus  elegans, 


—     140     — 

Echiriorhynchus  angustatus, 

E.  proteus, 

Distomum  tereticolle, 

Diplozoon  paradoxum, 

lchthyotaenia  ocellata, 

I.  torulosa, 

Cyathocephalus  truncatus, 

A  bothrium  infundibuliforme. 
Abgesehen  von  der  systematisch  durchaus  unsicheren 
Ascaris  capsularia,  der  daher  bei  unserer  Betrachtung 
ein  Wert  nicht  zuzuschreiben  ist,  umschliesst  die  Liste 
keine  der  von  uns  als  marine  Elemente  gekennzeichneten 
Schmarotzer.  Sie  setzt  sich,  vielleicht  mit  Ausnahme 
der  nur  aus  zwei  Wirten  bekannten  Ascaris  tenuissima, 
aus  typischen,  weitverbreiteten  und  oft  massenhaft  auf- 
tretenden Gästen  von  Süsswasserfischen  zusammen. 

Mitten  in  dieser  ganz  potamophilen  Tierwelt  taucht 
der  rein  marine  Tetrarhynchus  erinaceus  auf,  der  als 
Larve  zahlreiche  Meerteleosteer,  als  geschlechtsreife  Kette 
Haifische  und  Rochen  bewohnt.  Allerdings  scheint  sein 
Auftreten  in  Lota  zu  den  grossen  Seltenheiten  zu  ge- 
hören. Dem  ersten  bekannten  Fall  hat  sich  bis  heute 
kein  zweiter  angereiht. 

Tetrarhynchus  erinaceus  könnte  in  Lota  als  altes, 
marines  Relikt  gedeutet  werden,  aus  der  Zeit  stammend, 
da  der  Fisch  von  den  verwandten  marinen  Gadiden  sich 
löste  und  sich  an  die  neue  Süsswasserheimat  anpasste. 
Auf  diesem  Wege  hätten  Lota  vulgaris  auch  die  Meer- 
parasiten begleitet  und  die  Anpassung  an  das  neue  Me- 
dium erfolgreich  mitgemacht.  Der  Tetrarhynchus  des 
Genfersees  würde  so  auf  alte  marine  Beziehungen  von 
Wirt  und  Gast  hinweisen. 

Lönnberg  äussert  eine  ähnliche  Vermutung  in  Be- 
zug auf  das  Vorkommen  von  Abothrium  rugosum  in  Lota 


—     141      - 

aus  skandinavischen  Süsswasserseen.  Die  Spezies  schma- 
rotzt sonst  nur  in  marinen  Gadus-Avten,  vielleicht,  so 
bemerkt  der  schwedische  Zoologe,  lässt  ihr  Auftreten 
in  Lota  den  Schluss  zu,  dass  sie  bereits  spezifisch  diffe- 
renziert war,  bevor  die  Gattungen  Lota  und  Gadus  sich 
trennten  (22). 

An  die  Thatsache  vom  Vorkommen  des  Tetrarhyn- 
chus  erinuceus  im  Süsswasser  und  speziell  im  Genfer- 
see;  in  den  der  Parasit  nur  vor  langer  Zeit  eingeführt 
werden  konnte,  knüpft  sich  naturgemäss  die  Frage,  in 
welchem  Raubfisch  die  Bandwurmlarve  zur  geschlechts- 
reifen  Strobila  auswachse.  In  dieser  Richtung  bewegen 
wir  uns  auf  dem  Gebiet  blosser  Vermutungen.  Reife 
Rhynchobothrien  sind  bis  heute  in  keinem  Süsswasser- 
fisch  entdeckt  worden.  Sie  müssen  aber  in  potamo- 
philen  Wirten  leben,  wenn  anders  die  Spezies  sich  wäh- 
rend langer  Zeit  in  einem  vom  Meer  vollkommen  ab- 
getrennten Becken,  wie  dem  Leman,  halten  soll.  Am 
ehesten  dürfte  der  zu  Telrarhytichns  erinaceus  gehörende 
Kettenwurm  in  Hecht  oder  Forelle  zu  Hause  sein. 

Die  Einstreuung  mariner  Elemente  in  die  Parasiten- 
fauna von  Lota  vulgaris  erklärt  sich  auf  verschiedenem 
Wege.  Zunächst  mögen  Wanderfische  auch  hier  den 
Import  von  Meerparasiten  in  das  süsse  Wasser  besorgen. 
Von  den  eingeführten  Schmarotzern  wird  der  eine  oder 
andere  im  Strom  oder  See  passende  Zwischenwirte  und 
Wirte  rinden  und  so  neues  Bürgerrecht  erwerben.  Auf 
diese  Weise  mag  Apobkma  appendiciUatum  seine  sekun- 
däre Heimat  im  Süsswasser  erreicht  haben.  Das  Tier 
und  seine  Verwandten  schmarotzen  erwachsen  in  zahl- 
reichsten Meerfischen;  es  bewohnt  aber  auch  nicht 
weniger  als  acht  regelmässig  zwischen  Meer  und  Süss- 
wasser hin-  und  herziehende  Wanderer.  Als  seine 
Zwischenwirte    giebt    Pratt,     neben    anderen    marinen. 


-      142     — 

pelagischen  Organismen,  hauptsächlich  Copepoden  an, 
die  im  Meer  und  Süsswasser  reichlich  zur  Verfügung 
stehen  (35).  So  mag  Apoblema  von  breiter  mariner 
Basis  ausgehend,  sich  allmählich  in  einer  beschränkten 
Zahl  von  potamophilen  Fischen  eingebürgert  haben. 

Unter  den  Wirten  von  Distomum  simplex  und  Tctra- 
rhynchus  erinaceus  figuriert  der  Aal,  unter  denjenigen 
von  Abothrium  rugosum  der  Lachs-,  Maifisch,  Lachs  und 
Stör  beherbergen  Ascaris  capsularia.  Die  genannten 
Wanderfische  könnten  etwa  für  die  Verschleppung  der 
betreffenden,  sonst  rein  marinen  Parasiten  in  das  süsse 
Wasser  verantwortlich  gemacht  werden. 

Für  den  Import  gewisser  Elemente  in  die  Parasiten- 
fauna der  Trüsche  vom  Meer  her  spricht  auch  deutlich 
die  Thatsache,  dass  die  marinen  Schmarotzer  von  Lota 
in  dem  Masse  seltener  werden,  als  die  Entfernung  vom 
Meeresufer  wächst.  Würmer  von  marinem  Charakter 
fehlen  den  Trüschen  des  Genfersees,  mit  Ausnahme  jenes 
eigentümlichen ,  näher  besprochenen  Falls  des  Vor- 
kommens von  Tetrar hynchus  erinaceus.  Srâmek  (40) 
fand  keine  Meerparasiten  in  Lota  aus  der  Elbe  in  Böhmen; 
ich  vermisste  dieselben  in  demselben  Fisch  aus  dem  Rhein 
bei  Basel.  Dagegen  verzeichnet  Van  Beneden  Te- 
trarhynckus  in  Lota  aus  Gewässern  nahe  der  belgischen 
Küste;  die  Beobachtung,  dass  Echinor hynchus  acus  in 
demselben  Wirt  vorkomme,  machte  Lönnberg  (24)  an 
der  Küste  Skandinaviens;  Abothrium  rugosum  und  Apo- 
blema appenäiculatam  wurden  von  älteren  und  neueren 
Autoren  in  Lota  aus  süssen  Gewässern  längs  der  Ufer 
der  Ostsee  entdeckt.  Für  das  Vorkommen  von  Disto- 
iiiinii  simplex  in  der  Trüsche  gilt  ähnliches. 

Alles  zeigt  deutlich,  dass  eine  Infektion  von  Lota 
mit  marjnen  Parasiten  von  der  Meeresküste  ausgeht  und 
landeinwärts  an  Intensität  progressiv  abnimmt.    Das  deckt 


—     143     — 

sich,  wie  früher  nachgewiesen  wurde,  mit  dem  Verhalten 
der  marinen  Schmarotzer  in  dem  im  Rhein  aufsteigenden 
Lachs.  Sie  werden,  soweit  sie  wenigstens  den  Darm 
des  Wirts  bewohnen,  in  dem  Masse  seltener,  als  der 
Wanderer  sich  vom  Meer  entfernt  (00). 

Die  Verschleppung  durch  Wirte  und  Zwischenwirte 
in  der  Jetztzeit  genügt  indessen  nicht,  um  die  Gegen- 
wart von  Meerlischschmarotzern  in  Lota  zu  erklären. 
Das  hat  bereits  das  Vorkommen  von  Tetrarhynchus 
crinaceus  in  einem  vom  Meer  längst  abgeschnittenen 
Becken,  wie  dem  Genfersee  gezeigt.  Ein  anderer  ma- 
riner Gast  der  Trüsche,  Echinorliynclius  actis,  kommt 
in  Wanderfischen  überhaupt  nicht  vor,  Abotlirium  rn- 
gosum  und  Distomum  Simplex  sind  in  denselben  sehr 
selten. 

Es  ergiebt  sich  daraus  die  Notwendigkeit,  für  die 
ebengenannten  Parasitenarten  den  Import  in  das  süsse 
Wasser  in  weiter  zurückliegenden  Zeitabschnitten  zu 
suchen.  Für  eine  solche  prähistorische  Einfuhr  öffnen 
sich  zwei  verschiedene  Wege.  Der  Übergang  in  das 
neue  Medium  kann  auch  damals  durch  zwischen  Meer 
und  Süsswasser  wandernde  Wirte  und  Zwischenwirte 
vermittelt  worden  sein  ;  oder  aber  es  kann  Lota,  die  aus 
dem  marinen  Stamm  der  Gadiden  hervorgieng,  bei  ihrer 
allmählichen  Anpassung  an  das  süsse  Wasser  eine  Reihe 
von  Meerparasiten  mitgebracht  haben,  von  denen  sich 
einige  als  anpassungsfähig  an  die  neuen  umgebenden 
Verhältnisse  erwiesen.  Für  diese  Auffassung  der  Herkunft 
der  marinen  Elemente  in  der  Parasitenbevölkerung  von 
Lota  spricht  die  Thatsache,  dass  die  betreffenden  Würmer 
in  weitester  Ausdehnung  die  Gadiden  des  Meers  be- 
wohnen, im  süssen  Wasser  dagegen  sich  fast  ausschliess- 
lich auf  Lola  vulgaris  beschränken.  Darüber  mag  die 
folgende  Zusammenstellung  dienen: 


144 


~    Si 

ce 

es 

ce 

Im  Sûsswasser 

1.  Ascaris  capsularia 

55 

16 

In  Lota  und  selten 
in  issu'C. 

2.  Echinorhynchus  acus  . 

37 

15 

In  Lota,  Esox,  viel- 
leicht  Silur  m. 

3.   A.poblema     appendicu- 

60 

20 

Lota,  Perça,  Trut- 

ta,  Esox,  Gas- 
terosteus. 

4.  Distoraum  simplex . 

10 

5 

Nur  in   Lota. 

5.  Abothrium  rugosum    . 

11 

H 

Nur  in  Zota. 

1 6.  Tetrarb.yncb.us     erina- 

19 

7 

Nur  in  Lota. 

Die  marinen  Schmarotzer  von  Lota  vulgaris  er- 
weisen sich  so  als  weitverbreitete  und.  wie  beigefügt 
werden  mag,  sehr  häufige  und  typische  Gäste  der  nächst- 
verwandten Meerfische,  der  Gadiden.  Abothrium  ru- 
gosum beschränkt  seinen  Parasitismus  auf  die  Stock- 
fische. Die  übrigen  bewohnen  noch  andere  Wirte,  vor- 
zugsweise die  den  Gadiden  nahestehenden  Pleuronectiden. 

Im  Süsswasser  verlassen  die  in  Frage  stehenden 
Würmer  Lota  DU1  gar  in  nicht,  oder  nur  selten.  Sie 
bleiben  an  den  Wirt  .Gebunden  der  ihren  mannen  Gast- 
gebern anatomisch  und  physiologisch  am  nächsten  steht. 
Eigenschaften  des  Wirts  und  nicht  nur  der  Aussenwelt 
bedingen  somit  auch  hier  die  Verbreitung  des  Schmarotzers. 
Einzig  Apoblema  appendicutatum,  das  wir  schon  im  Meer 
als  anpassungsfähig  an  verschiedenste  Fische  kennen 
lernten,  dehnt  auch  im  Süsswasser  den  Kreis  seiner 
Wirte  etwas  aus. 


145 


Alles  aber  lässt  den  Eindruck  erwachen,  dass  Lola 
vulgaris  beim  Übergang  vom  Meer  in  Strom  und  See  einen 
typischen  Teil  der  Parasitenbevölkerung  der  marinen 
Stockfische  mitgeschleppt  habe.  Der  Süsswasserfisch  be- 
herbergt heute  noch  Schmarotzer,  die  als  marine  Relikte 
für   seine  frühere  Heimat  und  seine  Geschichte  zeugen. 

Lota  vulgaris  besitzt  somit  eine  Parasitenbevölke- 
rung,  die  zum  grössten  Teil  aus  reinen  Süsswasser- 
formen  besteht.  Von  ihnen  haben  manche  die  Heise 
nach  dem  Meer  angetreten,  um  dort  in  neuen  Wirten 
eine  mehr  oder  weniger  ausgedehnte,  sekundäre  Heimat 
zu  finden.  Bei  diesem  Vordringen  spielten  wohl  haupt- 
sächlich Wanderfische  die  Rolle  der  Zwischenträger 
vom  Fluss  zum  Meer.  Daneben  beherbergt  aber  Lota 
auch  marine  Schmarotzer,  die  sie  entweder  selbst  aus 
dem  Meer  mitgebracht  hat,  oder  die  ihr  von  dort  früher 
oder  später  zugeführt  worden  sind.  Auch  in  diese 
Strömung  vom  Meer  zum  Pluss  dürfte  die  Wanderung 
der  Fische  vermittelnd  eingegriffen  haben.  Heute  würde 
sich  also  die  Helminthenfauna  von  Lota  aus  zwei  Gruppen 
von  Bestandteilen,  primären  und  sekundären  zusammen- 
setzen. Die  primären  brachte  der  Fisch  selbst  mit  aus 
dem  Meer  ;  es  sind  die  Schmarotzer  seiner  marinen 
Stammesverwandten,  der   Gadiden, 

Die  sekundären  Parasiten  erwarb  Lota  später  in  Fluss 
und  See  ;  es  sind  die  typischen  Gäste  der  verschiedensten 
reinen  Süsswasserfische  und  vielleicht  auch  Schmarotzer  von 
mehr  marinem  Gepräge,  die  durch  Wanderfische  injüngerer 
oder  älterer  Zeit  in  das  Süsswasser  importiert   wurden. 

Unter  allen  Umständen  aber  spiegelt  die  Zusammen- 
setzung der  Parasitenfauna  von  Lota  vulgaris  die  äusseren 
Bedingungen  des  bewohnten  Mediums,  die  Lebensweise 
und  die  Geschichte  des  Wirts  wieder. 


10 


__     146     — 

Viel  einfacher  als  für  Lola  liegen  die  parasitolo- 
gischen  Verhältnisse  für  Sikirus  glanis.  Die  Schma- 
rotzerliste des  Wels  urafasst  fünfzehn  Würmer.  Ausser- 
dem zählt  Volz  (8)  nicht  näher  bestimmte  Nematoden 
und  Echinorhynchen  aus  demselben  Wirt  auf.  v.  Ratz 
(37)  fand  einen  Silurus  aus  dem  Balaton  mit  dem  Blut- 
egel Ichthyobdella  fasciata  Dies,  besetzt. 


Parasitische  Würmer  von  Silurus 

glanis. 

Zahl  der  Wirte 

Name. 

SOsswasser- 
Fische. 

Heer- 
Fische. 

Wand  er- 
Fische. 

Total. 

Nematodes. 

1. 

Ascaris  glanidis  Linst.,  . 

1 

0 

0 

1 

2. 

—       siluri  Gmel., 

1 

0 

0 

1 

3. 

—       siluri  glanidis 
Linst., 

1 

0 

0 

1 

4. 

Cucullanus  elegans  Zed., 

13 

0 

5 

18 

5. 

Spiroptera  bicolor  Linst., 

3 

0 

0 

3 

6. 

Nematoideum  siluri  glani- 
dis Rud.,    . 

1 

0 

0 

1 

Acanthoce  - 
phala. 

7. 

Echinorhynchus  globu- 
losus  Rud., 

24 

0 

1 

25 

8. 

—     angustatus    Rud., 

20 

8 

2 

30 

9. 

—     proteusWestrumb, 

37 

19 

8 

64 

10. 

—     acus  Rud ,     . 

3 

37 

0 

40 

Trematodes 

.  11. 

Distomuni  torulosum 
Rud.,   .... 

1 

0 

0 

1 

12. 

Dactylogyrus   siluri   gla- 
nidis Wag., 

1 

0 

0 

1 

Cestodes. 

13. 

Ichthyotaenia  osculata 
Goeze, 

1 

0 

0 

1 

14. 

Ligula  digramma  Crepl., 

24 

1 

1 

26 

15. 

Tetrarhynchus  spec, 

1 

0 

0 

1 

Von  den  fünfzehn  Parasiten  kommen  nicht  weniger 
als  acht  einzig  im  Wels  vor;  sie  machen  für  den  Fisch 
gewissermassen  eine  speciell  nur  ihm  angepasste  Ideine 
Fauna  aus.   Das  allgemeine  Gepräge  derselben  ist  rein 


147 


potamophil,  wird  sie  doch  vor  allem  charakterisiert 
durch  die  für  Süsswasserfische  geradezu  typischen  Ge- 
nera Dactylogyrus  und  Ichthyotaenia  und  durch  die 
in  denselben  Wirten  weitverbreitete  Gattung  Ascaris. 
Zu  der  ersten  Gruppe  von  Welsparasiten  zählen  :  Ascaris 
glanidis,  A.  siluri,  A.  siluris  glanidis,  Nematoideum  si- 
luri glanidis,  Distomum  torulosum,  Dactylogyrus  siluri 
glanidis,  Ichthyotaeonia  osculata  und  endlich  als  ganz 
fremdes,  später  zu  besprechendes  Element  Tetrarhyn- 
chus  spec. 

Dazu  gesellen  sich  eine  Reihe  überaus  typischer 
Schmarotzer  von  Süsswasserfischen.  Es  sind  Spiroptera 
bicolor,  Cucullanus  elegans,  Echinorhynchus  globulosus 
und  Ligula  digramma.  Von  ihnen  ist  nur  die  letztge- 
nannte Form  vereinzelt  in  einem  marinen  Wirt,  Clupea 
harengus,  angetroffen  worden. 

Aber  auch  zwei  weitere  Parasiten  von  Silurus, 
Echinorhynchus  proteus  und  E.  angustatus,  haben  wir 
bereits  als  Charaktertiere  des  Süsswassers  kennen  ge- 
lernt, wenn  sie  auch  in  der  Wahl  von  Wirt  und  Zwischen- 
wirt wenig  beschränkt,  sekundär  in  Wander-  und  Meer- 
fische übergehen. 

Von  den  genannten  Süsswasserfisch- Schmarotzern 
leben  Ligula  digramma  und  Echinorhynchus  globulosus 
vorwiegend  in  Cypriniden  ;  Eilaria  bicolor  scheint  Wels 
und  Hecht  zu  charakterisieren,  die  übrigen  drei  ver- 
teilen sich  auf  die  verschiedensten  potamophilen  Fisch- 
gruppen. Mit  Lola  vulgaris  besitzt  Silurus  glanis  ge- 
meinsam Cucullanus  elegans  und  die  drei  bereits  ge- 
nannten Echinorhynchen.  Vielleicht  muss  zum  gemein- 
samen Besitz  auch  Echinorhynchus  acus  gerechnet  werden. 

So  trägt  die  Parasitenwelt  von  Silurus  glanis  sehr 
deutlich  potamophilen  Charakter.  Es  entspricht  das 
durchaus  dem  Vorkommen  und    der  Lebensweise    ihres 


—     148     — 

Trägers,  welcher  der  typische  Bewohner  stehender  oder 
langsam  fliessender,   seichter  Süsswässer  ist. 

Das  einfache  Bild  dieser  Schmarotzerfauna  wird 
indessen  gestört  durch  das  Auftreten  von  zwei  fremden, 
marinen  Zuthaten,  Echinorhynchus  actis  und  Tetrarhyn- 
chtis  spec. 

Echinorhynchus  acus,  den  Parasiten  zahlreicher 
Meerfische,  führt  Müh  lin  g  (29)  in  seiner  ostpreussischen 
Helminthenfauna  pag.  86  aus  Silurus  glanis  an.  Der 
genannte  Autor  erwähnt  indessen  den  Fund  in  derselben 
Abhandlung  weder  bei  der  Zusammenstellung  aller  bis 
jetzt  in  den  Wirbeltieren  Ostpreussens  gefundenen  Hel- 
minthen ,  noch  in  der  statistischen  Tabelle  über  das 
zeitliche  Vorkommen  der  ostpreussichen  Parasiten  (29 
p.  54,  78).  So  liegt  die  Vermutung  nahe,  dass  das 
Citat  auf  Seite  86  unrichtig  sei.  Sollte  indessen  E.  actis 
wirklich  die  Welse  Ostpreussens  bewohnen ,  so  würde 
die  Nähe  des  Meeres  den  Übergang  des  Schmarotzers 
in  einen  Süsswasserfisch  hier  ebenso  erleichtern  und 
erklären,  wie  in  Skandinavien,  wo  der  Acanthocephale 
nach  Lönnberg  in  Lota  vulgaris  parasitiert. 

Sichergestellt  und  sehr  auffallend  ist  die  Thatsache, 
dass  mitten  im  rein  potamophilen  Helminthenbestand 
des  Wels  eine  im  höchsten  Grade  marine  Cestodenlarve. 
ein  Tetrarhynchus,  Platz  findet.  Merkwürdiger  wird 
der  Fund  noch  dadurch,  dass  der  Träger  des  Parasiten, 
ein  Silurus  von  beträchtlicher  Grösse,  dem  Bielersee 
entstammt.  Das  Wasserbecken  liegt  im  Herzen  von 
Centraleuropa,  fern  vom  Meer,  mit  dem  es  durch  das 
Flusssystem  der  Aare  und  den  langgezogenen  Stromlauf 
des  Rheins  in  nur  indirekter  und  schwer  passier- 
barer Verbindung  steht.  An  einen  Import  mariner 
Parasiten  in  den  Bielersee  durch  Wanderfische  lässt 
sich  kaum  denken.     Ebenso  pflegen  die  Welse  aus  dem 


—     149     — 

See  nicht  durch  die  Aare  thalabwärts  zu  ziehen.  So 
weist  das  Vorkommen  von  Tetrarhynchen  in  stationären 
Fischen  des  Genfer-  und  Bielersees  eine  gewisse  durch 
hydrographische  Verhältnisse  bedingte  faunistische  und 
biologische  Analogie  auf.  Ein  Fall  bestätigt  gewisser- 
massen  den  anderen. 

Wie  im  Leman  gehört  auch  im  Bielersee  Tetra- 
rhynchus zu  den  seltensten  Erscheinungen.  Im  Peri- 
toneum des  AVels,  aussen  an  die  Darmwand  angeklebt, 
wurde  ein  einziges  Exemplar  des  Parasiten  gefunden. 
Wieder  bleibt  die  Frage  offen,  in  welchem  Raubfisch 
des  Süsswassers  etwa  die  Cestodenlarve  aus  Silurus  zur 
geschlechtsreifen  Kette  auswachsen  könnte. 

Besonders  unaufgeklärt  aber  erscheint  die  Herkunft 
des  Welsparasiten,  da  der  Import  von  Meerhelminthen 
in  den  Bielersee  wenn  nicht  unmöglich,  so  doch  sehr 
schwierig  ist,  und  da,  im  Gegensatz  zu  Lola,  Silurus 
keine  näheren  marinen  Verwandten  besitzt,  die  ihm  als 
Erbteil  und  Zeichen  früherer  Zusammengehörigkeit  Para- 
siten überlassen  konnten.  Vielleicht  ermöglichten  hydro- 
graphische Verhältnisse  vergangener  Zeiten  die  Einfuhr 
von  Schmarotzern  marinen  Charakters  in  die  Seen  am 
Südrand  des  Neuenburger  Juras. 


Die  Tetrarhynchen  von  Lota  und  Silurus  nehmen 
eine  getrennte  Stellung  im  System  ein.  Den  Parasiten 
aus  Lola  konnte  ich  durch  erneute  eingehende  Prüfung 
mit  Tetrarhynchus  erinaceus  Van  Ben.  identifizieren; 
der  früher  ausgeteilte,  provisorische  Name  T.  lotae  fällt 
somit  dahin.  Dass  sich  der  marine  Tetrarhynchus  eri- 
naceus im  Genfersee,  einem  mit  dem  Meer  seit  sehr 
langer  Zeit  nicht  mehr  in  Verbindung  stehenden  Becken 
unverändert  erhalten  konnte,  spricht  deutlich  für  die 
grosse  Stabilität  der  Species. 


150 


Tetrar hynchus  erinaceus  ist  wiederholt  und  zuletzt 
noch  von  V  a  u  11  e  g  e  a  r  d  ausführlich  geschildert  worden, 
so  dass  eine  neue  Beschreibung  als  unnötig  erscheint 
(56).  Immerhin  bedürfen  meine  älteren  Angaben  und 
die  frühere  (57)  Abbildung  des  Parasiten  aus  Lota  der 
Ergänzung  und  Verbesserung.  Auf  T.  erinaceus  be- 
ziehen sich  die  Figuren  1 — 3. 

Der  in  Fig.  1.  dargestellte  Tetrarhynchiis  lag  ein- 
gekapselt an  der  Aussenfläche  des  Magens  einer  Lota 
vulgaris.  Seine  Länge  beträgt  fünf,  seine  grösste  Breite 
etwa  2  mm.  Der  Wurm  befindet  sich  in  sogenanntem 
nAnthocephalußzust&ndu  d.  h.  sein  Kopf  und  Kopfstiel 
sind  in  die  Schwanzblase  zurückgezogen.  Letztere  be- 
sitzt etwa  birnförmige  Gestalt  ;  an  ihrem  verschmälerten 
Ende  liegt  die  Einstülpungsöffnung,  welche  in  den  vom 
Scolex  eingenommenen  Hohlraum  führt. 

Der  Scolex  selbst  rollt  sich  spiralig  auf.  Er  trägt 
vier  längliche,  je  zu  zweien  enger  verbundene  Bothri- 
dien.  Typisch  ist  die  Bewaffnung  der  vier  Rüssel  mit 
zweierlei  Haken  ;  sie  wurde  in  der  ersten  Beschreibung 
unvollständig  geschildert.  Verteilung,  Form  und  Grösse 
der  beiden  Hakenarten  stellt  Vaullegeard  durchaus 
richtig  dar.  Über  die  Gestalt  der  hohlen  Haken  mögen 
auch  noch  die  Figuren  2  und  3  unterrichten. 

Im  cylindrischen,  ziemlich  gestreckten  Hals  liegen 
die  vielfach  geschlängelten  Rüsselscheiden,  weiter  zurück 
die  früher  beschriebenen,  kräftigen  Rüsselbulbi. 

Wesentlich  anders  gestaltet  sich  das  Bild  des  Tetra- 
rhynchus aus  Silurus  glnnis.  Der  Parasit  lässt  sich 
mit  keiner  bekannten  Art  vereinigen.  Er  stammt  aus 
einem  grossen ,  im  Bielersee  gefangenen  Wels ,  der 
ausserdem  im  Magen  zahlreiche  Exemplare  von  Filaria 
bicolor  beherbergte.  Ein  zweiter,  riesiger  Silurus  aus 
demselben  See  erwies  sich  als  parasitenfrei. 


151 


Der  Wurm  lag  im  Peritoneum ,  aussen  an  die 
Darmwand  angeschmiegt  ;  er  befand  sieb,  wie  dies  Fig.  4. 
darstellt,  in  ausgestülptem  „TetrarJnjnchuszustanà",  so 
dass  Kopf,  Hals  und  Schwanz  in  der  Längsrichtung 
aufeinander  folgen.  Der  vom  Hals  scharf  abgesetzte 
Scolex  trägt  nur  zwei  mächtige  Bothridien  von  be- 
deutender Breite.  Ihre  Seitenränder  bleiben  frei,  der 
ebenfalls  freie  Hinterrand  kerbt  sich  seicht  ein.  So 
erhält  jedes  Bothridium  einen  hohen  Grad  von  Selb- 
ständigkeit. Nach  vorn  convergieren  die  beiden  Haft- 
organe, so  dass  ihre  Vorderränder  an  der  Spitze  des 
Scolex  auf  eine  kurze  Strecke  verwachsen.  Die  Länge 
der  Bothridien  übertrifft  ihre  Breite  nur  unbeträchtlich. 

Etwas  hinter  der  Scolexspitze  münden  die  vier 
langen  und  schlanken  Bussel,  von  denen  je  zwei  einem 
Bothridium  entsprechen,  aus.  In  Fig.  4  sind  dieselben 
in  ihre  vielfach  geschlungenen  und  geknäuelten  Scheiden, 
die  bis  gegen  die  Mitte  des  Halses  reichen,  zurückgezogen. 
Die  Rüsselbewaffnung  besteht  aus  relativ  wenig  zahl- 
reichen, aber  kräftigen,  stark  gebogenen,  hohlen  Haken. 
Alle  Haken  sind  von  derselben  Gestalt  und  Grösse 
(siehe  Fig.  5). 

Der  nach  hinten  allmählich  breiter  werdende  Hals 
übertrifft  den  Scolex  etwas  an  Länge.  Er  beherbergt 
in  seinem  hinteren  Abschnitt  die  vier  langgezogenen, 
walzenförmigen,  dicht  aneinander  geschmiegten  Büssel- 
bulbi.  An  beiden  Enden  spitzen  sich  diese  muskulösen 
Hohlschläuche  etwas  zu;  in  ihrem  Innenraum  verläuft 
je  schräg  von  hinten  nach  vorn  und  von  innen  nach 
aussen  der  Rüsselretractor. 

Vom  Hals  setzt  sich  recht  deutlich  der  Schwanz 
als  langeiförmig  ausgezogene  Blase  ab.  Ihre  Länge 
übertrifft  die  eigene  Breite  und  die  Halslänge  um  das 
doppelte.     Am  Hinterende  des  Schwanzes  öffnet  sich  ein 


—     152 

Foramen  caudale,  das  einer  kanalartig  gestreckten  Ex- 
cretionsblase  als  Ausgangsporus  dient. 

Besonders  bezeichnend  aber  ist  die  Thatsache,  dass 
die  centrale  Region  der  Schwanzblase  von  zahlreichen, 
gewundenen,  da  und  dort  plump  verzweigten  Drüsen- 
schläuchen eingenommen  wird.  Sie  verlaufen  im  ganzen 
von  hinten  nach  vorn  ;  gleichzeitig  nimmt  ihre  Zahl 
nach  vorne  gehend  stetig  zu ,  so  dass  besonders  die 
vorderen  Abschnitte  des  Schwanzes  von  einem  dichten 
Drüsenkomplex  erfüllt  erscheinen.  Die  hinteren,  freien 
Schlauchenden  sind  oft  aufgetrieben;  die  Schläuche  be- 
sitzen eine  strukturlose,  deutliche  Begrenzung  und  einen 
fein  granulierten  Inhalt. 

Am  Hinterende  der  Rüsselkolben,  d.  h.  etwa  an 
der  Grenze  von  Hals  und  Schwanz  angelangt,  gehen  die 
Drüsenschläuche  in  langgezogene ,  äusserst  feine  Aus- 
führgänge über.  Dieselben  schliessen  sich  convergierend 
rechts  und  links  von  den  Bulbi  je  zu  einem  dichtge- 
drängten Bündel  oder  Strang  zusammen,  dessen  Ver- 
lauf sich  durch  den  ganzen  Hals  bis  in  den  hinteren 
Teil  des  Scolex  längs  und  ausserhalb  der  Rüsselbulbi- 
und  Scheiden  verfolgen  lässt.  Im  hinteren  Scolexab- 
schnitt  scheinen  sich  die  Drüsengänge  in  das  Lumen 
der  Rüsselscheiden  zu  öffnen. 

Das  einzige  zur  Verfügung  stehende  Präparat  des 
Tetrar hynchus  aus  dem  Wels  gestattete  eine  nähere 
Untersuchung  des  Drüsenapparats  nicht.  Es  wäre  be- 
sonders die  Frage  aufzuwerfen,  in  welchen  morpholo- 
gischen Beziehungen  der  Drüsencomplex  zu  den  Rhyn- 
chodaealdrüsen  stehe,  die  Pintner  für  einen  Vertreter 
der  Tetrarhynchus  attenuatus -Gruppe  eingehend  be- 
schrieb (33). 


Fig.1 


il 


R5 


Verhandinngen  der  Naturforsçhéndén  Gesellschaft  in  Bas,.].     Band  XVI.      Tafel  I. 


H5.2. 


Fig.  4. 


Fig.3 


»3     ■ 


■  -  ' 


fig.5. 


» 


-  E. 
FC. 


1 53 


Figurenerklärung  zu  Tafel  I. 


Fig.  I.  Tetrarhnychus  erinaceus  von  lien,  aus  Lota  vulgaris.  Der  Scolex 
in  den  verdickten  Schwanz  zurückgezogen.  O.  Einstülpungs- 
öffnung. R.  Rüssel.  B.  Bothridien.  R.  S.  Rüsselsckeiden, 
in  die  die  Rüssel  zum  Teil  eingestülpt  sind.  H.  Hals.  S. 
Schwanz.     R.  B.  Rüsselbulbi. 

Fig.  2.  und  Fig.  3.  Ine  beiden  Hakenforraen  von  Tetrarhynchus  eri- 
naceus von  Ben.  Die  Haken  sind  hohl.  Fig.  2.  grössere, 
gebogene,  Fig.  3.  kleinere,  schlanke,  gestreckte  Haken. 

Fig.  4.  Tetrarhynchus  spec.  aus  Silurus  glanis.  Scolex  vollständig 
ausgestülpt,  die  Rüssel,  R.,  in  ihre  Scheiden  zurückgezogen. 
B.  Bothridien.  R.  B.  Rüsselbulbi.  Ret.  Retractor  der 
Rüssel.  D.  Drüsen.  S.  Schwanz.  E.  Excretionsblase.  F.C. 
Foramen  caudale.  K.  Kopfstiel  (Hals).  A.  Ausführgänge 
der  Drüsen. 

Fig.  5.    Hohler  Haken  von  Tetrarhynchus  spec.  aus  Silurus  glanis. 


—     154     — 


Litteratur. 


1.  Ariola.  V..  Revisione  délia  famiglia  Bothriocephalidae  s.   st.     Ar- 

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3.  —    Vermes,  Abtlg.  Ib.     Cestodes,  in:  Bronn,  H.  GL,  Klassen 

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4.  Diesing.  C.  M.,  Systema  Helminthum.  Vindobonae   1850/51. 

5.  Fritsch,  Av  Der   Elbelachs,  eine    biologisch-anatomische    Studie. 

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6.  Fuhrmann,  0.,     Die    Anoplocephaliden     der    Vögel.      Centralbl. 

Bakteriol.  Parasitkde,  Abtlg.  I,  Bd.  32,  1902. 

7.  Hausmann,  L,   Über    Trematoden    der  Siisswasserfische.     Revue 

suisse  de  Zoologie,  Bd.  5,  1897. 

8.  Jaquel,  M.,    Faune    de    la   Roumanie.     Helminthes    trouvés   par 

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soc.  sciences  Bucarest.     An.  8,  1899. 

9.  Kraemer,  A.,  Beiträge  zur  Anatomie  und  Histologie  der  Cestoden 

der  Siisswasserfische.     Zeitschr.  wiss.  Zool.  Bd.  53,  1892- 

10.  Largaiolli,  V.,    I    parassiti  esterni  ed  interni  di  alcune  specie  di 

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11.  Linstow.  0.  v.    Compendium  der  Helminthologie.    Hannover  1878. 

12.  —     Compendium  der  Helminthologie.    Nachtrag.    Die 

Litteratur  der  Jahre  1878—1889. 

13.  —         —     Nemathelminthen.      Hamburger    Magalhaensische 

Sammelreise,  1896. 

14.  —  Nematoden  aus  der  Berliner  zoologischen  Samm- 

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15.  —  —     Entozoa  des  Zoologischen  Museums  der  K.  Akademie 

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16.  Linton,  E,,  Notes   on  Entozoa  of  marine  fishes  of  New  England. 

Part  II.     Annual  Report  ot  the  Commissioner  of  fish 
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17.  —      —  Notes  on  Entozoa  of  marine   fishes    with  descriptions 

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Commissioner  of  fish  and  fisheries  for  1888. 

18.  —      —  Notes    on    Cestode    parasites    of  fishes.     Proceedings 

of  ö.  S.  National  Museum.     Vol.  20,  1897. 


155 


19.  Linton,  E.,  Notes  on  Trematodes  parasites  of  fishes.    Proceedings 

of  U.  S.     National  Museum.     Vol.  20,  1898. 

20.  —      —  Parasites  of  fishes  of  the  Woods  Hole  région.     U.  S' 

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21.  Lo'nnberg.  E.,  Ilidrag  tili  kännedomen  om  i  Sverige  förekommau- 

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Bd.  14,  1889. 

22.  —       —     Anatomische  Studien  über  skandinavische  Cestoden. 

Kgl.  Svenska  Vetenskaps.  Akademiens  Handlingar. 
Bd.  24,  1891. 

23.  —       —     Mitteilungen    über    einige    Helminthen    aus    dem 

Zoologischen  Museum  der  Universität  zu  Kristiania. 
Verhandig.  biolog.  Ver.  Stockholm.  1891. 

24.  —        —     Helminthologische  Beobachtungen   von  der  West- 

küste Norwegens.  Svenska  Vet.  Akad.  Handliug. 
Bd.  16,  1890. 

25.  Matz,  F.,    Beiträge   zur  Kenntniss  der  Bothriocephalen.     Archiv 

f.  Naturg.,  Bd.  I,  1892. 

26.  Monticelli,  F.  S.,  Elenco  degli  Elminti   raccolti   dal  Capitano  G. 

Chierchia  durante  il  viaggio  di  circumnaviga- 
zione  della  H.  corvetta  „Vetter  Pisani".  Boll. 
Soc.  Natural.  Napoli,  anno  3,  1889. 

27.  —      Elenco  degli  Elminti  studiati  à  Wiméreux  nella 

primavera  di  1889.  Bull,  scient.  France  et  Bel- 
gique.    T.  22,  1890. 

28.  —  —      Osservazioni  iutorno  ad  alcune  forme  del  genere 

Apoblema  Duj.  Atti  R.  Accad.  Sc.  Torino, 
Vol.  26.  1891. 

29.  Mühling,  P.,  Die  Helminthenfauna  der  Wirbeltiere  Ostpreussens. 

Archiv  f.  Naturg.,  Jahrg.  1898,  Bd.  I. 

30.  Parona,  C,  Helminthum  ex  Conradi  Paronae  Museo  Catologus. 

Genuae  1896/98. 

31.  —     —     Catologo  di  Elminti  raccolti  in  Vertebrati  dell'  isola 

d'Elba.      Boll.    Mus.    Zool.    Anat.    Comp.    R,  Univ. 
Genova,  No.  113,  1902. 

32.  Piesbergen,  F.,    Die   Ekto-   und  Entoparasiten,    von   welchen  die 

in  der  Umgegend  von  Tübingen  lebenden  Fische  bewohnt 
werden.  Jahreshfte.  Ver.  f.  vaterld.  Naturkde.  AVürttem- 
berg.     Jahrg.  XXII,  1SS6. 

33.  Pintner,  Th.,  Studien  an  Tetrarhynchen  nebst  Beobachtungen  an 

anderen  Bandwürmern.  Mittheilung  I  u.  IL  Sitzgsber. 
k.  Akad.  Wiss.  Wien,  Mathem.-naturw.  Klasse,  Bd. 
102  u.  105,  1893  u.  1896. 

34.  —       —     Die   Rhynchodaealdrüsen    der  Tetrarhynchen.     Ar- 

beiten d.  Zoolog.  Institute,  AVien.     T.  12,  1899. 


156 


35.  Pratt,  H.  S,,  A  contribution  to  the  Life-history  and  anatomy  of 

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Anat.  Ontog.  d.  Tiere.     Bd.  Il,  1898. 

36.  Prenant,  A.,    Recherches  sur  les  vers  parasites  des  poissons.    Bull. 

Soc.  scienc.  Nancy.     Sér.  II,  T.  7,  1885. 

37.  Râtz,  St.,  v.,  Beiträge  zur  Parasitenfauna  der  Balatonfische.   Cen- 

tralbl.  Bakteriol.  Parasitkde.     Abtlg.  I,  Bd.  22,  1897. 

38.  Riggenbach,  E.,  Das  Genus  Ichthyotaenia.     Revue   suisse  de  Zoo- 

logie, B<1.  4,  1896. 

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40.  Srâmek,  A.,    Helminthen    der    an    der    zoologischen   Station   in 

Podiebrad  untersuchten  Fische.  Archiv  der  naturwiss. 
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41.  Stiles,  C.  W.  and  Hassall,  A.,    A    preliminary    Catalogue    of  the 

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1894. 

42.  Stossich,  M.,  Brani  di  Elmintologia  tergestina.    Boll.  Soc.  Adriat. 

8c.  nat.  Trieste.     Vol  8—12,  1883—1890. 

43.  —       —     I.  Distomi  dei  pesci  marini  e  d'acqua  dolce.  Lavoro 

monografico.  Programma  del  Ginnasio  comunale 
super iore  di  Trieste,  1886. 

44.  Appendice  al  mio  lavoro  „I  Distomi  dei  pesci 
marini  e  d'acqua  dolce1'  ibid.  1887 — 88. 

45.  Elminti  veueti  raccolti  dal  Dr.  Alessandro  conte 
de  Xinni.  Boll.  Soc.  Adriat.  Sc.  nat.  Trieste  Vol. 
12,  1890. 

46.  Il  genere  Trichosoma  Rud.  Lavoro  monografico. 
Ibid.  Vol.  12,  1890. 

47.  —  Osservazioni  elmintologiche.  Soc.  Historico-naturalis 

Croatica  181)2. 

48.  —       —     Ricerche    elmintologiche.     Boll.   Soc.    Adriat.     Sc. 

nat.  Trieste.     Vol.  17,  1896. 

49.  —       —     II    genere    Ascaris  L.     Lavoro    monografico.     Ibid. 

Vol.  17,  1896. 

50.  —       —     Filarie   e  Spiroptere.     Lavoro  monografico.     Ibid. 

Vol.  18,  1897. 

51.  —  Note  paras8itologiche.     Ibid.     Vol.    18,  1897. 

."'2.        —  Saggio    di   una    fauna    elmintologica    di   Trieste    e 

provincie  contermini.  Programma  della  Cicica  Scuola 
Reale  Superiore,  Trieste  1898. 

53.  —     Osservazioni    elmintologiche.      Boll.    Soc.    Adriat. 

Sc.  nat.,  Trieste.     Vol.  20,  1900. 


—      157     — 

54.  Van  Beneden,  P.  J.,    Les    vers    cestoïdes    ou    acotyles  considérés 

sous  le  rapport  de  leur  classification,  de  leur  anatomie 
et  de  leur  développement.  Mém.  Acad.  R.  Belgique. 
T.  25,  1850. 

55.  Vaullegeard,  A,.    Sur    les    Helminthes  des    Crustacés    décapodes 

brachyoures  et  anomoures.     Assoc.  franc,  avan- 
cement des  sciences,  congrès  de  Bordeaux  1895. 

56.  —  —     Recherches  sur  les  Tétrarhynques.    Thèses  pré- 

sentées   à    la   Faculté    des   Sciences   de    Paris. 
No.  987,  1899. 

57.  Zschokke,  F.,  Recherches    sur    l'organisation    et    la    distribution 

zoologique    des  vers    parasites    des   poissons  d'eau 
douce.     Archives  de  Biologie,  T.  5,  1884. 

58.  —       —     Helminthologische  Bemerkungen     Mittlgn.  Zoolog. 

Stat.  Neapel.     Bd.  7,  1886. 

59.  —  Erster  Beitrag  zur  Parasitenfauna  von  Trutta  salar. 

Verhandig.  Naturf.  Ges.  Basel.     Bd.  8,  1889. 

60.  —       —     Die    Parasitenfauna    von    Trutta    salar.      Centralbl. 

Bakteriol.     Parasitkde.,  Bd.  10,  1891. 

61.  —     Zur   Lebensgeschichte   des   Echinorhynchus    proteus 

Westrumb.     Ibid.,  Bd.  10,  1891. 

62.  —       —     Zur    Faunistik.     der    parasitischen    Würmer     von 

Süsswasserfischen.    Centralbl.  Bakteriol  Parasitkde. 
Abtlg.  I,  Bd.  19,  1896. 

63.  —       —     Hymenolepis   (Drepanidotaenia)    lanceolata   Bloch   als 

Schmarotzer  im  Menschen.    Ibid.  Bd.  21,  1902. 


Über  konforme  Abbildung  im  Raum. 


Von 
Karl  VonderMühll. 


Seit  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  ist  bekannt, 
dass  durch  das  Prinzip  der  reziproken  Radien  nicht  nur 
eine  Ebene  auf  einer  andern  Ebene,  sondern  auch  ein 
Raum  in  einem  andern  Raum  konform,  d.  h.  in  den 
kleinsten  Teilen  ähnlich    abgebildet  wird. 

Für  den  Raum  hat  meines  Wissens  Liouville  den 
Satz  zuerst  ausgesprochen.*)  Während  aber  unendlich 
viele  konforme  Abbildungen  einer  Fläche  auf  einer  andern 
Fläche  existieren,  ist  die  Abbildung  durch  reziproke 
Radien  die  einzige,  wo  die  kleinsten  Raumteile  in  Figur 
und  Bild  einander  ähnlich  sind.  Auch  dieser  Satz  ist 
längst  bekannt  ;  doch  habe  ich  eine  direkte,  rein  ana- 
lytische Ableitung  nirgends  gefunden;  ich  erlaube  mir 
daher  sie  im  Folgenden   zu  geben. 

Es  bezeichne  (|,  /;,  ç)  einen  Punkt  der  Figur, 
(x,  )7,  z)  sein  Bild  in  geradlinigen  rechtwinkligen  Koordi- 
naten; dff  und  ds  seien  zwei  einander  entsprechende 
unendlich  kleine  Längen  : 

da2  =  d£2  +  d#;3  —  dt2  , 

ds2  =  dx2  -J-  dv2  -|-  dz2  ; 
der    sogenannte    Kartenmodul   werde    mit  p  bezeichnet. 


*)  Journal  de  Math.  XII.  1847. 


159 


Dann  gilt  für  konforme  Abbildung  die  Gleichung: 

(1)  do  =  pds  , 

wo  p  eine  Funktion  von  (i",  >n  'Q    oder  (x,  y,  z)  sein  soll. 

Wir  suchen  p  als  Funktion  von  (x,  y,  z)  zu  be- 
stimmen. 

Indem  wir  x,  y,  z  als  Funktionen  von  (|,  ?),  Ç), 
|,  t],  Ç  als  Funktionen  von  (x,  y,  z)  betrachten,  folgen 
aus  den  Gleichungen 


dx  =  —  dt 


dx  dx 

-7-  dr:  4-  -^  dC  ,   u.  s.  w. 

dr,     'dt     - 


dB  =  t-  dx 4-  -IT-  dy  -f-  -1—  dz  ,  u.  s.  w. 
dx        '    dy    J    '   dz 

die    Beziehungen    zwischen    den    partiellen    Differential- 
quotienten : 


(2) 


dx  d£   ,   dx  dy      dx  dç 

d£  dx  "^  dr]  dx  ~r"  dç  dx  - 

dx  dt       dx  drj       dx  d'Ç 

d|  dy"  +  d^  dy   '   d£  dy  ' 


u.  s.  w. 
Die  Bedingung  der  konformen  Abbildung 
dx2  f  dy2  +  dz2  =  p2  (dp  -f  d/;3  -f  dl'2) 
aber  liefert  die  Gleichungen  : 

dz 


(3) 


S)+ (8) + 


u.  s.  w. 


dx  dx  dy  dy         dz  dz 

dr)  d,     '     d?j  ck          d^  d£ 


und  die   entsprechenden  : 

drv,  /dvy 


(4) 


dx  ; 


+ 


u.  s.  w. 


d|d|cb;cb;d£dÇ=0 
dy  dz         dy  dz   "■    dy  dz 


160 


Die  Funktionaldeterminanten 


D 


und 


dx 

dy 

d£ 

dz 
d| 

dx 

dy 

dz 

àrj 

d? 

d?; 

dx 

dy 

dÇ 

dz 

d| 

d>; 

dÇ 

dx 

dx 

dx 

d£ 

^ 

de 

dy 

dy 

dy 

d| 

d?/ 

d: 

dz 

dz 

dz 

können  nicht  verschwinden,  und  es  ist 
Di=  1  . 

Durch    Auflösen    der   Gleichungen  (2),  (3)  und  (4) 
ergeben  sich  die  Relationen  : 


(5) 

dx        2d| 
d|"rdx   ' 

dx 
d^ 
u. 

a  drç 
=  P   dx   ' 

s.    w. 

dx  „  dç 
dt  =P   dï 

oder 

(«0 

d£      1    dx 
di~p2  d£  ' 

dy" 

u. 

1    dy 
V   df   ' 
s.  w. 

d£  1  dz 
dz      p2  df 

so  dass 

also,  weil    DJ  =  1   , 
D2  =  P6  , 


D  =  \^J 


z/a  = 


161     — 


Die    Gleichungen   (3)   können    auch    ersetzt  werden 


durch 


(3,a) 


dx 


+ 


d£  ;  "T"  V  cb; 


dx 


+ 


l>- 


dy  dz  dy  dz  dy   dz 

d§  d?      '    d/.  d/;  de    d. 


15  u/(  d/(      '    au    aç 

entsprechend  die  Gleichungen  (4)    durch 

d/,  dJ  d/;  dl*  d?;  dl" 


(4,a) 


^  cb,   eh, 

dx  dx     '     dy  dy 


df\2      1 

=  — 5-  ,    u.  s.  w. 

p 


dz  dz 


=   0  ,  u.  s.  w. 


Ist    nun    F    eine    beliebige   Funktion  von  (x,  y,  z) 
oder  (£,  7],  Ç),  so  folgt  aus 

!_?  -  !_?  dl  1  --  ^  _j_  —  Ï 

dx        d§  dx"'    d/;   dx   '    du    dx 

d£ 
durch    Einsetzen    der    Werte   -^-   ,    u.  s.  w.     nach    den 

dx 


Gleichungen  (6)    in 


u.  s.  w, 


clF  dx   .   dF  dx   (   dP  dx 
d£   d|^d?;    dy/dT  dT 


P 


odF 


und  dieselbe  Gleichung  gilt,  wenn  wir  y  oder  z  statt  x 
schreiben. 

Wir  setzen  zunächst  F=TT.  und  erhalten: 

de 


dx  d2x        dx    d2x        dx     d*2x 

dl  dF  ~  <ty  dfcb?  +  dT  dp: 


p 


dx 
dx 


nach  der  ersten   Gleichung  (3}a)  ist  aber  die  linke  Seite 
gleich  dp 

P    Ä    » 


11 


—     162     — 

folglich 

dx 

dg  =    1     dp 
dx  p     dg 

dy 
Nehmen  wir  dagegen  y  statt  x  und  setzen  F  =  -=^  , 

so  folgt 

dy  d2y       dy    d2y         dy     d2y  2       dg 

dg  dg2  +  cbj  dgdT;  "r"  dg   "dgdg  =  P'  ~dy~~  ' 

dp 
und  auch  dieser  Wert  ist  nach  (3,a)  gleich    p  y^-   . 

Ebenso  mit  z  statt  x. 

Wir  haben  somit 

n   dx       ,  dy       n   dz 

(1  Te       d  Tè      d    Tc 
(7)  dg=      dg^       dg 

dx  dy  dz 

Weiter  folgt  aus  der  Gleichung  unter  (3,a)  : 

dy  dz       dy  dz       dy  dz   = 

dg  dg^d>;d>; +  dg   dg  " 

durch  Differentiation    nach  g  : 

d2y  dz        d2y     dz         d2y     dz 
dg2  dg  +  dgdYd7;+  dgdg  dg  + 

dy  d2z       dy    d2z        dy     d2z 


"Kit   A&\ 


'dg  dg2_r  àrt  dgd/;  ~dg    clgdg 
dz 


=  P 


163 


Folglich  gelten  die  drei    weiteren  Gleichungen  : 


(8) 


dy 
dB 


«1 


dz 

,    dz 

dx 

.  dx 
d  -t. 


+ 


dz 
d£ 


(I 


+ 


dy 

dx 
dl 


-f 


dz 

dy 


o, 


0  . 


dy  dx 

In  den  Gleichungen  (7)  und  (8)  kann  statt  £  auch 
y]  oder  'Ç  gesetzt  werden. 

Aus  den  Gleichungen  (8)  folgt  durch  Differentiation 
nach  x,  y  und  z  : 


.2  dy         ,.,  dz 


de 


also 


d2 


,  dx 


(9) 


d~ 


dy  dz 


dzdx 


=  0, 


+  : 


d£ 


dxdy 
2  dy 


=  0.  u.  s.  w. 


d; 


dzdx 


=  0, 


t>  dz 

Im 

dxdy 


=  0  . 


Aus  den  Gleichungen  (1)  aber   finden   wir  in  Ver- 
bindung mit  den  Gleichungen  (8)  : 


l2dx  dy 

ds-  de 


13dx 
dç 


d2 


df 


d$ 


dx2         dxdy  dy2         dxdz  dz2 

und  dieser  Wert  ist  konstant.    Denn  seine  Differential- 
quotienten nach  y  und  z  verschwinden,  weil  nach  (9) 


dx 

de 


=  0, 


dy 
dç 


0 


dxdy  dz  dxdy  dz 

und  desgleichen  der  Differentialquotient  nach  x. 


164     — 


Wir  haben  nämlich: 


f13  dx       13  cly  dz  dy  dz 

de_        de_  __d|=         dç  dç 

dx3     "  dx2dy  ~  dx-dz  ~  dz2dy  ~  dy2  dz  ' 

und  der  letzte  Ausdruck   ist  nach    (8)  gleich 

d-  / 
dg 

dydza  ; 
dadx 

1  Ä 

folglich  muss     .     *    gleich  null  sein. 
dxö 

Wir  setzen: 

t,  dx  ,„  dx        nodv  ,.,  dx       „  dz 

d2  -Tx  d2  T&       d2-^  d-  T      d-  j- 

Uq\ de_  dç  _       de  dç  _       de 

dx-  dy1'         dx  dy  dz"2         dxdz 

nennen  die  Werte  b  und  c,  wenn  statt  x  y  und  z  ge- 
setzt wird,  dagegen  a\  b',  c',  und  a",  b",  c",  wenn  wir 
statt  e    ?/  und  1"  schreiben. 

Nun  haben  wir  einmal: 

d- 

(\V\        ^      *   dP      *   /dx  dp        dy  dp    ,    dz  dp 
dx        p  de      p  \de  dx        de  dy        de  dz 


u.  s.  w. 


sodann 


und,  nach   (6), 


-,  dy  ,   dz 

d/e  d   j, 

de  _de 

dz  dy 


1     dy  J_  dz 

Y  dl  p^d? 

dz  dy 


—     165 


oder 

folglich 
(12) 


Wir  bezeichnen  mit  2  die  Summe  der  drei  Aus- 
drücke, die  durch  cyklische  Vertauschung  der  Variabein 
Ç,  /;,  'Ç  folgen.  Dann  geben  die  Gleichungen  (11) 
und  (12): 

dx 


d  d$        a  dÇ      2  /dy  dp 

dz  dp 

dz     dy    p  V  dç  dz 

dç  dy 

dç   1   dy  dp   dz  dp 
dz    p      dç   dz   dç  dy 

,  u.  s. 

dx   dç 
dç  dx 

P 

dp 
dx"  ' 

,  dx 
dx  d  ÂÇ 
df  dy 

dx   dç    dp_ 
dç  dx     dy 

dx 
v  dy   df 
df  dx 

diy 

dx   dç 

0 

dç     dz 

Dividieren   wir   die    zweite   dieser  Gleichungen  mit 
p2  und  differenzieren  wir  dann  nach  y,  so  folgt: 

r  dx  ,  dx 

v    1    dx        d?  d-ç    (   dç       1  d-p       1   /"dp 


p2  dç    dy2  dxdy     dy        p  dy-       ir\dy 

und  ähnlich: 

,2  dy  ,  dy 

v   1  dy      àë  '     à*$  cl  cîë_ 


p-  dç    dx'2         '     dxdy    dx         p  dx2       p2  V  dx 


—     166     — 
mithin  : 

dx  _d?         dy       d?        /d*p     d'p\     /dpV    /dp  Y 
d£    dy2  de    dx2      P^dx2     dy2y    ^dXyl     V^dy 

Wir  finden  aber  auch  : 
y  dx      de  ddf  d2P      /dPV 

Z    dç    dy2    ~^\    dy    /       Pdy2i~lvdyy'  ' 

cpdy  /diZ.\2 

dy__df  ,         _d£  I         d*p  ,   AlpV 
21    df    dx2    +  ~\     dx    /       Pdx2+tdxJ' 


folglich 

,g  dx 
dx  C__dJ  d_} 

df     dy2    ~^Z   df     dx2 


1  ^dx2  ^  dy2y/  ~T  V^lx 
Mit  Berücksichtigung  von  (8)  folgt  hieraus 

dy\2 

dp  V     /dp 

^dxy/  "T"  V^dy 

und  dann 

,„  dx  T.,  dx 

d    —  d"  — 

dx       dç         d2p      /dp  y     vdx       ä$       d2p      /  dpY 


d^  dy2        x  dy2      V^dx^  d£dz2      'dz2      V^  dx 

nach  den  Gleichungen  (10). 

Foglich  muss   sein 

d-p  d2p  d2p 

{     }  dy2  dz2  dx2   ' 


—     167 

Weiter  folgt  aus 

,  dz 
I  dp  =  z  dç  _  df 
p   dx  dz     dx 

durch  Differentiation  nach  y: 

A     ^Z  12    C^Z 

p     d'P     _  S?  dp  =     ,    v    d2ç        d~c  dz     "  de 

dxdy        dx  dy       P        dydz     dx      '       d£  dxdy  ' 

und  die  letzte  Summe  verschwindet  nach  (9). 

Aus 

,  dx 
Q  =  ^  df  _d| 
dy    dz 

aber  finden  wir  durch  Differentiation  nach  z: 

d  ^  d2  - 

v  _^_i_  __M    i    1   v  dy d|  = 

w    dydz     dz      *    p2  w   dç     dz2 

■  Somit  ist  : 

d2- 
d^P    _  dp  dp  v  dy     _ch? 

1     dxdy         dx  dy  "     "  ds-     dz2     * 
Ferner  gibt  die  Gleichung 

d  ^ 
n  dj>  =  v  dl  __di 
1    dy       ^  df     dy 

durch  Differentiation  nach  x: 

d->  iy      d  -y  d  -y 

p  d2P   ,  dp  dp  =  v  dy   ds-   v   dç   df  _ 
dxdy  "^  dx  dy   *"  de  dxdy  *  dx   dy  ' 


,  dy   ,   dy  .  dx    n   dx 

d   A  à  ■£  d   tt  d 


—     168     — 
folglich  wird 

dxdy  dx       dy  dy        dx 

n  dx  ,  dx 
_  _df  _df 
~  ^     dy       dx  ' 

da  wir  in  dem  ersten  AVert  x  und  y  vertauschen  können. 

Wir   finden   also,    dass  die  zweiten  Differentialquo- 
tienten -^ — =—,  u.  s.  w.  null  sein  müssen:    dann  ist  =-  nur 
dydz'  dx 

Funktion  von   x,   und  wegen   der  Gleichungen  (13)  -=-g 
konstant. 


"Wir  setzen 


d2p        d2p       d2p        2_ 

dx^  "  "  dy2  "  dz-  ==   R2 


(*"V  ^v2  rl1T-'  A„l     '        -R2     > 


wo  R  eine  Länge  bedeutet. 

Dann  folgt  durch  Integration 
dp       2  (x— a) 


dx  R2 


,  u.   s.  w. 


und  indem  wir  den  Anfangspunkt  der  x,  y,  z  verlegen, 
werden  a,  /?,  y  null.  Durch  nochmalige  Integration 
ergibt  sich: 

(15)  P=*3+|I+Z'  +  C. 

Die  Konstante  C  bleibt  vorläufig  unbestimmt. 


—     169     — 

Wir    setzen    diesen  Wert    ein  in  die  Gleichungen 


-    d,-    dx2    '     \dxj    '  ~  P  dx2  ' 

d2^ 

y  dx        d£_       dp  dp 

d~~  H/T  =      ~Ixd"y' 

d2  '1Z 
5,  dx        dç  _        dp  dp 

de    dy2  dx  dz 

wo  die  beiden  letztern  folgen  aus 

dx 
d2  — 

v  dJ  të  =    _  dp  dp 

dç     dz2  dx  dy 

und  die  erstere  aus 

d2- 
v  ^  _d?  cFp  _  /<W 

"   df    dy2        P  dy2       ^dxy)    ' 

und    führen    die    Konstanten    a,  b,  c  u.  s.  w.  ein,   nach 
den  Gleichungen  (10). 

Wir  erhalten  dann  : 

Va  dx_  2(x*-y»-za)         2C 
"      d£  R*  E2  ' 

v      dx       4  xy 
~      df        R*    ' 

v     dx  _  4  xz 
"  °  d~  ~  ~W   * 

Indem    wir    diese     Gleichungen     zweimal    nach    x 
differenzieren,    folgt  : 

4 
(16)     S  a2  ==  —  ,     2'  ba  =  0 ,     2'  ca  =  0  ,  u.  s.  w. 


—     170     — 
Dann  ist  auch  : 

a-  -f-  b2  4-  c2  =  =rr  ,  u.  s.  w. 
(16a)  R4 

I    a'  a"-f  V  b"  -fc'c"  =  0,  u.s.w. 

Durch    Auflösen     der    obigen     Gleichungen     aber 
finden  wir: 

-=?  =  (ax  -f  by  +  cz)  x  —  »/>  a  (r2  —  C  R2)  , 

^  =  (&'  x  -f  b'  y  +  c'  z)  x  —  *  •>  a'  (r2  -f  C  R2) . 

dx 

j=  =  (a"  x  -f  b"  y  +  c"z)  x  —  x  .-  a"  (r2  +  C  R2)  , 

wo  zur  Abkürzung  gesetzt  ist: 

(17)  r2  =  x2  +  y2-|-z2  . 

Nun  ist  nach  (3.a): 

dxV 


folglich 

(^ -f  C)2  =  x2 1 (ax -j-  by  -f  cz)2  +  *  4  fr2  —  CR2)2 2'  a2  — 
—  x  (r2  —  C  R2)  2'  a  (ax  -f  by  -f  cz) 
=  4  ra  x2  _L  (r2  4_  c  R*)»  —  4  (r-  —  C  R2)  x2 


R 

also 

C  = 

=  0 

Wir 

erhalten  s 

lomit  : 

(18) 

r2 
^R2" 

dx 

(19)  ^  =  (ax  —  by  -f  cz)  x  -  Va  a  r2  , 


u.  s.  w. 


171 


bia  (6) 

dç        1    dx     -p  4  (ax  -f-  by  -j-  cz)  x  — 

'/a  ar2 

dx       p2  àç                                  r4 

R4  d  ax  —  by  +  cz 

T 

dx 
folgt  dann  weiter: 

R4  ax  -j-  by  -f-  cz 


c 


+  A  = 


oder,  wenn  wir  den  Anfangspunkt  der  (£,  ?;,  Ç)  mit  dem 
der  (x;  y,  z)   zusammenlegen: 

....      &  R4  ax  4-  by  4~  cz 

(20)    f  =  -  - — ^  r;  T       ,  u.  s.  w. 


Setzen  wir   also 
(21)  ç2  =  f2  +  >;2  +  ç2  , 

so  wird  nach  (20) 


a       R4 

Q   =  ^ 

oder 

(22) 

r2  q2  =  R4  , 

und 

ax  - 

r  by 

4_ 

i 

2ç 

CZ   = 5 

q 

,  u.  s.  w, 

Drehen  wir  endlich  das  Koordinatensystem  (x,  y,  z) 
so  um  den  Anfangspunkt,  dass  seine  Axen  mit  denen 
der  (ç,  7],  Ç)  zusammenfallen,    so  wird: 


—     172     — 

X  =  —  V-  R2  ^ax  -f-  by  -J-  cz)    , 
y  =   -y-2  R2  (a'x  -f-  b'y  -f  c'z   , 
z  =      -.Va  R2  (a"x  -f  b'x  +  c"z)    , 

und  wir  gelangen  zu  den  bekannten  Formeln  der  Trans- 
formation mittelst  reziproker  Radien: 

r2  q2  =  R1    , 

R3£ 

A'  =  — 5-    ,    u.  s.  w. 
Q' 

,      R2a- 

ç    =    — -=—      ,      U.  S.  W. 


als  der  einzigen  konformen  Abbildung  eines  Raumes  in 
einem  andern   Raum. 


Über  einige  Eigenschaften  des  geschmolzenen 
Quarzes. 

Von 
P.  Chappuis. 


Die  von  H.  Boys  angeregte  Anwendung  von  Quarz- 
fäden zum  Aufhängen  von  Galvanometern,  Spiegeln  und 
Magneten  lenkte  die  Aufmerksamkeit  der  Physiker  auf 
diese  Substanz,  deren  Eigenschaften  besonderes  Interesse 
verdienen. 

Zunächst  ist  es  mit  dem  Knallgasgebläse  gelungen, 
grössere  Gefässe,  Thermometer,  Dilatometer  und  Geiss- 
lersche  Röhren  aus  geschmolzenem  Quarz  zu  verfertigen. 
Lechatelier  erhielt  im  elektrischen  Ofen  einen  prisma- 
tischen Stab  von  50  mm  Länge  und  10  mm  Durch- 
messer und  konnte  auf  demselben  die  thermische  Aus- 
dehnung bestimmen. 

Er  fand  folgende  auffallend  kleine  Ausdehnungs- 
coeffizienten     zwischen    den     angegebenen    Temperatur - 

grenzen 

(0".180°)  (0°.532°)  (0°.588«)  (00.700°)  (0°.750°)  (0".850°) 
Cœff.Xl08=  28  71  85  107  120  74 

Bei  der  Kleinheit  der  Längenänderungen  treten  die 
Unregelmässigkeiten  der  Beobachtungen  zu  stark  her- 
vor, alsdass  man  aus  diesen  Zahlen  einen  Schluss  über  die 
Änderung  der  Ausdehnung  mit  der  Temperatur  ziehen 
könnte.     Doch  zeigt  der  Vergleich  mit  dem  sich  wenig 


—     174     — 

ausdehnenden  Platin ,  dass  zwischen  0°  und  700°  der 
mittlere  Ausdehnungscœffizient  des  geschmolzenen  Quar- 
zes nur  '/'.itel  desjenigen  des  Platins  beträgt.  Eine 
Bestätigung  dieser  Beobachtung  kann  man  in  der  be- 
kannten Thatsache  erblicken,  dass  der  geschmolzene 
Quarz  ohne  Gefahr  des  Zerspringens  glühend  in  Wasser 
getaucht  werden  kann. 

Indessen  schien  mir  eine  genauere  Bestimmung  der 
Ausdehnung  wünschenswert.  Ich  verfertigte  zu  diesem 
Zwecke  aus  geschmolzenem  Quarz  einen  Cylinder  von 
zirka  10  mm  Durchmesser  und  15  mm  Länge  und  Hess 
die  beiden  Endflächen  desselben  plan  und  parallel 
schleifen.  Die  Bestimmung  der  Ausdehnung  geschah 
mit  dem  Fizeauschen  Apparat  des  internationalen  Maass- 
und Gewichts-Bureau's  in  Sèvres.  Die  Konstanten  dieses 
Apparates  sind  bekanntlich  von  H.  Dr.  Benoît  zwischen 
0°  und  80°  mit  ausserordentlicher  Sorgfalt  und  Ge- 
nauigkeit bestimmt  worden.  Da  die  von  mir  befolgte 
Methode  bereits  von  Dr.  Benoît  im  Bd.  VI.  der  „Travaux 
et.  Mémoires  du  Bureau  international  des  Poids  et  Me- 
sures" ausführlich  beschrieben  worden  ist,  werde  ich  mich 
mit  der  Mitteilung  der  Beobachtungen  begnügen  und 
verweise  für  nähere  Details  auf  die  genannte  Abhandlung. 

Bei  dem  kleinen  Querschnitt  des  Quarzstückes  war 
es  nicht  möglich,  die  Beobachtung  der  Fransen  auf  mehr 
als  7  Punkte  zu  beziehen.  Das  Bild  der  Fransen  im 
Beobachtungsfernrohr  mit  den  Referenzmarken  wird 
in  Figur  1   dargestellt. 


Fig1 


—     175 

Die  Messungen  ergaben  für  die  Höhe  des  Cylinders: 
E  --  14,765  mm 
und  für  die  Dicke  der  Luftschicht  zwischen  Quarz  und 
Linse  : 

e  =  0,037  mm. 

Die  im  Oktober  11)01  ausgeführten  Beobachtungen 
sind  in  ihrer  Reihenfolge  in  nachstehender  Tabelle  mit 
den  zugehörigen  Korrektionen  zusammengestellt  worden. 
Die  Temperaturen  wurden  an  4  Quecksilberthermo- 
metern abgelesen,  deren  Gelasse  sich  in  unmittelbarer 
Nähe  des  Platiniridiumdreifusses  befanden.  Zwei  dieser 
Thermometer  wurden  zwischen  0°  und  50°,  die  2  anderen 
zwischen  50°  und  100°  beobachtet. 

Die  Abweichungen  der  Angaben  dieser  gut  ver- 
glichenen Instrumente  betragen  ausnahmsweise  4  Hundert- 
stel Grad  und  sind  im  allgemeinen  kleiner  als  2  Hun- 
dertstel. 

Nach  der  Regulierung  der  Temperatur  wurde  der 
Apparat  während  wenigstens  6  Stunden  sich  selbst  über- 
lassen, um  den  vollständigen  thermischen  Ausgleich 
zu  sichern.  Die  Beobachtungen  folgten  gewöhnlich  in 
Zeiträumen  von   12  Stunden  auf  einander. 

Zusammenstellung  der  Beobachtungen. 
Mittel  der 
Datum  Barometer      Temperatur  Fransenab-  Corrigiertes 

1901  auf  0°  reducieri  (Normalskalei  lesunp    Correction  Mittel 

f  f 

83,359  52,14  -f  0,009  52,149 
79,975  50,71  +  9  50,719 
70,481  46,73  -f  8  46,738 
57,826  41,46  -f  7  41,467 
48,649  37,59  +  5  37,595 
42,500  35,12  -f  5  35,125 
30,311     30,05    -f  4    30,054 


8. 

Okt. 

,  a.  m. 

752,79 

8. 

•i 

p.  m. 

749,87 

9. 

n 

a.  m. 

749,15 

9. 

n 

p.  m. 

757,03 

10. 

» 

a.  m. 

763,03 

10. 

h 

p.  m. 

762,77 

11. 

n 

p.  m. 

759,94 

-     176     — 

18,003 

15,746 

24,738 

34,997 

40,401 

62,926 

73,626 

84,233 

74,837 

67,742 

60,639 

44,360 

55,342 

14,634 

38,253 

33,749 

23,422 

13,610 

1,867 

1,611 

2,065 

10,229 

Diese  Beobachtungen  lassen  sich  durch  eine  Inter- 
polationsformel von  der  Form 

x  -}-  t  y  -j-  t2z  =  n 
darstellen,  worin  t  die  Temperaturen,  n  die  korrigierten 
Mittel  und  x,    y,    z   die  Konstanten  bezeichnen,    welche 
mit  Hilfe  der  Methode  der  kleinsten  Quadrate    zu    be- 
rechnen sind.    Man  erhält  demnach  für  diese  Konstanten: 
x  =  -f  17,537  686  9 
y  ==  -j-     0,412  630  52 
z  =  4-     0,000  025  894 
Vergleicht    man    die    aus    obiger  Funktion  berech- 
neten Werte  mit    den    Beobachtungen,    so    erhalt    man 


12. 

Okt. 

a.  m. 

758,74 

12. 

r> 

p.  m. 

757,33 

13. 

•n 

a.  m. 

758,62 

13. 

J) 

p.  m. 

757,25 

14. 

11 

a.  m. 

755,55 

14. 

11 

p.  m. 

753,50 

15. 

» 

a.  m. 

751,25 

16. 

H 

a.  m. 

748,25 

17. 

» 

a.  m. 

747,53 

17. 

n 

p.  m. 

748,78 

18. 

» 

a.  m. 

748,04 

18. 

n 

p.  m. 

746,22 

19. 

n 

a.  in. 

750,04 

20, 

il 

p.  m. 

752,75 

21. 

n 

a.  m. 

750,71 

21. 

n 

p.  m. 

751,71 

22. 

ii 

a.  m. 

752,27 

23. 

n 

a.  m. 

758,39 

25. 

)5 

a.  m. 

758,76 

25. 

51 

p.  m. 

757,48 

26. 

n 

a.  m. 

759,69 

28. 

M 

a.  m. 

765.20 

25,03 

+ 

2 

25,032 

24,04 

+ 

2 

24,042 

27,79 

f 

3 

27,793 

32,02 

+ 

4 

32,024 

34,24 

i 

T 

5 

34,245 

43,64 

H- 

7 

43,647 

48,04 

+ 

8 

48,048 

52,46 

+ 

9 

52,469 

48,54 

+ 

8 

48,548 

45,59 

+ 

8 

45,598 

42.66 

-j- 

7 

42.667 

35,89 

+ 

5 

35,895 

40,43 

-j- 

6 

40,436 

23,58 

+ 

2 

33,582 

33,36 

+ 

5 

33,365 

31,48 

-j- 

4 

31,484 

27,23 

+ 

3 

27,233 

23,17 

-f- 

2 

23,172 

18,29 

0 

18,290 

18,17 

0 

18,170 

18,37 

0 

18,370 

21.78 

+ 

1 

21,781 

—     177     — 

füllende  in  Fransen  ausgedrückte  übrigbleibende  Fehler 


Beob.-Bereclin. 

Beob.-Berechr 

i.                 Beob.-Berechn. 

f. 

f. 

f. 

1     -f  0,03 

11 

+  0,01 

21 

0,00 

2     -f  0,02 

12 

-  0,01 

22 

-f   0,01 

3       -  0,01 

13 

-f  0,04 

23 

—  0,01 

4     —  0,02 

14 

-  0,01 

24 

+  0,02 

5     —  0,08 

15 

-  0,01 

25 

+  0,01 

6     -f  0,00 

16 

—  0,01 

26 

—  0,02 

7     —  0,01 

17 

—  0,01 

27 

—  0,03 

8     +  0,06 

18 

+  <>,01 

28 

—  0,02 

9     -j-  0,00 

19 

+  0,00 

29 

+  0,02 

10     -f  0,03 

20 

—  0,02 

Aus  den    von 

H.  Di 

•.  Benoît 

bestimmten  Ausdeh- 

nungscoefficienten  der  Dreifussschrauben  aus  Platiniridium 

a'  _■=  -j-  0,000  008  597  6  ;  ß'  =  0,000  000  001  663, 
der  Wellenlänge  des  benutzten  Natriumlichtes  : 

~  =  0,000  294  648  5  mm 

ù 

und  den  obigen  Bestimmungen  der  Längen  des  Quarz- 
stückes und  der  Schrauben 

E0  =  14,765,     L0  =  14,802  mm, 
und  schliesslich  der  relativen  Coefficienten  y  und  z  lassen 
sich    die    Ausdehnungscoefficienten    des    geschmolzenen 
Quarzes  nach  den  Formeln 

Lo«  ■  -  y  2  L°tr    ~ z  2 

ß  =- 


E0  E0 

berechnen.  l) 

Man  erhält  auf  diese  Weise  folgenden  Ausdruck 
für  die  lineare  Ausdehnung  des  geschmolzenen  Quarzes  : 
L1?  =  L0(l  +  0,000  000  384  741  t  -f  0,000  000  001  150  t2) 


!)  Siehe  Trav.  et  Mém.  Bd.  VI.  p.  112. 

12 


—     178     — 

Obige  Formel  gilt  streng  genommen  nur  für  das  Tem- 
peraturintervall (0°  —  83°).  Extrapoliert  mau  aber  nach 
diesem  Ausdruck  zur  Vergleicbung  mit  Lechateliers 
Resultaten,  so  findet  man  für  die  entsprechenden  Tem- 
peraturen die  mittleren  mit  108  multiplicirten  Coeffi- 
cienten  : 

(0°.180°)       (0°.532°)       (0°.588°)       (00.700°)       (0".75O°i       (00.850°; 
59  100  106  11<>  125  136 

Diese  Werte  stimmen  der  Grössenordnung  nach 
befriedigend  mit  Herrn  Lechateliers  Beobachtungen. 


Die  sehr  geringe  Ausdehnung  des  geschmolzenen 
Quarzes,  sowie  die  grosse  Festigkeit  desselben  und  das 
gänzliche  Fehlen  von  elastischen  und  thermischen  Nach- 
wirkungen bei  gewöhnlicher  Temperatur  empfehlen  den 
geschmolzenen  Quarz  zu  thermometrischen  Zwecken  und 
besonders  zur  Verfertigung  von  Gasthermometergefässen. 
Allerdings  bietet  die  Bearbeitung  der  erst  bei  hoher  Tem- 
peratur flüssigwerdenden  Masse  beträchliche  Schwierig- 
keiten, doch  sind  von  Zeiss  in  Jena  schon  Quarzplatten 
von  nahezu  einem  Centimeter  Dicke  im  elektrischen  Ofen 
erhalten  worden,  und  es  lassen  sich  auch  von  der  Ver- 
wendung des  Acetylens  mit  Sauerstoff  neue  Fortschritte 
erwarten. 

Xach  einem  nicht  veröffentlichten  Versuch  von  Dr. 
Villard  in  Paris  soll  der  geschmolzene  Quarz  bei  hoher 
Temperatur  für  Wasserstoff  durchlässig  sein.  Wenn 
diese  Durchlässigkeit  auch  geringer  wäre,  als  die  vorn 
Platin,  so  würden  doch  die  Vorteile  der  Verwendung 
des  Quarzes  als  thermometrisches  Gefäss  dadurch  sehr 
vermindert. 

Um  die  erwähnte  Durchlässigkeit  zu  prüfen,  habe 
ich  folgende  Versuche  angestellt,  welche  die  Beobachtung 
von  Dr.  Villard  bestätigen. 


17!) 


Eine  Quarzröhre  von  circa  0,5  mm  Wandstärke 
wurde  an  einem  Ende  zu  einer  feinen  Spitze  ausgezogen 
und  zugeschmolzen.  Das  andere  Ende  wurde  mittelst 
Kitt  mit  Quecksilberverschluss  an  eine  Kahlbaum' sehe 
Quecksilberpumpe  angeschlossen  und  möglichst  weit 
evaeuiert.  Nach  Einstellung  der  Pumpe  beobachtete 
man  mit  Hilfe  des  Mac  Leod  Volummeters  die  regel- 
mässig stattfindende  langsame  Zunahme  des  Druckes 
im  ganzen  Apparat.  Dann  wurde  die  Quarzspitze  in 
den  heissesten  Teil  eines  Bunsen'schen  Brenners  gebracht 
und  somit  glühend  von  dem  in  der  Flamme  reichlich 
vorhandenen  Wasserstoff  umgeben.  Die  Zunahme  des 
Druckes  wurde  dann  etwas  stärker  befunden.  Bei  fort- 
gesetzter Erhitzung  bemerkte  ich,  dass  das  Quarzrohr, 
welches  anfangs  kaum  sichtbar  war,  nach  und  nach  zu 
leuchten  anfing  und  schliesslich  wie  ein  Metallrohr  glühte. 

Es  zeigte  sich  nach  der  Abkühlung  im  Innern  der 
Röhre  ein  schwarzer  Überzug,  vermutlich  aus  reduziertem 
Silicium  bestehend,  von  dem  das  Licht  herrührt.  Ein 
zweiter  Versuch,  der  unter  denselben  Bedingungen,  aber 
mit  einem  neuen  Quarzrohr  ausgeführt  wurde,  ergab 
ein  ähnliches  Resultat  ;  dagegen  bemerkte  ich  keine 
Schwärzung  in  einem  Quarzrohr,  welches  luftleergepumpt 
und  an  beiden  Enden   zugeschmolzen  war. 

Wenn  die  obigen  Versuche  als  eine  Bestätigung  der 
Beobachtung  von  Dr.  Villard  betrachtet  werden  können, 
so  erlauben  sie  doch  keine  genaue  Messung  der  Menge 
des  durch  die  Wände  hindurch  gedrungenen  Gases.  Ich 
suchte  daher  das  diffundierte  Gas  auf  andere  Weise 
sichtbar  zu  machen  und  in  einem  kleineren  Raum  auf- 
zufangen.    Dies  gelang  auf  folgendem  Wege  : 

Es  wurde  ein  U  förmiges  Rohr  aus  Quarz  verfertigt, 
dessen  langer  Schenkel  circa  12  cm  hatte  und  in  eine 
5  cm  lange  Spitze  auslief.     Der    kurze  Schenkel  wurde 


—     180     — 

mit    einer   kleinen   Kugel  versehen    und    trug    ebenfalls 
ein  Capillarrohr.     Fig.  2. 


Das  ganze  Rohr  wird  nun  im  Vacuum  mit  Queck- 
silber gefüllt  und  wie  ein  gewöhnlicher  Manometer  aus- 
gekocht. Man  schafft  etwas  Quecksilber  aus  der  Kugel 
und  schmilzt  das  Rohr  in  c  ab  mit  dem  Knallgasgebläse. 
Wird  die  gefüllte  Röhre  flach  gelegt,  so  tritt  infolge 
der  Capillarität  das  Quecksilber  aus  dem  engen  Rohr 
der  Spitze  und  stellt  sich  etwa  in  a  ein.  Erhitzt  man 
die  Spitze  mit  dem  Bunsenbrenner,  so  sieht  man  bald 
ein  Zurückweichen  des  Meniskus,  das  sich  nur  durch 
die  Einführung  von  Gas  in  den  abgeschlossenen  Raum 
erklären  lässt.  Wenn  die  Flamme  entfernt  wird,  so 
bleibt  der  Meniscus  etwa  in  b  stehen  und  erfährt  nach 
jeder  Erhitzung  eine  neue  Verschiebung. 

Die  Analogie  dieses  Verhaltens  des  geschmolzenen 
Quarzes  mit  demjenigen  des  Platins,  welches  bekanntlich 
von  Dr.  Villard  in  sinnreicher  Weise  zur  Regulierung 
des  Druckes  in  den  Crookeschen  Ampullen  verwendet 
wird,  hat  mich  veranlasst,  das  durch  Diffusion  einge- 
drungene Gas  auf  demselben  Wege  wieder  zu  entfernen. 
Es  genügt  hierzu,  das  Rohr  in  einer  wasserstoffreien 
Atmosphäre  zu  erhitzen.  Das  Quarzrohr  wird  zu  diesem 
Zwecke  mit  einem  weiten,  an  beiden  Enden  offenen 
Platinrohr  umgeben.  Beim  Erhitzen  hat  man  darauf  zu 
achten,  dass  die  Flammengase  nicht  in  das  Rohr  ein- 
dringen, und  dass  Quarz  und  Platin  sich  nirgends  be- 
rühren, da  das  Platin   vom  Quarz  angegriffen  wird. 


—     181     — 

Es  dringen  wohl  durch  Diffusion  Spuren  von  Wasser- 
stoff' in  den  inneren  Raum,  dort  verbrennen  sie  aber 
beim  Zutritt  der  Luft  und  kommen  nicht  mit  dem  Quarz- 
rohr in  Berührung.  Nach  mehrstündiger  Erhitzung  kann 
auf  diese  Weise  das  hineinditfundierte  Gas  durch  den 
umgekehrten  Prozess  wieder  herausgeschafft  werden. 

Was  die  Durchlässigkeit  des  geschmolzenen  Quarzes 
betrifft,  so  lassen  sich  nur  annähernde  Angaben  aus  den 
Versuchen  ableiten,  weil  die  Dicke  der  Quarz  wand  nicht 
gleichmässig  ist  und  die  erhitzte  Oberfläche  nicht  genau 
bestimmt  werden  kann.  Es  sollen  daher  die  nachstehenden 
Zahlen  nur  zur  Bestimmung  der  Grössenordnung  der 
Durchlässigkeit  dienen  : 

Länge  des  erhitzten  Rohrteiles         15      mm 

Äusserer  Durchmesser  des  Rohres     1      mm 

Dicke  der  Wandungen  0,2  mm 

Die  nach  sechsstündigem  Erhitzen  durchgelassene 

Gasmenge  betrug  zirka  35  Kubikmillimeter   bei    10  mm 

Quecksilberdruck. 

Aus  dem  Vorhergesagten  ist  mit  grosser  Wahr- 
scheinlichkeit zu  schliessen,  dass  das  diffundierte  Gas 
AVasserstott'  ist. 

Bestimmung  des  spezifischen  Gewichtes  des  geschmolzenen 
Quarzes. 

Nach  den  früheren  Angaben1)  von  Rose  und  Deville 
ist  die  Dichte  der  aus  Silicaten  bereiteten  amorphen 
Kieselsäure  und  des  geschmolzenen  Quarzes  —  2,2. 

Eine  neue  Bestimmung  dieser  Konstante .  welche 
ich  an  einem  selbst  bereiteten  Stäbchen  geschmolzenen 
Quarzes  ausführte,  ergab  2.192;  doch  ist  dieser  Wert 
jedenfalls  etwas  zu  klein,  da  das  Stück  leicht  sichtbare 
Bläschen  enthielt. 


!)  Landolt  und  ßörnstein.    Physik.    Tabellen.    8.  140. 


182 


Durch  die  grosse  Freundlichkeit  der  Firma  Zeiss 
in  Jena  wurde  es  mir  möglich,  über  eine  vollkommen 
klare  Linse  aus  geschmolzenem  Quarz  zu  verfügen.  Diese 
lieferte  folgende  Resultate: 

Masse  des  Quarzstückes  13  g  40-4,  6  mg 
Volum  bei  0°  6  ml  0885 

Spez.  Gewicht  bei  0°  2,2016 

Umwandlungstemperatur. 

Über  die  Umwandlung  des  kristallinischen  Quarzes  in 
den  geschmolzenen  Zustand  liegen  nur  unvollständige  Be- 
obachtungen vor.  Sowohl  die  optischen  Eigenschaften  als 
die  Ausdehnung  und  das  spez.  Gewicht  der  beiden  Mo- 
difikationen der  Kieselsäure  lassen  vermuten,  dass  der 
Übergang  kein  stetiger  ist.  Beim  Erwärmen  von  kry- 
stallinischem  Quarz  zerspringen  grössere  Stücke  bei  der 
Botglut.  Doch  kann  man  bei  vorsichtiger  Erwärmung 
kleinere  Quarzplatten  auf  viel  höhere  Temperaturen  er- 
hitzen, ohne  dass  sie  zerfallen  oder  die  Krystallstruktur 
verlieren. 

Eine  8  mm  dicke  Quarzplatte,  welche  in  polari- 
siertem Licht  verschiedene  Makel  zeigte,  wurde  in  einem 
Ofen  der  Porzellanfabrik  in  Sèvres  längere  Zeit  auf 
1300°  erhitzt.  Sie  zerfiel  dabei  in  grössere  Stücke, 
welche  optisch  untersucht,  genau  dieselbe  Struktur 
zeigten  wie  zuvor.  Die  vor  dem  Zerfallen  beobachteten 
scharfen  Bänder  der  Platte  blieben  ebenfalls  unverändert. 

Die  Herren  Mallard  und  Lechatelier, r)  welche  die 
optischen  Eigenschaften  des  Quarzes  bei  höheren  Tem- 
peraturen untersuchten,  fanden,  dass  dieselben  bei  570" 
eine  plötzliche  Änderung  erleiden,  unterhalb  und  ober- 
halb   dieser  Temperatur    aber    nur    stetige  Änderungen 


i)  Annales    de    C&im.    et   de  Phys.    7me  S.  t.    VI.  92;    1895. 


188 


zeigen.  Der  kritische  Punkt  bei  570°  wurde  sowohl 
bei  steigender  als  bei  sinkender  Temperatur  beobachtet 
und  scheint  durch  die  Entwicklung  von  starken  Span- 
nungen bedingt,  welche  sich  durch  das  erwähnte  Zer- 
springen der  grösseren  Quarzstücke  in  der  Rotglut 
kundgeben. 

Die  eigentliche  Umwandlung  muss  nach  dem  Vor- 
hergehenden bei  einer  höher  als  1300°  liegenden  Tem- 
peratur stattfinden.  Wenn  man  am  Knallgasgebläse  das 
Schmelzen  von  kleineren  Quarzkrystallen  beobachtet,  so 
sieht  man  in  der  That  erst  im  Augenblick,  wo  die  scharfen 
Kanten  in  der  Weissglut  zu  schmelzen  anfangen,  class 
eine  Zersplitterung  der  ganzen  Masse  eintritt,  wodurch 
dieselbe  undurchsichtig  wird.  Grössere  Stücke,  welche 
durch  eine  oberflächliche  geschmolzene  Quarzschicht 
nicht  zusammengehalten  werden,  zerfallen  bei  dieser 
Temperatur,    die    offenbar  der  Umwandlung  entspricht. 

Man  darf  sich  also  nicht  der  Hoffnung  hingeben, 
grössere  krystallinische  Quarzplatten  ohne  Zersplitterung 
in  die  amorphe  Modifikation  umwandeln  zu  können. 


Basel,  September  1902. 


Über  die  Synthese  von  Phenyloxytriazolen  und  über 
„sterische"  und  „chemische"  Hinderung. 

Von 
Hans  Hupe. 

(Bearbeitet  mit  Herrn  G.  Metz.) 


Vor  drei  Jahren  Laben  Rupe  und  Labhardt  ')  eine 
neue  Synthese  von  Phenyloxytriazolen  beschrieben.  Sie 
erhielten  bei  der  Einwirkung  von  Harnstoffchlorid  (Car- 
baminsäurechlorid)  auf  ß-Acidylphenylhydrazine  nicht, 
wie  erwartet  werden  konnte,  das  noch  unbekannte  ß- 
Phenylsemicarbazid,  sondern,  indem  die  Reaktion  sogleich 
unter  Wasserabspaltung  und  Ringschluss  weiter  geht, 
Phenyloxytriazole  : 

XH  -  CO  ■  R 

+  Cl  •  CO  •  NH2  = 
Ce  H5  -  NH 

XH  -  CO  - R 

C0H5-X-CO-NH2 

intermediär,  nicht  beständig 
R 


N=C/ 

CeHs-N-CO 


>NH  +  H20 


N  =  C/R 
l  XN. 

C,;H,  X-CXQH 


a)  Rupe  und  Labhardt,  Ber.  der  deutsch,  ehem.  Ges.  33,  233 
(1900). 


—     185     — 

Diese  ganz    allgemeine  Methode    versagte    indessen 

als  für  R  ein  rein  aromatischer  Rest  angewandt,    d.  h. 

als  /?-Benzoylphenylhydrazin 

NH  -  CO  •  C6  H5 

I 
Ce  H5  -  NH 

mit  Harnstoffchlorid  in  Reaktion  gebracht  wurde.  In 
diesem  Falle  entstand  keine  Spur  eines  Diphenyloxy- 
Iriazols,  ja  das  Carbaminsäurechlorid  reagierte  überhaupt 
nicht  mit  dem  Benzoylphenylhydrazin.  Rupe  lind  Lab- 
liardt  stellten  es  damals  als  sehr  wahrscheinlich  hin,  dass 
hier  ein  Fall  von  „sterischer  Hinderung"  vorliege,  indem 
sie  annahmen,  dass  der  Benzolrest  infolge  seiner  Raum- 
erfüllung eine  Wasserabspaltung,  beziehungsweise  ein 
Herantreten  der  Amidgruppe  an  das  Carbonyl  der  Ben- 
zoesäure unmöglich  mache. 

Seit  vor  etwa  8  oder  10  Jahren  der  Begriff  der 
sterischen  Hinderung  durch  Kehr  mann1),  V.  Meyer2), 
Pinner3)  und  andere  in  die  organische  Chemie  einge- 
führt worden  ist,  sind  viele  Fälle,  bei  denen  eine  che- 
mische Reaktion  ausblieb  oder  nicht  normal  verlief,  bei 
sonst  als  reaktionsfähig  bekannten  Atomgruppierungen, 
damit  erklärt  worden.  Auch  die  oben  gebrachte  An- 
schauung von  Rupe  und  Labhardt  schien  darin  eine  Stütze 
zu  rinden,  dass  die  Reaktion,  also  die  Ringschliessung 
zu  einem  Oxytriazolderivat,  bei  dem  ß-Phenytacetylphenyl- 
hydrazin  sich  glatt  vollzog,  weil  nun  der  raumerfüllende, 
sterisch  hindernde  Benzolkern  durch  das  Dazwischen- 
treten einer  Alkylgruppe  in  grössere  Entfernung  ge- 
rückt wurde: 


])  Kehrmann,  Ber.  der  deutsch,  ehem.  Ges.  2:1,  130  (1890). 
-I   V.  Meyer,   Ber.    der  deutsch,  ehem.  Ges.  27,   510,    1580  u. 
3146  (1891);  28,  182,  1254,  2773,  3!  97;  29,   1397. 

3)  Pinner,  Ber.  der  deutsch,  ehem.  Ges.  23,  2917  (1890). 


—     186 

XH  -  CO  •  CH2  •  Ce  H, 

I 
Ce  £h  -  NH  +  Cl  •  CO  •  NH2 

XH  -  CO  •  CH2  -  Ce  H, 

HCl    !  -Ce  H:,  -N-CONH2 

N  =  c/CH2.CeHg 

i        >N 
(V,H, -N-CX()H 

Es  schien  mir  aber  clocli  von  Interesse  zu  sein,  diese 
Erscheinungen  weiter  zu  verfolgen  und  sicher  festzu- 
stellen, ob  es  sich  hier  wirklich  um  eine  räumliche 
Hinderung  handelt.  Denn  es  kann  nicht  verschwiegen 
werden,  dass  in  letzter  Zeit  von  dem  Begriffe  der  „ste- 
rischen  Hinderung'-  eine  etwas  zu  weitgehende  Anwen- 
dung gemacht  wurde,  hat  doch  auch  E.  Fischer1)  vor 
kurzem  auf  diese  Thatsache  hingewiesen.  Dies  wächtige 
Gebiet  der  Stereochemie  mit  seinen  natürlichen  Grenzen 
zu  umgeben,  muss  jetzt  die  Aufgabe  aller  derjenigen 
sein,  die  sich  mit  solchen  Dingen  beschäftigen. 

Diese  Betrachtungen  waren  es,  welche  zu  der  vor- 
liegenden Untersuchung  geführt  haben.  Sie  wurde  von 
zwei  verschiedenen  Gesichtspunkten  aus  in  Angriff  ge- 
nommen. Erstens  galt  es  festzustellen,  ob  auch  bei  An- 
wesenheit eines  vollkommen  hydrierten  Benzolresles  die 
Reaktion  mit  Harnstoffchlorid  und  die  Bildung  eines 
Oxytriazolringes  ausbleibe.  Es  wurde  zu  diesem  Zwecke 
das  noch  unbekannte  Phenylhydrazid  der  Hexahydro- 
benzoesäure  mit  Harnstoffchlorid  in  Wechselwirkung  ge- 
bracht. Nach  Analogie  hätte  man  erwarten  dürfen,  dass 
sich  das  Hexahydrobenzo)  lderivat  genau  so  wie  das  Ben- 
zoylderivat  selbst  verhalten  würde.  Denn  während  be- 
kanntlich   die   rein    aromatischen  Ketone    ar.  —  CO  —  ar. 


')  E.  Fischer,  ßer.  der  deutsch,  ehem.  Ges.  35,  .S45  (1902). 


—     187 

zwei  stereoisomere  Oxime  (syii-  und  anti-Form)  liefern, 
hat  man  von  rein  aliphatischen  aliph.  —  CO  —  aliph.  und 
gemischt  aromatisch-aliphatischen  :  ar.  -  CO  —  aliph.  Ke- 
tonen   immer  nur  1    Oxim   erhalten  können. 

V.  Meyer  und  Scharvin1)  machten  nun  die  interes- 
sante Entdeckung,  dass,  wenn  der  zweite  Benzolkern 
vollkommen  hydriert  ist,  also  heim  HexahydrobetlZO- 
ph&non  Co  Hs  -  CO  -  Co  Hu  ,  ebenfalls  2  Oxime  sich 
bilden,  dies  Keton  verhält  sich  also  genau  wie  das  Ben- 
zophenon  Co  Hs  —  CO  -  Co  Ha ,  und  im  vergangenen 
Sommer  hat  Scharvin 2)  die  gleiche  Beobachtung  bei  dem 
Tetrahydronaphtyl-phenylketon  Co  Hd  -  CO  -  CioHn  ge- 
macht. Es  hat  mich  aus  diesem  Grunde  einigermassen 
überrascht,  dass  im  Hexahydrobenzoyl- Phenylhydrazin 
der  hydrierte  Benzolrest  sich  genau  so  wie  eine  rein 
aliphatische  Gruppe  verhielt,  denn  es  entstand  mit  Harn- 
stoffchlorid glatt  das  l-Phenyl-3-hexahydrophenyl-5-oxy- 
triazol: 

NH-CO-OeHii 

Co  Hö  -  NH  +  Ol  •  CO  •  NH2 

N=c/CoHn 
\  \ 

Co  Hr>  -  N  -  C  (  rATT      '   H  C1  +  m  °" 
\  Uli 

Aber  die  Analogie  mit  den  aliphatischen  Säureresten 
geht  noch  weiter;  gerade  so  wie  bei  dem  von  Rupe  und 
Labhardt  untersuchten  ß-Formyt,  -  ß-Acetyl  -  und  ß-Pro- 
pionyl-Phenylhydrazin  bildet  sich  auch  bei  Anwendung 
von  ß-Hexahydrobenzoylphenylhydrazin  zunächst  ein  De- 
rivat des  Oxytriazols  mit  der  Gruppe  -  CO  ■  ISlli  : 


1)   V.  Meyer  und  Scharvin,  Bei*,  der  deutsch,   ehem.  Ges.  30, 
1940.  2862  (1897). 

-j  Scharvin.   Her.  der  deutsch,  ehem.  Ges.  33,  2511  (1902). 


AT      n  *  ' 

>N-CONH2 
Ce  Hs  -  N  -  C  /  Q 

aus  welchem   leicht    durch  Behandeln    mit  Alkalien  der 
Harnstoffrest  entfernt  werden  kann. 

Daraus,  dass  sich  der  Rest  der  Hexahydrobenzoe- 
säure  bei  dieser  Reaktion  gerade  so  wie  derjenige  einer 
rein  aliphatischen  Säure  verhält,  inuss  der  Schluss  ge- 
zogen werden,  dass  das  entgegengesetzte  Verhalten  des 
Benzoylphenylhydrazins,  welches  mit  Harnstoffchlorid 
keinen  Ring  liefert,  nicht  auf  sterische  Hinderung  zurück- 
zuführen ist.  Denn  es  ist  zweifellos,  dass  die  Raum- 
erfüllung des  Benzoyl-  und  des  Hexahydrobenzoyl-Restes 
annähernd  die  gleiche  ist,  beides  sind,  und  das  ist  hier 
das  wesentlichste,  Ringe.  Der  ganze  bedeutende  Unter- 
schied zwischen  den  beiden  Phenylhydrazinderivaten  ist 
lediglich  auf  die  grosse  chemische  Verschiedenheit  der 
beiden  Säureradikale  zurückzuführen.  Die  Benzoesäure 
wird  durch  die  Hydrierung  in  ihrem  chemischen  Cha- 
rakter tiefgreifend  verändert,  die  Hexahydrobenzoesäure 
steht  einer  aliphatischen  Säure  mit  gleich  viel  Kohlen- 
stoffatomen viel  näher,  sie  hat  nichts  mehr  von  dem 
spezifisch  „aromatischen"  Charakter  der  Benzoesäure, 
sie  ist  mithin  ein  viel  mehr  positives  System  und  von  weit 
höherem  Sättigungszustand  wie  diese1).  Wird  aber  der 
negative  Charakter  der  Benzoylgruppe  durch  Dazwischen- 
treten eines  positiven  Alkylrestes  abgeschwächt,  so  kann 
die  Reaktion,  d.  h.  die  Ringbildung  wieder  sich  voll- 
ziehen, wie  das  in  der  That  bei  dem  Phenylhydrazide 
der  Phenylessigsäure  von  mir  schon  früher  beobachtet 
wurde.     Ein    weiterer  Beweis    für    die  Ansicht,    dass  es 

i)  Eine  plausible  Erklärung  für  die  Erscheinung,  dass  nur  rein 
aromatische  Ketone  2  stereoisomere  Oxime  geben,  ist  wohl  noch 
nicht  gefunden  worden. 


— .    189 

nicht  die  Raumerfüllung  des  Ringes  ist,  welche  im  Falle 
der  Phenyloxytriazolsynthese  mit  Aryl-Phenylhydrazinen 
die  Reaktion  hemmt,  bildet  der  zweite  Teil  der  vor- 
liegenden Arbeit. 

Es  handelte  sich  nämlich  in  zweiter  Linie  darum': 
zu  untersuchen,  in  welcher  Weise  diese  Oxytriazolsyn- 
these  durch  eine  in  der  Nähe  des  (ß-acidyl)  Car- 
bonyls  befindliche  Doppelbindung  beeinrlusst  wird.  Haben 
wir  es  doch,  Avie  zahlreiche  Arbeiten  der  letzten  Jahre 
zeigten,  bei  einem  durch  Doppelbindung  verknüpften 
Komplexe  von  2  Kohlenstoffatomen  mit  einem  ausge- 
prägt negativen  Systeme  zu  thun:  -  C  =  C  — . 

Thatsächlich  wird  nun  auch  durch  die  Anwesenheit 
einer  solchen  Doppelbindung  die  Bildung  der  Phenyl- 
oxytriazole  ganz  bedeutend  gehemmt,  ja  sogar  unter 
Umständen  ganz  unmöglich  gemacht.  Zur  Verwendung 
gelangten  die  Phenylhydrazide  der  Crotonsäure  und  der 
Zimmtsäure;  um  den  Verlauf  der  Synthese  quantitativ 
verfolgen  zu  können,  musste  dieselbe  auch  mit  den  Phe- 
nylhydraziden  der  entsprechenden  gesättigten  Säuren, 
also  mit  denjenigen  der  n- Butter  säure  und  der  Hydro- 
zimmtsäure  ausgeführt  werden. 

Während  mit  n-Butyryl-Phenylhydrazin  und  Harn- 
stoffchlorid sich  das  t-Plienyl-3-propyl-5-oxytriazol  leicht 
bildet: 

NH  -  CO  •  CH2  -  CH2  -  CH, 

|  +  Cl  •  CO  •  NH>  = 

CV,H5  -NH 

T^r  _  p  /  CH2  —  CH'J  —  CH3 

C,.  H       N     P      N       +HCI  +  H2O 

1  -  Phenyl-3-pröpyl-5-oxytriazol 

erhält  man  bei  der  Einwirkung  von  Carbamiitsäurecltlorid 


—     190 

auf  ß-Grotonyl-Phenylhydrazm  unter  sonst  ganz  gleichen 
Bedingungen  nur  etwa  ein  Viertel  der  Ausbeute  an  Oxy- 
triazol  im  Vergleiche  mit  derjenigen  des  Propylderi- 
vates  : 

XH  -  CO  •  CH  =  CH  -  CH3 

+  Cl  •  CO  •  NH2  = 
Cg  H5  -  N  H 

„     ~    -  CH  =  CH  —  CH3 

I         >N 

Ce  H.j  =rf-C\   /-xrT 
x  OH 

l-Phenyl-3-propenyi-5-oxytriazol 
Ferner  entsteht  bei  der  Bildung  des  Propylderivates 
ebenso    wie    bei    der  Synthese    der   übrigen   mit  alipha- 
tischer Seitenkette  zuerst  ein  Harnstoff-Derivat: 

-_     p\  /  CH2  —  CH-2  —  CH3 

\N-CO-NH2 
C6H5-N-C<  Q 

bei  dem  Propenyl-phenyloxytriazol  dagegen,  wohl  wegen 

der  ausgeprägt    sauren  Eigenschaften    der  ungesättigten 

Seitenkette,  kein  solches. 

Lässt  man  auf   ß-Hydrocinnamyl-  Phenylhydrazin 

Harnstoffchlorid  einwirken,  so  bildet  sich,  allerdings  in 

nicht  ganz    befriedigender  Ausbeute,    was   auch  auf  die 

Anwesenheit  des    negativen,    ungesättigten    Benzolrestes 

zurückzuführen   ist,    das   l-Phenyl-3-phenylaethyl-S-oxy- 

triazol: 

\T     f 1  /  ^-^-  —  CH2  —  Co  H.-. 

I  ~     >N 
CoH,-N-C<OH 

Versucht  man  aber,  unter  gleichen  Bedingungen 
(in  Benzollösung)  Harnst  off  chlor  hl  und  ß-Cinnamyl-Phe- 
nylhydrazin'. 


—     191 

NH  -  CO  -  CH  =  OH  -  Co  H, 

I 
Co  H3  -  NH 

auf  einander  einwirken  zu  lassen,  so  erhält  man  kein 
Oxytriazol,  sondern  das  Ausgangsmaterial  wird  so  gut 
wie  vollständig  zurückgewonnen. 

Auch  unter    veränderten  Versuchsbedingungen,   hei 
höherer  Temperatur   (in  Toluollösung),    konnte    das    ge- 
suchte i-Phenyl-3-phenylaethylen-ö-oxylriazol: 
N  =  c/CH  =  CH_CoH, 

GH^-C"0H. 

nicht  dargestellt  werden. 

Man  sieht,  wie  sich  hier  der  negative,  reaktions- 
hemmende  Einfluss  der  Doppelbindung  in  weit  be- 
deutenderem Maasse  bemerkbar  macht,  als  bei  einer 
rein  aliphatischen  ungesättigten  Seitenkette.  Die  Wir- 
kungen der  Gruppen  -  CH  =  CH  -  und  -  Co  Hr,  -  ad- 
dieren sich,  so  dass,  trotz  der  grösseren  Entfernung  des 
Benzolkernes,  das  Ergebnis  dasselbe  ist,  als  wenn  dieser 
unmittelbar   mit    dem    Phenylhydrazin    verbunden    wäre. 

Alle  diese  Reaktionen  zeigen,  dass  wir  es  hier  mit 
einer  chemischen  Umsetzung  zu  thun  haben,  die  durch 
negative  oder  ungesättigte  Atomgruppen  stark  gehemmt, 
ja  sogar  unter  Umständen  vollständig  unmöglich  ge- 
macht wird,  der  Phenylrest  muss  hiebei,  ganz  im  Sinne 
unserer  modernen  Anschauungen,  ebenfalls  als  unge- 
sättigtes Radikal  betrachtet  werden.  Dagegen  spielen 
sterische  Einflüsse  hier  keine  Rolle.  Unzweifelhaft  ste- 
rische  Hinderung  ist  bei  der  Hemmung  einer 
Reaktion  nur  dann  anzunehmen,  wenn  diese 
durch  positive  und  durch  negative  Gruppen  in 
gleicher    Weise    herbeigeführt    wird.      Es    würde 


—     192     — 

vielleicht  angebracht  sein,  für  jene,  nicht  auf  sterischer 
Hinderung  beruhende  Hemmung  eine  Bezeichnung  einzu- 
führen, ich  schlage  dafür  „chemische  Hinderung"  vor. 
Was  die  oben  erwähnten  primären  Einwirkungs- 
produkte von  Harnstoff chlorid  auf  die  Phenylhydrazide 
gesättigter  aliphatischer  Säuren  und  der  Hexahydroben- 
zoesäure  betrifft,  so  haben  Hupe  und  Labhardt  schon 
früher  angenommen,  dass  solche  Körper  die  Gruppe 
-  CO  •  NH2  an  Stickstoff  gebunden  haben,  nach  Art  der 
Harnstoffe: 

N  =  c  /R(aliph) 

^N-CO-NHa 

CgHd-N-C7 

I 

und  dass  erst  nach  der  Abspaltung  der  Gruppe  -  CO 
NH2  (durch  Hydrolyse)  eine  Umlagerung  zum  Oxytriazol 
stattfindet  : 

N  =  C/E 

1  >  N  -  CO  •  NH, 

CoHö-N-r 

1  H.  0  =  CO.  +  NHa  1  N  =  C  /  R  N  =  C  /  J 

^NH=  I  XX 

(  V,  H,  -  N  -  CO  7  CâHo  -N-  C  Ç 

Indessen  wäre  natürlich    auch    die  Entstehung    von 
Verbindungen  nach  Art  der  Urethane  möglich  : 

R 


\N 


I 
C6H5-N-CXo    co   NH3 

Die  Untersuchung  der  Acetylderivate  der  Phenyl- 
oxytriazole  —  es  wurden  während  der  vorliegenden  Arbeil 
dargestellt  das  Acetylprodukt  des  Hexahydrophenyl-,  des 


193 


Phenylaethyl-  und  des  Propyl-phenyloxytriazols  —  zeigte 
eine  weitgehende  Analogie  im  Verhalten  dieser  Acidyl- 
und  jener  Kohlensäure-Abkömmlinge;  beide  sind  gleich 
unbeständig  und  leicht  zersetzlich.  Es  würde  mich  dies 
zu  der  Ansicht  geführt  haben,  dass  beide  Körperklassen 
Sauerstoffderivate  seien,  dass  also  die  zweite,  die  Ure- 
thanformel,  für  die  primären  Einwirkungsprodukte  von 
Harnstoffchlorid  auf  /?-Acidyl-Phenylhydrazine  (mit  aliph. 
Säureresten)  anzunehmen  sei. 

Nun  hat  jedoch  vor  kurzem  Posner1)  die  interes- 
sante Beobachtung  gemacht,  dass  bei  der  Umsetzung 
von  ß-Uikctonen  mit  Semicarbazid  Ringe  entstehen, 
welche  ebenfalls  die  Gruppe  —  CO  —  NH2  enthalten,  und 
zwar  unzweifelhaft  an  Stickstoff  gebunden: 
CH3  -  C     CH  =  C  -  CH3 

N-        -N  -  CO  •  NH2 
3-5-Dimethyl-pyrazolcarbamid  von  Posner. 

N  =  C  /  Cc  Hl  ' 

J  >  N  -  CO  •  NH2 
C6  H.-,  -  N  -  C  / 

l-Phenyl-3-hexahydrophenyl-5-triazolon-4-carbonamid 
von  Hupe  und   Metz. 

Diese  Carbonamide  Posner'' s  sind  nun  ebenfalls 
äusserst  unbeständig  und  spalten  die  Gruppe  —  CO  •  NH-2 
sehr  leicht  ab,  so  dass  also  die  grosse  Labilität  unserer 
Triazolon-Carbonamide  nicht  gegen  die  früher  aufge- 
stellte Konstitutionsformel  I  spricht.  Mit  aller  Sicher- 
heit lässt  sich  allerdings  die  Konstitution  dieser  labilen 
Verbindungen,  die  stets  die  Existenz  zweier  desmotropen 
Formen  zulassen,  vorläufig  noch  nicht  bestimmen. 


1)  Posner,   lier,  der  deutsch,  ehem.  Ges.  34,  3973  (1!H)1). 

13 


—     194 
Experimenteller  Teil. 


Chlorid  der  Ilexahydrobenzoesäure. 

Das  scharf  getrocknete  Natriumsalz  der  Hexahydro- 
benzoesäure *)  wurde,  in  trockenem  Benzol  suspendiert, 
mit  frisch  über  Caliumphospat  destilliertem  Phosphor- 
oxychlorid  versetzt  (2  Mol.  Gew.  Natriumsalz,  1  Mol. 
Gew.  Phosphoroxychlorid)  und  eine  halbe  Stunde  unter 
ßückfluss  gekocht.  Die  Lösung  des  Säurechlorides  wurde 
vom  Natriummetaphosphat  abgezogen  und  der  Rückstand 
mit  Äther  nachgewaschen. 

ß-IIexaliydrobenzoyl-pheiiyHiydraziii. 

Co  Ho  -  NH  -  NH  -  CO  -  Co  Hn 
Die  Lösung  von  2  Mol.  Gew.  Phenylhydrazin  in 
dem  doppelten  Volum  Äther  wurde  in  einem  mit  Rück- 
flusskühler versehenen  Kolben  unter  guter  Kühlung  vor- 
sichtig mit  der  Lösung  des  Säurechlorides  (1  Mol.  Gew.) 
versetzt.  Nach  beendigter  Reaktion  wurde  vom  ausge- 
fallenen salzsauren  Phenylhydrazin  scharf  abgesogen  und 
das  Salz  gut  mit  Äther  nachgewaschen.  Das  ätherische 
Filtrat  wurde  nach  dem  Verdunsten  des  Lösungsmittels 
mit  warmem  Wasser  durchgearbeitet,  das  fest  gewordene 
Phenylhydrazid  abfiltriert,  mit  AVasser  ausgewaschen 
und  schliesslich  dreimal  aus  verdünntem  Alkohol  um- 
krystallisiert. 

Der  Körper  bildet  schöne  weisse  Prismen  vom 
Schmpt.  164°. 

0,1854  g.  Sbst.  0,4861g.  CO2  0,1410  g.  Ha  0 
0,1802  g.  Sbst,  0.4730  g.  CO2  0,1370  g.  H2  O 
CisHisONa  Ber.  C  71,50  H  8,26 

Gef.  C  71,47  71,58  H  8,41   8,43 

!)  Die  Säure  wurde  nach  Einhorn  und  Meyenbcrg  [Her.  der 
deutsch,  ehem.  Ges.  27,  2833  (1894)]  durch  Reduktion  von  p-Amino- 
benzoesäure  mit  Natrium  und  Amylalkohol  dargestellt  und  mehr- 
fach unter  vermindertem  Druck  destilliert. 


195 


l-Pheuyl-3-hexaliy(lrophenyl-5-triazoloii-3-carboii- 
amid. 

N.=  c/C6Hii 

|  x>  N  -  CO  •  NH2 

Ce  H5  -  N  -  C  < 

20  g.  jS-Hexahydrobenzoylphenylhydrazin  wurden  in 
800  g.  Benzol  (natriumtrocken)  unter  Erwärmen  gelöst 
und  nach  dem  Erkalten  17,5  g.  Harnstoffchlorid  (=  2  Mol. 
Gew.  und  ca.  20°/o  Uberschuss)  dazu  gefügt.  Das  Ge- 
menge erwärmt  sich  schon  von  selbst  etwas,  färbt  sich 
schwach  rot  und  stösst  Salzsäuredämpfe  aus.  Es  musste 
nun  2 7-2  Stunden  lang  am  Rückflusskühler  gekocht 
werden. 

Das  Benzol  wurde  darauf  unter  vermindertem  Druck 
abdestilliert,  und  der  trockene  weisse  Rückstand  mit  Al- 
kohol ausgekocht,  dabei  blieben  1,5  g.  Salmiak  ungelöst 
zurück.  Aus  dem  alkoholischen  Filtrate  schieden  sich 
nach  dem  Erkalten  massenhaft  weisse  seidenglänzende 
lange  Nadeln  ab.  Als  diese  mit  verdünnter  Natronlauge 
behandelt  wurden,  um  unverändertes  Phenylhydrazid  von 
dem  in  Alkalien  leicht  löslichen  Oxytriazol  zu  trennen, 
konnte  eine  kräftige  Ammoniak-Entwicklung  wahrge- 
nommen werden,  ebenso,  beim  Ansäuern  der  Lösung, 
wobei  das  Oxytriazol  ausfiel,  eine  Kohlensäureentwick- 
lung. Dieselbe  Beobachtung  wurde  auch  mit  der  aus 
der  Mutterlauge  von  der  ersten  Krystallisation  neben 
1,3  g.  Salmiak  und  weiteren  Mengen  unveränderten 
Phenylhydrazides  gewonnenen  Substanz  gemacht. 

Es  musste  hieraus  der  Schluss  gezogen  werden,  dass 
das  primäre  Einwirkungsprodukt  von  Harnstoffchlorid 
auf  das  Phenylhydrazinderivat  ein  Carbamid  ist,  und  es 
wurde  nun  bei  einem  zweiten  Versuche  so  verfahren, 
dass  das    nach    dem  Abdestillieren    des  Benzols    hinter- 


—     196     — 

bleibende  Rohprodukt,  das  unterhalb  300°  nicht  schmolz, 
aus  ganz  absolutem  Alkohol  zweimal  umkrystallisiert 
wurde.  Die  Substanz  besass  jetzt  den  Schmpt.  195°, 
gab  aber  bei  der  Analyse  Zahlen,  die  nicht  auf  das 
erwartete  Carbamid  sondern  auf  das  Phcmjl-hexahydro- 
pkenylroxytriazol  stimmten  : 

0,1273  g.  Sbst.  0,3222  g.  C02  0,0820  g.  H2  O 
0,1569  g.  Sbst.  23,6  com.  N  (13°,  738,8  mm.) 
Ci4HitON3  Ber.  C  69,14  H  7,00  N  17,28 
Oxytriazol  Gef.  C  69,02  H  7,14  N  17,23 
C15  Hi 8  O2  N4  Ber.  C  62,94  H  6,29  N  19,58 
Carbamid 

Da  demnach  auch  trockener  Alkohol  schon  das  Car- 
bamid   vollständig    zu  spalten  im  Stande  ist,  wurde   bei 
einem   dritten  Versuche   wasserfreies   Aceton    zum  Um- 
krystallisieren  des  nach  dem  Abdestillieren  des  Benzols 
verbleibenden  Rohproduktes  angewandt.    Dies  führte  in 
der  That  zum  Ziele,   bei  der  ersten  Krystallisation  wurde 
eine  Substanz  erhalten,  deren  Schmpt.  über  300°  lag  und 
welche,  wie  die  Analyse  zeigt,  bereits  reines  Carbamid  war. 
0,1371g.  Sbst.  0,3174  g.  CO2  0,0748  g.  H2  O 
C15  Hi  s  O2  N4  Ber.  C  62,94  H  6,29 
Gef.  C  63,16  H  6,05 
Der  Körper  bildet  lange  weisse,  in  warmem  Alkohol, 
Aceton    und    Essigester   leicht,    in    Benzol    schwieriger 
lösliche  Nadeln. 

Schon  beim  zweiten  Umkrystallisieren  aus  Aceton 
scheint  das  Carbamid,  wie  die  Analyse  ergab,  sich  etwas 
zu  zersetzen,  obgleich  der  Schmpt.  nicht  wesentlich 
herunterging. 

0,1784  g.  Sbst.  0,4156  g.  CO2  0,1040  g.  Hî  O 
Ci 5  Hi  8  O2  N4  Ber.  C  62,94  H  6,29 
Gef.  C  63,50  H  6,44 


—     197     — 

l-Phenyl-3-hexaliy(lroplienyl-5-oxytriazol. 

Ce  Hu 


N  =  C 
Ce  Ha  -  N  -  C  '' 


^N 


\0H 

Das  rohe  Carbamid  löst  sich  leicht  beim  vorsich- 
tigen Erwärmen  in  verdünnter  Natronlauge,  während  das 
nicht  in  Reaktion  getretene  Phenylhydrazid  zurückbleibt. 
Aus  dem  Filtrate  fällt  auf  Zusatz  einer  Mineralsäure 
das  Oxytriazol  in  Flocken  aus.  Bei  einem  quantitativ 
verfolgten  Versuche  wurden  erhalten,  ausgehend  von 
20  g.  Hexahydrobenzoylphenylhydrazin: 

Unverändertes  Phenylhydrazid     7,6  g.  | 

Oxytriazol 11,8  g.   J  19'4  g* 

Salmiak 2,8  g. 

Nach  mehrmaligem  Umkrystallisieren  aus  Essigester 
bildet  das  Oxytriazol  haarfeine,  weisse,  sternförmig  ge- 
lagerte Nädelchen;  der  Schmpt.  liegt  bei   196  —  197°. 

0,1025  g.  Sbst.  0,2598  g.  CO2  0,0665  g.  H*  O 
0,1285  g.  Sbst.  19,4  ccm.  N  (14°,  744,6  mm.) 
GViHnONs  Ber.  C  69,14  H  7,00  N  37,28 
Gef.  C  69,07  H  7,20  N  17,38 

Die  Substanz  löst  sich  sehr  leicht  in  warmem  Al- 
kohol und  Aceton,  ziemlich  leicht  in  kochendem  Benzol 
und  Essigester,  schwer  in  heissem  Wasser,  Ligro'iii  und 
in  Äther.  Von  verdünnter  Natronlauge  wird  sie  leicht 
aufgenommen,  unvollständig  dagegen  und  nur  nach 
längerem  Kochen  von  Sodalösung.  In  Ammoniak  ist  der 
Körper  in  der  Kälte  wenig  löslich,  wird  aber  nach  längerem 
Erwärmen  vollkommen  davon  gelöst.  Eisenchlorid  er- 
zeugt in  der  alkoholischen  Lösung  keine  Färbung. 


198 


Acetyl Verbindung   des   l-Phenyl-3-hexahydropheiiyl- 
5-oxytriazoles, 

I  XX 

CV,H,-X-CX0    co    cm 

2  g.  des  Oxytriazoles  wurden  mit  2  g.  Natriuniacetat 
und  einer  zur  Lösung  eben  genügenden  Menge  Essig- 
säureauhydrid  dreiviertel  Stunden  lang  gekocht.  Als 
nach  dem  Erkalten  mit  Eiswasser  geschüttelt  wurde, 
schieden  sich  sogleich  lange  weisse  Nadeln  ah;  rasch 
abgesogen,  wurden  sie  mit  Eiswasser  gewaschen  und  nach 
dem  Trocknen  aus  Alkohol  umkrystallisiert.  Das  Acetvl- 
derivat  bildet  lange  weisse,  asbestartig  verfilzte  Xadeln; 
es  schmilzt  bei  107—108°. 

0,1257  g.   Sbst,   16,6  ccm.  N   (19°,   743,2  mm.) 
C16H19O2N3  Ber.  X   14,70  Gef.  X  14,83 

Die  bis  jetzt  untersuchten  Acetylderivate  dieser 
Oxytriazole  spalten  alle  mehr  oder  weniger  leicht  die 
Acetylgruppe  —  bereits  beim  Kochen  mit  Wasser  — 
ab.  Als  V-  g-  der  eben  beschriebenen  Substanz  mit 
200  ccm.  Wasser  gekocht  wurde,  war  nach  einer  halben 
Stunde  etwa  die  Hälfte  gelöst,  nach  dem  Filtrieren  kry- 
stallisierte  aus  der  abgekühlten  Flüssigkeit  das  Oxytriazol 
vom  Schmpt.  196°  aus.  Bis  zur  Verseifung  des  noch 
unveränderten  Acetylproduktes  musste  noch  mehr  als 
eine  Stunde  gekocht  werden,  es  kann  deswegen  das  vor- 
liegende als  das  am  schwersten  verseifbare  der  von  uns 
dargestellten  Acetyl-phenvloxvtriazole  bezeichnet  werden, 
es  hängt  dies  jedenfalls  auch  mit  der  geringeren  Wasser- 
löslichkeit dieses  Oxvtriazols  zusammen. 


199 


l-Phenyl-2-propyl-5-triazolon4-carbonamid. 

N 


n   /  CH2  -  CH2  -  CHi 


>  N  -  GO  •  NH2 

CV,  Hô  -  N  -  C  x 

Das  n-Butyrylphenylhydrazin  ist  zuerst  von  Mi- 
chaelis und  Schmidt'1)  aus  Butyrylchlorid  und  Natrium- 
Phenylhydrazin  dargestellt  worden.  Wir  erhielten  es 
durch  Einwirkung  von  2  Mol.  Gew.  Phenylhydrazin  auf 
1  Mol.  in  Äther  gelöstes  Buttersäureanhydrid.  Perlmutter- 
glänzende  Schuppen  vom  Schmpt.   103 — 104°. 

25  g.  /Î-Butyrylphenylhydrazin  wurden  in  Benzol 
mit  etwas  mehr  als  2  Mol.  Gew.  Harnstoffchlorid  2lj-i 
Stunden  im  Sieden  gehalten.  Nach  dem  Abdestillieren 
des  Benzols  unter  vermindertem  Druck  wurde  der  Rück- 
stand mit  Alkohol  ausgekocht,  wobei  1,6  g.  einer  weissen 
Masse  ungelöst  blieben. 

Die  alkoholische  Lösung  gestand  nach  dem  Erkalten 
zu  einem  dicken  Brei  weisser  Krystallnadeln  des  Carbon- 
amides,  das  Rohprodukt  wog  11  g.  Bei  einem  Versuche, 
den  Körper  aus  verdünntem  Alkohol  umzukrystallisieren, 
wurde  er  vollständig  in  das  Oxytriazol  verwandelt,  er 
schmolz  bei  135°,  wurde  aber  zum  Überfluss  noch  ana- 
lysiert: 

0,1207  g.  Sbst.  0,2863  g.  CO2  0,0672  g.  H2  0 

C12H14N4O2  Ber.  C  58,54  H  5,69 

Carbamid 

CiiHisNsO  Ber.  C  65,03  H  6,40 

Oxytriazol       Gef.  C  64,71   H  6.20 
Immerhin  ist  dies  Carbamid  nicht  so  leicht  zersetz- 
lich    wie    dasjenige    des    l-Phenyl-3-hexahydrophenyl-5- 
oxytriazoles,  da  es  durch  Kochen  mit  absolutem  Alkohol 


i)  Michaelia  u.  Schmidt,  Ann.  d.  Chem.  252,  308  (1888! 


200 


nicht  verändert  wurde.  Die  Substanz  wurde  nun  aus- 
trockenem Benzol  zweimal  umkrystallisiert,  sie  bildet  in 
reinem  Zustande  weisse  Nadeln  oder  Prismen  vom 
Schm  pt.   133°. 

0,1188  g.  Sbst,  0,2559  g.  CO2  0,0625  g.  ILO 
0,1272  g.  Sbst.  25,2  ccm.  N  (16°,  746  mm.) 
C2H14O2X4  Ber.  C  58,54  H  5,69 
Gef.  C  58,75  H  5,84 
Der  Körper  ist  leicht    löslich    in   heissem  Alkohol, 
Benzol  und  Essigester. 

l-Phenyl-3-propyl-5-oxytriazol. 

>T        _.    /  CH2  -  CH2  -  CIL 

N  =  C  / 
1         >N 
Ce  Ho  --  N  ~  ^  \  (~\tt 

Die  alkoholische  Mutterlauge  des  rohen  Carbamides 
wurde  mit  verdünnter  Natronlauge  behandelt,  dabei  ging 
das  Oxytriazol  (4,2  g.)  in  Lösung,  während  etwas  un- 
verändertes Butyrylphenylhydrazin  zurückblieb  (0,2  g.). 
Nach  dem  Ansäuern  der  alkalischen  Flüssigkeit  (unter 
Abkühlung)  fiel  das  Oxytriazol  in  Flocken  aus.  Leicht 
gewinnt  man  es  auch  aus  dem  Carbamid  durch  kurzes 
Erwärmen  desselben  mit  verdünnter  Natronlauge.  Zwei- 
mal aus  heissem  Essigester  umkrystallisiert,  bildet  es 
lange  weisse  Nadeln  vom  Schmpt.   146°. 

0,1414  g.  Sbst.  0,3376  g.  CO2  0,0831g.  H2  O 

0,1520  g.  Sbst,  27,4  cm.  N  (12°,  742  mm.) 

CnHisONs  Ber.  C  65,03  H  6,40  N  20,69 
Gef.  C  65,13  H  6,53  N  20,89 

Die  Verbindung  löst  sich  leicht  beim  Erwärmen  in 
Benzol,  Alkohol,  Ligrom,  Aceton  und  Essigester,  ziem- 
lich leicht  in  kochendem  Wasser.  In  kaustischen  Al- 
kalien sehr  leicht  löslich,  wird  sie  von  kochender  Soda- 


—     201      — 

lösung  nur  schwierig-,  von  Ammoniak  dagegen  teilweise 
schon  in  der  Kälte,  vollständig  beim  Erwärmen  aufge- 
nommen. Die  alkoholische  Lösung  wird  von  Eisenchlorid 
schwach  orange  gefärbt. 

Der  oben  erwähnte,  in  Alkohol  unlösliche  Rückstand 
(aus  dem  Produkte  der  Einwirkung  von  Harnstoffchlorid 
auf  Butyrylphenylhydrazin  herrührend)  konnte  durch 
Umkrystallisieren  aus  heissem  Wasser  in  glitzernden 
Kryställchen  erhalten  werden;  die  Substanz  gab  mit 
konzentrierter  Natronlauge  ein  weisses  Natriumsalz,  mit 
sehr  verdünnter  ammoniakalischer  Kupferlösung  ein 
amethystfarbenes  Kupfersalz  l)  und  entwickelte  beim  Er- 
hitzen stechend  riechende  Dämpfe  von  Cyansäure,  sie 
war  also  unzweifelhaft  C)j (mur säure2). 

Acetylderivat  «les  l-Plienyl-3-proi>yl-5-oxytrmzoles. 

Die  Acetylierung  wurde  wie  oben  beschrieben  aus- 
geführt.    Auf   Zusatz    von    Eiswasser    fiel    ein    weisses. 


')  Wöhler,  Ann.  d.  Ckern.  u.  Pharm.  62,  241  (1848). 

2)  Ich  kann  in  der  Literatur  nichts  über  die  Bildung  von  Cyanar- 
säure  aus  Harnstoffchlorid  finden,  doch  zweifele  ich  nicht  daran, 
dass  die  Säure  aus  diesem  entstanden  ist.  Wenn  auch  angegeben 
wird,  Harnstoffchlorid  verwandle  sich  beim  Aufbewahren  unter  Ab- 
spaltung von  HCl  zu  Cyamelid,  so  widersprechen  dem  meine  Be 
obachtungen.  Ich  Hess  Harns  toftchlorid  stehen,  bei  Sommertempe- 
ratur wurde  es  sehr  bald  fest  und  krystallinisch,  entwickelte  dann 
etwa  24  Stunden  lang  Salzsäuredämpfe  und  bestand  schliesslich  fast 
ganz  aus  in  Wasser  löslicher  Cyanursäure.  Der  Vorgang  wäre  also 
wie  folgt  zu  formulieren  :  3  CO  NH2  Cl  =  3  HCl  +  Ca  N3  O3  Hu,  und 
diese  Reaktion  begleitet  jedenfalls  die  Oxytriazolsynthese.  Denn  ich 
fand  nur  bei  einem  einzigen  Versuche,  mit  dem  Hexahydrobeuzoyl- 
phenylhydrazin,  Salmiak  .'sonst  immer  (und  wie  unten  gezeigt  wird, 
in  oft  recht  erheblichen  Mengen)  Cyanursäure.  Auffallend  ist,  dass 
Rupe  und  Labhardt  seinerzeit  niemals  Cyanursäure,  sondern  immer 
Salmiak  nachweisen  konnten.  Ferner  muss  bestritten  werden,  dass 
Cyanursäure  leicht  in  Alkohol  löslich  ist  (wie  augegeben  wird),  nach 
meinen  Üoobaehtuno-en  ist  gerade  das  Gegenteil  der  Fall. 


—     202 

schweres  Ol  aus.  Da  es  auch  nach  längerem  Schütteln 
nicht  fest  wurde,  wurde  es  angesogen;  beim  Auswaschen 
mit  Wasser  erstarrte  es  auf  dem  Filter.  Die  Verbin- 
dung bildet  nach  dreimaligem  Umkrystallisieren  aus 
Alkohol  glänzende,  flache  Prismen  ;  sie  zeigen  den 
Schmpt,  84°. 

0;1808  Sbst.  27,4  ccm.  X  (16°,  746  mm.) 
C13H15N3O2  Ber.  N  17,14  Gef.  X  17,32 
Kocht    man    dieses    Acetylderivat   mit    Wasser,    so 
wird    es    nach    15    Minuten    vollständig    zum    Oxytriazol 
verseift. 

/?-Crotoiiyl-Plienylliy<lrazin. 

Co  H,  •  XH  -  NH  -  CO  •  CH  =  CH  -  CH3 

Die  Crotonsäure  wurde  nach  dem  Phosphoroxy- 
chlorid-Yerfahren  in  das  Chlorid  verwandelt,  letzteres 
wurde  in  Substanz  nicht  isoliert,  sondern  sogleich  in  Ather- 
lösung  mit  Phenylhydrazin  in  Wechselwirkung  gebracht. 

Das  ß-Crotonylphenylhydrazin  krystallisiert  aus 
Essigester  in  glänzenden  kleinen,  bei  190°  schmelzenden 
Blättchen  oder  Schuppen. 

0,2360  g.  Sbst.  33,6  ccm.  N  (16°,  737,3  mm.) 

C10H12ON2  Ber.  N  15,91   Gef.  N  16,09. 

l-Phenyl-3-proi>enyl-5-oxytiiazol. 

XT       r./  CH  =  CH  —  CH:; 

JN  =C  ( 

XX 
C5H5-N-C<OH 

Die  Einwirkung  von  Harnstoffchlorid  auf  ^-Crotonyl- 
phenylhydrazin  vollzieht  sich  wie  in  den  schon  be- 
schriebenen Fällen  ;  zur  Lösung  von  25  des  Hydrazides 
sind  1  l/a  Liter  Benzol  nötig.  Das  schwammige  fle- 
aktionsprodukt  wurde  mit  Alkohol  ausgekocht,  etwas 
öyanursäure    blieb    ungelöst   zurück.      Die  Lösung    ent- 


—     203     — 

hielt  kein  Carbonamid,  sondern,  wie  sich  hei  einer 
fraktionierten  Kristallisation  zeigte,  neben  unverändertem 
Ausgangsmaterial  nur  noch  das  neue  Oxytriazol.  Es 
wurde  deswegen  bei  den  folgenden  Versuchen  der  Al- 
kohol zur  Hälfte  abdestilliert  und  der  Rückstand  mit 
verdünnter  Natronlauge  durchgerührt.  Aus  der  filtrierten 
Lösung  fällte  Salzsäure  das  Oxytriazol  aus,  das  Roh- 
produkt wog  3,7  g.,  das  in  verdünnter  Natronlauge  un- 
lösliche Crotonylphenylhydrazin  (das  nicht  in  Reaktion 
getreten  war)  10,5  g.  Was  aus  dem  Reste  des  letzteren 
geworden  ist,  konnte  nicht  ermittelt  werdeu. 

Das  aus  Essigester  mehrfach  umkrystallisierte  I- 
Plienyl-3-propcnyl-5-oxytriazol  bildet  kleine  glänzende, 
ganz  schwach  gelbliche  Nädelchen.     Schmpt.   188°. 

0,1608  g.  Sbst.  0,3882  g.  CO*  0,0786g.  H*  O 
0,1887  g.  Sbst.  35.2  ccm.  N  (18°,  744  mm.) 
On  Hu  NiO  Ber.  C  65,68  H  5,47  N  20,89 
Gef.  C  65,84  H  5,43  N  21,07 
Die  Substanz    ist  leicht    löslich    in    kaltem  Alkohol 
und  Acetou,  in  warmem  Benzol  und  Essigester;  ziemlich 
leicht  löslich  in  kochendem  Wasser,    schwieriger  in  Li- 
gro'in  und  in  Äther.    Von  verdünnter  Natronlauge  wird 
sie  sogleich  gelöst,    von  Ammoniak,  und  ziemlich  leicht 
auch  von  Sodalösung,  erst  beim  Erwärmen.    Ferrichlorid 
färbt  die  alkoholische  Lösung  kaum  merklich  an. 

l-Phenji-S-c^-dibroinpropyl-S-oxytriazol. 

AT     ri  7  GH  •  Br  •  GH  ■  Br  •  CH;i 

N  =  G/ 

I         XN 

Cg  Hö  -  N  -  G  (  _„ 
\  Ori 

Lässt  man  zu  einer  Lösung  von  2  g.  des  oben  be- 
schriebenen Oxytriazols  in  25  ccm.  Chloroform  0,5  g.  Brom 
(1  Mol.  Gew.)    ebenfalls  in  Chloroform  gelöst,   langsam 


204 

zutröpfeln,  so  geht  die  Entfärbung  des  Broms  im  zer- 
streuten Lichte  äusserst  langsam  vor  sich,  im  Sonnenlichte 
dagegen  fast  augenblicklich.  Xach  dem  Verdunsten  des 
Lösungsmittels  bleibt  das  Bromadditionsprodukt  als  krys- 
tallinische  Masse  zurück,  man  reinigt  es  durch  drei- 
maliges Umkristallisieren  aus  Essigester.  Es  stellt 
mikroskopisch  kleine,  glitzernde,  ganz  schwach  gelblich 
gefärbte  Prismen  vor,  deren  Schmelzpunkt  bei  128° 
liegt. 

0,1544  g.  Sbst.  0,1601  AgBr 

Cu  Hu  0  Ns  Bra  Ber.  Br  44,32  Gef.  Br  44,11 

Das  Dibromid  wird  von  den  meisten  organischen 
Lösungsmitteln  leicht  aufgenommen.  Dagegen  ist  es  un- 
löslich in  Natronlauge. 

l-Phenyl-5-oxytriazol-3-carbonsänre. 

N  =  c/COOH 

|       "  x  X 

CV>  H ö  —  N  —  C      /~v  tt 
\  UM 

2  g.  des  Propenylphenyloxytriazols  wurden  in  Soda- 
lösung bei  Wasserbadtemperatur  nach  und  nach  mit 
150  ccm.  Kaliumpermanganatlösung  (4-prozentig)  oxy- 
diert- das  Filtrat  vom  Manganschlamm  wurde  zur  Krys- 
tallisation  eingedampft,  angesäuert  und  [mit  Äther  ex- 
trahiert. Der  nach  dem  Verjagen  des  Äthers  gebliebene 
Rückstand  wurde  aus  Essigester  umkrystallisiert.  Die 
Säure  zeigte  den  von  Rupe  und  Labhardt1)  angegebenen 
Schmpt.  von  179 — 180°.  Andreocci2),  der  sie  zuerst  dar- 
stellte, fand  den  Schmpt.  166—167°. 


J)  Rupe  und  Labhardt  1.  c. 

-)  Andreocci,  Gazz.  chim.  19,  418.     Berichte  d.  deutsch,  ehem. 
(-res.  20,  Ref.  737  (1887). 


—     205 

/?-Hydrociiinaiiiyl-Pheiiylbydraziii. 

Co  Hô  -  NH  -  NH  -  00  -  Cm  -  CH2  -  Ce  Hs 
Eydrozimmtsäurechlorid  wurde   durch   Einwirkung 
von  Phosphortrichlorid  auf  Hydrozimintsäure  in  Ligroïn 

gewonnen. 

Das  wie  gewöhnlieh  dargestellte  Phenylhydrazid 
krystallisiert  aus  verdünntem  Alkohol  in  schönen  weissen 
Nädelcken  und  schmilzt  bei  116 — 117°. 

0,   1420  g.  Sbst.  0,3911g.  C02  0,0867  g.  H2  O 
CisHieONa  Ber.  C  75,00  H  6,67 
Gef.  C  75,11  H  6,78 

l-Pheiiyl-3-phenylaethyl-5-oxytriazol. 

,T     ~   /  CH-2  —  CH2  —  Co  HV) 
I       J  y).  N 
<VH.-N-0<OH 

15  g.  Hydrocinnamylphenylhydrazin  brauchen  zur 
Lösung  1  Liter  trockenen  Benzols.  Die  Reaktion  mit 
Harnstoffchlorid  nimmt  etwa  2  Stunden  in  Anspruch. 
Nach  dem  Abdestillieren  des  Benzols  unter  vermindertem 
Druck  hinterbleibt  eine  hellbraune,  schmierige,  dicke 
Masse;  kochender  Alkohol  löste  das  Meiste,  bis  auf 
1,7  g.  Gyanursäure.  Da  es  sich  darum  handelte,  sicher 
festzustellen,  ob  auch  in  diesem  Falle  kein  Carbamid 
als  erstes  Produkt  der  Reaktion  entsteht,  weil  Rupe,  und 
Labhardt  auch  bei  der  Darstellung  des  Phenacetylphenyl- 
oxytriazoks  kein  solches  auffinden  konnten,  wurden  die 
im  Alkohol  gelösten  Substanzen  einer  genauen  fraktio- 
nierten Krystallisation  unterworfen.  Es  konnte  jedoch 
kein  Carbamid  nachgewiesen  werden.  Die  einzelnen  Jvrv- 
stallfraktionen,  sowie  die  letzten  Mutterlaugen,  wurden 
nun  mit  kalter  verdünnter  Natronlauge  behandelt,    vom 


—     206     — 

ungelösten  Hydrozimmtsäure-Phenylhydrazid  wurde  ab- 
filtriert,  und  die  aus  den  vereinigten  alkalischen  Filtrat  en 
gewonnene  Flüssigkeit  unter  Eiskühlung  mit  Salzsäure 
versetzt.  Die  ausgefällte  Substanz  löste  sich  noch  nicht 
vollkommen  in  verdünnter  Natronlauge,  sie  musste  des- 
wegen noch  einmal  damit  von  unangegriffenem  Phenyl- 
hydrazid  getrennt  werden. 

Aus  15  g.  Hydrocinnamylphenylhydrazin  wurden 
erhalten: 

Oxytriazol 5,6  g. 

Nicht  in  Reaktion  getretenes  Ausgangsmaterial  8,5  g. 
Zu  Versuchen  verbraucht 0,7  g. 

14,8  g. 

Bei  einem  zweiten  Versuche  wurden  5,8  g.  Oxy- 
triazol und  9  g.  unverändertes  Phenylhydrazid  erhalten 
(neben  2  g.  Cyanursäure). 

Das  l-Pliemjl-o-phenyladlujl-S-oxytriazol  bildet,  aus 
verdünntem  Alkohol  krystallisiert,  sehr  kleine,  schwach 
gelbliche  Nädelchen.     Schmpt.   182—183°.' 

0,1849  g.  Sbst.  0,4905  g.  CO2  0,0965  g.  Ha  0 
0,1794  g.  Sbst.  0,4765  g.  CO2  0,0970  g.  H3  O 
O,1910g.  Sbst.  25,2  com.  N  (7°,  759  mm.) 
0,1937  g.  Sbst.  24,4  ccra.  N  (7°,  759  mm.) 
C16H15ON3  Ber.  C  72,45  H  5,66  N   15,85 
Gef.  C  72,34  72,40  H  5,78  5,96  N  15,97   15,87 
Der   Körper   löst   sich    leicht   in   heissem   Alkohol, 
schwieriger  in  heissem  Wasser  und  kochendem  Benzol, 
schwer  in  kaltem  Wasser  und  in  Ligrom.    In  Ammoniak 
ist    er   schon   in    der    Kälte    beträchtlich    löslich,    leicht 
und  vollständig  beim  Erwärmen. 

Eisenchlorid  färbt  eine  alkoholische  Lösung  dieses 
Oxytriazols  tief  rotorange. 


—     207 

Acetylverbimlmig  des  l-Phenyl-3-phenylaetbyl-5- 
oxytriazoles. 

AT  ,  CHs  -  CH2  -  Cg  H5 

I         >N 
C6H5-N-C/0    co    CHa 

Die  Acetylierung  wurde  wie  bei  den  früher  be- 
schriebenen Fällen  vorgenommen,  das  Derivat  scheidet 
sich  erst  nach  längerem  Schütteln  mit  Eiswasser  ölig 
ab,  fest  kam  es  erst  aus  einer  alkoholischen  Lösung 
heraus.  In  reinem  Zustande  bildet  es  lange,  glänzende, 
asbestartig  zäh  an  einander  haftende  Nadeln.  Schmpt. 
109°. 

0,1116  g.  Sbst.   13,5  ccm.  N  (15°,  740  mm) 

Ois  Hi-  02  N3  Ber.  N  13,68  Gef.  N  13,79. 

Durch  kochendes  Wasser  wird  dies  Acetylderivat 
in  25  Minuten  vollkommen  gelöst  und  verseift,  es  steht 
also,  was  seine  Beständigkeit  betrifft,  zwischen  den  Ace- 
tylverbindungen  des  Hexahydro-  und  desPropyl-phenyloxy- 
triazoles. 

Y  ersuche  zur  Darstellung  des  l-Phenyl-3-pheuyl- 
aethyleu-5-oxytriazoles. 

/CH  =  CH-CgH, 

I  ~     XN 
CoH,-N-CXOH 

ß~Cinnamenylphenylhydrazin,  Ce  H5  •  N2  •  H2  -  CO  • 

CH  =  CH  -  Cr,  Hr,  ist  zuerst  von  Knarr  l)  durch  direktes 
Erhitzen  von  Zimmtsäure  mit  Phenylhydrazin  erhalten 
worden.  Da  meine  Versuche,  die  Verbindung  mit  dem 
Zimmtsäurechlorid  darzustellen,  kein  befriedigendes  Er- 
gebnis hatten,    bereitete  ich  sie  mit    gutem  Erfolge  aus 

i)  Knorr,  Ber.  der  deutsch,  ehem.  Ges.  20,  1108  (1887). 


—     208 

nach  Wedekind- s1)  Methode  gewonnenem  Zimmtsäure- 
anhydrid  und  Phenylhydrazin.  Schmpt.  (übereinstimmend 
mit  Wedekind's  Angabe  187°). 

Das  Einwirkungsprodukt  von  Harnstoffchlorid  auf 
^-Cinnamylphenylhydrazin  in  Benzollösung  (20  g.  Hy- 
draziel, 1200  ccm.  Benzol)  wurde  genau  so  verarbeitet, 
wie  bei  der  Darstellung  des  Phenylaethyloxytriazoles  be- 
schrieben. Es  wurde  jedoch  bloss  das  unveränderte 
Ausgangsmaterial  (Phenylhydrazid)  zurückgewonnen,  nur 
die  letzten  alkoholischen  Mutterlaugen  enthielten  eine 
kleine  Menge  einer  in  verdünnter  Natronlauge  löslichen 
Substanz.  Aus  70  g.  Cinnamylphenylhydrazin  konnten 
davon  0,6  g.  isoliert  werden,  das  Produkt  war  aber  sehr 
unrein  und  liess  sich  durch  Auflösen  in  Chloroform  und 
Fällen  mit  Ligro'iu  nur  ungenügend  reinigen.  Bei  einer 
Stickstoffbestimmung  wurden  14,06  °/0  N  gefunden,  be- 
rechnet (auf  das  Oxytriazol)  15,97.  Bei  einem  noch- 
maligen Versuche,  den  Rest  der  Substanz  aus  Alkohol 
zu  krystallisieren  (sie  schmolz  vorher  bei  ca.  280°)  wurden 
kleine  Prismen  erhalten,  die  den  Schmpt.  185°  zeigten, 
also  vermutlich  Cinnamylphenylhydrazin  waren. 

In  der  Erwartung,  dass  die  Anwendung  eines  höher 
siedenden  Lösungsmittels  die  Umsetzung  zwischen  Harn- 
stoffchlorid und  Cinnamylphenylhydrazin  begünstigen 
könnte,  wurde  die  Reaktion  in  Toluollösung  vorge- 
nommen. 

In  der  That  gelang  es  jetzt,  aus  50  g.  Phenylhy- 
drazid ca.  2  gr.  eines  alkalilöslichen  Produktes  zu  ge- 
winnen; es  war  indessen  schwierig  zu  reinigen  und  nur 
nach  mehrmaligem  Auflösen  in  Alkohol  (unter  Zusatz  von 
Tierkohle)  und  langsamem  Verdunstenlassen  des  Lösungs- 
mittels wurden  kleine  Prismen  erhalten,    deren  Schmpt. 


l)  Wedekind,  Her.  der  deutsch,  ehem.  Ges.  3i,  2070  (1901 1. 


—     209 

bei  187°  lag;  es  war  also  Cinnamylphenylhydrazin,  das 
Gemisch  von  reinem  Zimmtsäurephenylhydrazid  und 
jener  Substanz  besass  den  gleichen  Schmpt.  Unter  Um- 
ständen kann  also  unreines  Cinnamylphenylhydrazin  sich 
in  Alkalien  lösen,  das  ganz  reine  dagegen  nicht  mehr1). 
Es  seien  hier  noch,  um  den  Einfluss  des  mit  dem 
Phenylhydrazin  verbundenen  Säurerestes  auf  den  Ver- 
lauf der  Oxytriazolsynthese  zu  zeigen,  die  Ausbeuten  an 
nicht  in  Reaktion  getretenem  Phenylhydrazid  und  an 
Oxytriazol  übersichtlich  zusammengestellt: 


Angewandtes  Phenyl- 

Zurückgewonnenes Phenyl- 

Oxytriazol 

hydrazid 

hydrazid 

Hexahydrobenzo- 

yi-  - 

37  o/02) 

59  o/0 

Benzoyl.  — 

Konnte  nicht  auf- 
gefunden   wer- 
den,   dafür   et- 
was  Diphenyl- 

oxybiazolon. 

0 

Butyryl.  - 

ca.  1  °/(i 

53  o/0 

S  Crotonyl.   — ■ 

42",, 

14,8o/0 

i  Hydrocinnamyl.  - 

58,3  o/o  (Mittel) 

36,3  o/o  (Mittel) 

Cinnamyl.  - 

96  °/o 

0 

Basel,  im  September  1902.     Universitätslaboratorium  II. 


1)  Bei  der  Einwirkung  von  Harnstoffchlorid  auf  ß-Benzoyl- 
phenylhydrazin  entstand  mit  dem  im  Chlorid  gelösten  Phosgen 
etwas  Dipheiii/Ioxybiazolon.  ich  konnte  jedoch  bei  den  Versuchen 
mit  Cinnamylphenylhydrazin  das  entsprechende  Biazolon  nicht  auf- 
finden. 

2)  Gemeint  sind  Prozente  vom  angewandten  Ausgangsmaterial. 

14 


Die  Zeit  in  der  Entwickeiung  der  Organismen. 


Von 
Wilhelm  Hls. 


Dieser  Band  soll  einen  Abschnitt  in  dem  unge- 
wöhnlich segensreichen  Lehen  eines  Freundes  festlich 
begrüssen,  und  so  mag  hier  ein  Aufsatz  über  die 
Rolle  der  Zeit  in  der  Entwicklung  an  und  für  sich  nicht 
unzeitgemäss  erscheinen.  Immerhin  bringt  für  den  mathe- 
matischen Physiker,  der  gewohnt  ist,  bei  Aufstellung 
seiner  Gleichungen  ausser  den  drei  Variabein  des  Raumes 
auch  die  Zeitvariable  in  Rechnung  zu  setzen,  die  Be- 
tonung der  Zeit  als  eines  entwicklungsgeschichtlichen 
Faktors  etwas  so  gut  wie  selbstverständliches.  Im  Grunde 
sind  ja  auch  wir  Biologen  der  Bedeutung  der  Zeit  für 
organische  Entwicklungsvorgänge  uns  sehr  wohl  bewusst, 
und  wir  haben  ihr  besonders  beim  Aufbau  phylogenetischer 
Vorstellungen  den  allerweitesten  Spielraum  zuerteilt. 
Das  hindert  aber  nicht,  dass  wir  die  organischen  Ent- 
wicklungsvorgänge in  der  Regel  einzeln  zu  verfolgen 
pflegen,  ohne  deren  zeitlichem  Ineinandergreifen  beson- 
dere Aufmerksamkeit  zuzuwenden.  Es  gilt  dies  speziell 
von  unseren  ontogenetischen  Darstellungen ,  bei  denen 
in  getrennten  Kapiteln  die  Entwicklung  des  Nerven- 
systems, des  Grefässystems,  des  Skelettes  u.  s.  w.  be- 
handelt zu  werden   pflegt,    ohne    dass    die    Beziehungen 


—     211 

der  einen  zur  andern  Entwicklung,  oder  die  zeitlichen 
Entwickelungskorrelationen,  wie  wir  sie  zusammenfassend 
bezeichnen  können ,  eine  besondere  Berücksichtigung 
finden.  Es  ist  dies  durch  die  grosse  Komplikation  der 
Verhältnisse  zu  entschuldigen,  aber  doch  wird  eine  all- 
seitig vorgehende  Forschung  oder,  um  es  moderner 
auszudrücken,  eine  mechanische  Entwicklungslehre  nicht 
vermeiden  können,  dem  zeitlichen  Ineinandergreifen  der 
Entwicklungsvorgänge  die  ihm  gebührende  Aufmerksam- 
keit zu   schenken. 

In  Nachfolgendem  werde  ich  versuchen,  an  einzelnen 
Beispielen  zu  zeigen,  in  welcher  Weise  anscheinend  völlig- 
unabhängig  von  einander  verlaufende  Vorgänge  in 
einander  einzugreifen  und  sich  gegenseitig  zu  bestimmen 
vermögen.  Die  mitgeteilten  Beispiele  habe  ich  zum 
Teil  schon  bei  früheren  Gelegenheiten  besprochen,  bringe 
sie  aber  hier  in  mehr  geordneter  Zusammenstellung. 

Fürs  erste  kann  schon  die  Befruchtung  des  tierischen 
Eies  als  ein  Vorgang  angeführt  werden,  bei  dem  der 
zeitliche  Ablauf  streng  vorgeschrieben  ist.  Nehmen  wir 
als  Beispiel  die  Befruchtung  von  Knochentischen,  so 
wissen  wir,  dass  ein  jeder  der  beiden  Keimstoffe,  der 
Samen  sowohl,  als  das  Ei,  für  sich  ins  Wasser  gebracht, 
binnen  kürzester,  nach  Sekunden  zu  bemessender  Frist 
seine  wesentlichen  Eigenschaften,  der  Samen  das  Be- 
fruchtungsvermögen,  das  Ei  die  Befruchtbarkeit  verliert. 
Und  doch  müssen  diese  Stoffe  im  Wasser  sich  begegnen, 
um  auf  einander  wirken  zu  können.  Soll  nicht  einer 
der  beiden  Keimstoffe  versagen,  so  müssen  eben  beide 
gleichzeitig  ins  Wasser  und  zu  sofortiger  Berührung 
gelangen.  Damit  dies  aber  möglich  sei,  ist  es  erforder- 
lich, dass  die  in  getrennten  Individuen  sich  entwickelnden 
Keimstoffe  bei  beiden  Geschlechtern  gleichzeitig  ihre 
Reife  erreichen,  und  dass  gleichzeitig  bei  den  betreffen- 


—     212 

den  Individuen  der  Drang  zur  Entleerung  der  reifen 
Stoffe  sich  geltend  macht.  Der  bei  beiden  Geschlechtern 
durch  Monate  sich  vorbereitende  Vorgang  ist  in  seinem 
Schlussablauf  so  scharf  abgestimmt,  dass  eine  zeitliche 
Verschiebung  seiner  Bedingungen  um  Minuten  seine 
Bedeutung  vereiteln  würde. 

Nicht  bei  allen  Organismen  ist  das  zeitliche  In- 
einandergreifen der  Befruchtungsbedingungen  in  gleicher 
Weise  geordnet.  So  vermag  bei  höheren  Wirbeltieren 
(und  noch  ausgesprochener  bei  den  Bienen)  der  Samen 
innerhalb  der  weiblichen  Leitungswege  während  längerer 
Zeit  sein  Befruchtungsvermögen  zu  bewahren,  wogegen 
die  Eier  sehr  bald  nach  ihrem  Austritt  aus  dem  Eier- 
stock sich  verändern  und  ihre  Befruchtbarkeit  einbüssen. 
Für  das  Ei  scheint,  soweit  wir  die  Verhältnisse  über- 
sehen können,  die  Zeit  stets  scharf  vorgeschrieben  zu 
sein,  in  der  es  befruchtet  werden  muss. 

Übrigens  ist  es  nicht  der  Eintritt  von  Veränderungen 
an  und  für  sich,  der  dem  reifen  Eierstocksei  seine  Be- 
fruchtbarkeit nimmt.  Vielmehr  sind  erfahrungsgemäss 
gewisse  Vorgänge  am  Kern  und  die  Ausstossung  der 
sogenannten  Richtungskörper  notwendige  Vorbedingungen 
für  die  Möglichkeit  der  Befruchtung.  In  einer  bei  ver- 
schiedenen Tierformen  wechselnden  Weise  greifen  die 
beiden  Prozesse,  die  Bildung  der  Richtungskörper  einer- 
seits und  das  Eindringen  und  die  Umwandlung  der 
Spermatozoen  andererseits  zeitlich  in  einander  ein.  Beide 
Vorgänge  sind  von  einander  unabhängig,  aber  nur  bei 
deren  geordnetem  Ineinandergreifen  kommt  es  zu  jener 
A'7erschmelzung  von  Spermakern  und  von  Eikern,  die 
den  Abschluss  des  eigentlichen  Befruchtungsvorganges 
bildet. 

Für  die  gesamte  auf  die  Befruchtung  folgende 
Reihe  von  Entwicklungsperioden  besteht  das  allgemeine 


—     213 

Prinzip,  dass  in  einer  jeden  Periode  und  auf  einer  jeden 
Stufe  der  Organisation  der  sich  entwickelnde  Organis- 
mus lebensfähig  sein  muss.  Zwischen  den  Leistungen 
der  primitiven  Organe  muss  jederzeit  das  nötige  Gleich- 
gewicht bestellen,  und  vor  allem  müssen  die  beiden 
physiologischen  Grundfunktionen,  Ernährung  und  Atmung 
in  einer  dem  jeweiligen  Bedarf  entsprechenden  Weise 
geordnet  sein.  Dies  gilt  schon  für  die  allerersten  Ent- 
wicklungsperioden der  Furchung  und  der  Keimblatt- 
bildung, bei  denen  im  allgemeinen  die  äusseren  Keim- 
schichten die  respiratorischen,  die  innern,  dem  Dotter 
zugekehrten  die  nutritiven  Leistungen  vorwiegend  zu 
übernehmen   haben. 

Mit  der  Sonderung  der  primitiven  Organe  gewinnt 
das  Ineinandergreifen  der  verschiedenen  Vorgänge  eine 
gesteigerte  Bedeutung.  Ein  frühes  Beispiel  einer  zeit- 
lichen Verknüpfung  unter  sich  verschiedenartiger  Pro- 
zesse liegt  in  der  ersten  Bildung  des  Herzens  und 
des  Gefässystems  vor.  Das  Herz  gehört  bekanntlich 
zu  den  sehr  zeitig  sich  anlegenden  Primitivorganen, 
beim  bebrüteten  Hühnchen  z.  B.  finden  sich  schon  vom 
Beginn  des  dritten  Tages  ab  ein  schlagendes  Herz  und 
ein  flach  ausgebreitetes  Röhrensystem,  innerhalb  dessen 
rotes  Blut  zirkuliert.  So  geschlossen  und  einheitlich  aber 
das  also  funktionierende  System  sich  darstellt,  so  ist  es  doch 
aus  getrennten  und  unter  verschiedenen  Bedingungen  ent- 
standenen Anlagen  hervorgegangen.  Die  Muskelwand  des 
Herzens  sondert  sichjederseits  als  ein  faltenartig  sich  erhe- 
bender Streifen  aus  der  äusseren  Wand  des  Kopfdarmes, 
der  sogenannten  Splanchnopleura.  Sie  ist  ein  intraem- 
bryonal entstehendes  Gebilde.  Während  sich,  durch 
verschiedene  Phasen  hindurchgehend,  der  muskulöse 
Herzschlauch  bildet,  legen  sich  weit  ausserhalb  des 
Embryonalleibes  die  ersten  Gefäss-  und  Blutanlagen  an. 


214 

Diese  Anlagen  sondern  sich  vom  primären  Endoblast  ab, 
und  sie  erscheinen  als  Gruppen  von  Zellen,  die  sich 
teils  netzförmig,  teils  in  Form  frei  hervortretender 
Sprossen  an  einander  anreihen.  Von  der  Peripherie 
des  Keimes  ausgehend,  breiten  sich  die  Gefässsprossen 
immer  mehr  gegen  den  Embryo  hin  aus,  und  sie  dringen 
in  die  offenen  Lückenräume  zwischen  dessen  Primitiv- 
organen ein.  Auch  die  Lichtung  des  Muskelherzens 
wird  von  Gefässsprossen  erreicht  und  durchwachsen. 
Die  anfangs  soliden  Gefässanlagen  werden  zu  Röhren, 
eine  Umbildung,  die  gleichfalls  an  der  ausserembryo- 
nalen  Peripherie  ihren  Anfang  nimmt  und  von  da  aus 
gegen  den  Embryo  hin  fortschreitet.  Im  Innern  des 
schlauchförmigen  Muskelherzens  entsteht  ein  zweiter, 
der  endocardiale  Schlauch,  der  als  Teilstück  des  allge- 
meinen Röhrensystems  Blut,  und  zwar  zuerst  körperchen- 
freies  und  dann  körperchenhaltiges  Blut  umschliesst. 
Die  Blutkörperchen  gehen  aus  dem  stellenweise  vor- 
handenen Überschuss  von  Bildungszellen  im  peripheri- 
schen Gefässkeim  hervor.  Sie  liegen  anfangs  als  soge- 
nannte Blutinseln  haufenweise  in  den  Gefàsswandungen, 
mengen  sich  aber  nach  Eintritt  der  Zirkulation  der 
bewegten  Flüssigkeit  bei. 

Die  rythmische  Kontraktion  des  Herzmuskels  be- 
ginnt, sobald  das  Organ  als  solches  erkennbar  ist.  Es 
treffen  also  zeitlich  zusammen  :  die  Formentwicklung 
des  Muskelherzens,  die  histologische  Ausbildung  seiner 
Zellen  zu  kontraktilen,  autonom  thätigen  Elementen, 
die  Sonderung  des  Gefässkeimes,  sowie  dessen  Umbil- 
dung zu  hohlen  Röhren  und  zu  Blutinseln  und  sein  Herein- 
sprossen aus  peripherischen  Keimgebieten  in  den  Körper 
des  Embryo.  Jeder  dieser  Vorgänge  folgt  seinen  eigenen 
Bildungsgesetzen  und  doch  ist  das  Endergebnis  ein 
scharf  geordnetes  Ineinandergreifen  derselben. 


215 


Der  Eintritt  der  Herzkontraktionen  vom  Zeitpunkt 
der  histologischen  Differenzierung  ab,  tindet  seine  Paral- 
lele im  Verhalten  anderer  Muskeln.  S.  Kaesiner 
hat  gefunden,  dass  bei  jungen  Haifischembryonen  die 
Rumpfmuskeln  Kontraktionen  ausführen,  sobald  Muskel- 
fibrillen  erkennbar  sind,  und  in  Übereinstimmung  mit 
Balfour  weist  er  ausdrücklich  auf  die  physiologische 
Bedeutung  dieser  frühen  Muskelthätigkeit  hin.  Bei  den 
Herzkontraktionen  kommt  der  gleichfalls  früh  sich  aus- 
prägende Rythmus  der  Kontraktionen  als  besonderes 
Problem   hinzu. 

Schwierig  zu  verstehen  bleibt  die  Regulierung 
des  embryonalen  Kreislaufes  während  der  verhältnis- 
mässig langen  Periode,  während  der  es  noch  keine 
Gefässmuskeln  und  Gefässnerven  gibt.  Die  Verteilung 
des  Blutes  in  den  verschiedenen  embryonalen  und  ausser- 
embryonalen  Bezirken  muss  bei  gegebener  Herzthätigkeit 
jederzeit  von  der  Verteilung  der  Widerstände  in  den 
betreffenden  Bahnen  abhängig  sein.  Noch  sind  aber 
in  früher  Zeit  die  Gefässwandungen  dünn  und  in  offene 
Lücken  oder  in  ein  weiches  wasserreiches  Mesen- 
chymgewebe  lose  eingelagert.  Unter  den  Umständen 
darf  man  wohl  der  dem  Blutdruck  das  Gegenge- 
wicht haltenden  Gewebsspannung  keine  allzugrosse 
Rolle  zuteilen.  -  Durchsichtiger  ist  der  Einfluss,  den 
die  Beziehung  der  Nachbarorgane  auf  das  Verhalten 
von  Gefässtämmen  ausüben,  und  besonders  sind  die 
Folgen  von  Organwachstum  und  von  Wachstumsver- 
schiebungen durch  mancherlei  Einzelfälle  klar  zu 
belegen.  So  ist  die  Bildung  einer  einfachen  A.  omphalo- 
mesenterica  aus  den  Endabschnitten  einer  Kette  von 
Verbindungsschleifen    zwischen    den  Dottergefässen  und 


r)  S.  Kaexfner,  His  und  Braune' s  Archiv  1892.     S.  165. 


216 


den  absteigenden  Aorten  unschwer  zu  verstehen.  Sie 
fällt  zeitlich  zusammen  mit  der  Erhebung  der  Darman- 
lage über  die  übrige  Keimhaut,  einem  Vorgang,  der 
seinerseits  zu  Knickung  der  bisherigen  Quergefässe 
und  damit  zu  deren  Abschluss  führen  muss.  Ähnliche 
Einflüsse  von  eintretender  Gefässknickung  sind  im  Sy- 
stem der  Aortenbogen  höherer  Wirbeltiere  nachweisbar. 
Bekanntlich  sind  hier  die  obern  2  Aortenbogen  nur 
in  früher  Zeit  offen,  später  schliessen  sich  deren  an  die 
Aortae  descendentes  stossende  Abschnitte,  wogegen  der 
3.  Bogen  als  Anfang  der  Carotis  interna  persistiert, 
und  der  4.  und  5.  linkseitige  Bogen  als  bleibender 
Arcus  Aortae  und  als  Ductus  arteriosus  Botalli  sich 
erhalten.  Der  Verschluss  der  oberen  beiden  Bogen 
fällt  zusammen  mit  dem  Eintritt  der  Nackenkrümmung 
des  Embryo.  Bevor  diese  eingetreten  ist,  liegen  Bogen 
1  und  2  in  der  unmittelbaren  Verlängerung  des  Aorten- 
bulbus.  Nach  erfolgter  Krümmung  ist  die  Richtung 
der  Bogen  und  des  Bulbus  eine  entgegengesetzte  geworden, 
wogegen  nunmehr  der  3.,  4.  und  weiterhin  der  5.  Bogen 
in  die  verlängerte  Richtung  des  Aortenbulbus  eingerückt 
sind.  Der  Bulbus  inserirt^  sich  von  Anfang  ab  nicht 
symmetrisch  in  die  Bogenwurzeln,  sondern  mit  einer  nach 
links  gekehrten  Neigung.  Diese  verschiedenen  Momente 
bedingen  aber,  dass  die  Stromwiderstände  in  den  ver- 
schiedenen Abschnitten  des  Gesamtbogensystems  mehr 
und  mehr  ungleich  werden.  Die  Strecken  mit  grösseren 
Widerständen  verengern  oder  schliessen  sich,  während 
die  übrigen  sich  ausweiten.  Jeder  dieser  Vorgänge  aber 
hat  wieder  seine  zeitlich  genau  zugemessene  Stellung 
im  Gesamtlauf  der  Entwicklung. 

Bei  der  weiteren  Entwicklung  des  Gefässystems 
tritt  uns  auffällig  entgegen,  dass  in  dem  die  Organ- 
lücken ausfüllenden  Gewebe  überall  da.    wo    es  an  epi- 


217 

tlieliale  Anlagen  anstösst,  dichte  Kapillarnetze  auf- 
treten.1) So  entstehen  frühzeitig  die  Gefässhäute  des 
Gehirns,  des  Rückenmarks  und  des  Auges,  sowie  die 
kapillarreichen  Bekleidungen  der  Schleimhäute  und 
Drüsen.  Hiebei  handelt  es  sich  unzweifelhaft  um  eine 
direkte  kausale  Verknüpfung,  hei  der  die  Epithelien  als 
Bildungsreiz  auf  die  sich  entwickelnden  Gefässe  ein- 
wirken. Korrelative  Beziehungen  indirekter  Art  lassen 
sich  aber  auch  in  der  späteren  Entwicklungsgeschichte 
des  Gefässystems  verschiedentlich  nachweisen. 

So  werdeich  nachher  Gelegenheit  haben,  auf  das  Inein- 
andergreifen von  Gefäss-  und  Nervenentwicklung  einzu- 
gehen. Andere  interessante  Korrelationen  treten  bei 
der  Scheidung  der  Blutströme  im  Herzen  auf.  Schon 
das  Zusammentreffen  der  vier  unabhängig  von  einander 
entstehenden  Scheidewandanlagen  im  Herzen  ist  eine 
hieher  gehörige  Erscheinung.2)  In  gleicher  Weise  gilt 
dies  von  den  Beziehungen  zwischen  der  Bildung  der 
Aortenscheidewand  und  der  Verschiebung  der  Aorten- 
insertion. 

Die  Insertion  des  Aortenbulbus  geschieht  ursprüng- 
lich auch  bei  höheren  Wirbeltieren  und  beim  Menschen 
hoch  oben,  dicht  unter  dem  Unterkiefer,  sie  verschiebt 
sich  aber  allmählich  nach  abwärts  und  rückt  successive 
am  2.,  3.,  4.  und  5.  Bogen  vorbei.  Bei  einer  jeden 
besonderen  Stellung  des  Insertionsfeldes  kommt  ein 
Teil  der  abgehenden  Bogen  über,  ein  anderer  unter 
dieses  Feld  zu  liegen.  Wir  haben  also,  übersichtlich 
zusammengestellt  : 


1)  His.    Die  Häute  und  Höhleu  des  Körpers;  akäd.  Programm, 
Basel  1865.     S.  81. 

-)  Besprochen  in  der  A nat.   mensch].  Embryonen,  1885  Heft  111. 


218 


n. 

er 

der  Insertions- 

Unter  der  Insertions- 

stelle  : 

stell. 

?  des  Bulbus: 

Stufe     I 

Bogen 

1 

Bogen 

2,  3.  4  u. 

..      11 

V 

I    u.  2 

M 

3,  4  u.  5 

„  in 

n 

1,  2  u. 

V 

4  u.  5 

■    IV 

5? 

1,  2,  8 

U. 

4 

J) 

5 

*    v 

1,  2,  3, 

4 

u. 

5 

— 

Während  die  Insertion  des  Bulbus  sich  verschiebt, 
entsteht  in  dessen  Innerem  die  Aortenscheidewand,  die. 
von  oben  nach  abwärts  fortschreitend,  schliesslich  ins  Herz 
eintritt  und  die  Strombahnen  von  rechtem  und  linkem 
Herzen  sondert.  Es  ist  aber  klar,  dass  die  Bildung 
dieser  Scheidewand  zeitlich  normiert  sein  muss,  falls  die 
Blutverteilung  nicht  aus  der  Ordnung  kommen  soll. 
Notwendigerweise  muss  die  von  oben  herabwachsende 
Wand  während  der  Stufe  IV  obiger  Aufzählung  in  den 
Ventrikelraum  einschneiden.  In  jedem  anderen  Falle 
würde  eine  von  der  Norm  völlig  abweichende  Gefäss- 
verteilung  eintreten.  Bei  Stufe  II  würde  das  linke 
Herz  nur  die  Carotis  externa,  bei  Stufe  III  diese  und 
die  Carotis  interna  speisen,  und  alle  übrigen  (refasse 
bekämen  ihr  Blut  vom  rechten  Herzen.  Eine  direkte 
Abhängigkeit  der  Scheidewandbildung  von  der  Ver- 
schiebung der  Aortenbogen  ist  in  keiner  Weise  zu 
erkennen,  wir  haben  es  also  auch  hier  wieder  mit  einem 
zeitlichen  Ineinandergreifen  von  Vorgängen  zu  thun,  die 
unabhängig  von  einander  sich  entwickelt'  haben. 

Reichliche  Beispiele  korrelativer  Vorgänge  bietet 
die  Geschichte  des  Nervensystems.  Schon  die  erste 
morphologische  Gliederung  des  Gehirnrohres  in  einzelne 
hinter  einander  liegende  Teüstüeke,  in  das  Vorderhirn 
nebst  den  Augenblasen,  das  Mittel-  und  das  Rauten- 
hirn ist  von  fundamentalster  Bedeutung.  Alles  greift 
da  in  einander  ein:    was  (hin   einen  Teil  aus  der  gemein- 


219 


samen  Anlage  zugemessen  wird,  wird  dem  andern  ent- 
zogen und  die  Form,  die  jeder  Teil  annimmt,  wirkt 
wiederum  bestimmend  auf  die  Form  der  Nackbarteile. 
Die  entscheidende  (Grundbedingung  aber  für  die  Gehirn- 
gliederung liegt  in  den  Axenkrümmungen  seiner  Anlage, 
die  schon  in  frühester  Zeit  sich  geltend  machen.1)  Der 
zur  Bildung  des  Medullarrohres  führende  Querschub 
des  wachsenden  Keimes  und  der  die  Axenbiegungen 
herbeiführende  Längsschub  müssen  in  gegebenen  Zeit- 
punkten in  einander  eingreifen,  um  die  einer  jeden  Tier- 
form zukommende  besondere  Gehirnanlage  zustande  zu 
bringen.  Eine  zeitliche  Verschiebung  würde  auch  hier 
das  Endergebnis  völlig  verändern. 

Tritt  dann  weiterhin  die  histologische  Differen- 
zierung der  Gehirn-  und  Rückenmarkswand  ein,  so 
begegnen  wir  überall  wieder  dem  zeitlichen  Ineinander- 
greifen der  einzelnen  Teilvorgänge.  Ehe  es  zur  Bildung 
von  Neuroblasten  bez.  von  Nervenzellen  und  von  Nerven- 
fasern kommt,  entsteht  ein  Gerüst,  das  den  Zellen  und 
Fasern  zum  Lager  zu  dienen  bestimmt  ist.  Dies  Ge- 
rüst wächst  durch  die  gesamte  Entwicklungszeit  hin- 
durch und  so  finden  wir  es  als  sogenannte  Neuroglia  durch 
das  ausgebildete  Gehirn  und  Rückenmark  ausgebreitet, 
von  der  innern  zur  äusseren  Oberfläche  sich  erstreckend. 
Die  jugendlichen  Nervenzellen  aber  oder  Neuroblasten 
sind  auf  frühen  Entwicklungsstufen  beweglich,  sie  durch- 
wandern die  Maschen  des  Gerüstes  und  können  sich 
an  Orten  anhäufen,  die  von  ihrer  Bildungsstätte  mehr 
oder  minder  weit  entfernt  sind.  Dabei  wirkt  vielfach 
das  Markgerüst  wie  ein  Filter,  indem  es  nur  den  aus- 
wachsenden Fasern,  nicht  alter  den  kernhaltigen  Zellen- 

1)  Über  diese  schon  vor  Jahren  besprochenen  Verhältnisse  ver- 
weise ich  auf  die  „Briefe  über  unsere  Körperform",  Leipzig  1864. 


—     220     — 

leibern  den  Durchtritt  gestattet.  In  der  Weise  scheiden 
sich  bei  Bildung  des  Rückenmarks  die  Anlagen  der 
weissen  und  der  grauen  Substanz.  Das  peripherisch  ge- 
legene Gerüst  der  ersteren,  der  sogenannte  Randschleier 
zeigt  sich  von  früh  ab  auffallend  engmaschig  und 
bleibt  im  allgemeinen  nur  für  Fasern  durchlässig.  Es 
erweist  sich  wieder  die  Notwendigkeit  gesetzlich  abge- 
stimmten zeitlichen  Ineinandergreifens  :  das  Markgerüst 
muss  angelegt  sein,  bevor  es  zur  Bildung  von  Nerven- 
zellen und  von  Nervenfasern  kommt,  da  es  diesen  ihren 
Weg  zu  weisen  hat.1) 

Von  den  vielen  Nervenfasern,  die  im  Markrohr 
nach  und  nach  zur  Entwicklung  kommen,  verlässt  nur 
ein  verhältnismässig  kleiner  Teil  als  motorische  Wurzel- 
fasern das  Rückenmark  und  das  Gehirn.  Die  übrigen 
bleiben  als  intramedullare  Verbindungsbahnen  in  der 
Wand  des  Markrohres  eingeschlossen.  Zeitlich  be- 
schränkt sich  aber  die  Bildung  austretender  Wurzel- 
fasern auf  die  allererste  Zeit  der  Faserentstehung  (beim 
menschlichen  Embryo  auf  die  4.  und  5.  Woche).  Alle 
Fasern  späterer  Bildung  verbleiben  intramedullar.  Auch 
die  in  das  Mark  hineinwachsenden  sensibeln  und  die 
Sinnesfasern  bilden  sich  in  früher  Zeit.  Der  verhält- 
nismässig spät  sich  anlegende  N.  opticus  ist  seiner 
Natur  nach  als  intramedullare  Bahn  zu  verstehen.  Später 
als  Nervenwurzeln  aus  dem  Markrohr  hervorwachsen, 
wachsen  kapillare  Blutgefässe  in  dessen  Wand  hinein 
unter  Bedingungen,  die  im  Einzelnen  noch  nicht  klar 
zu  übersehen  sind. 

Während  in  der  ersten  Zeit  die  Anlagen  von  Ge- 
hirn und  von  Rückenmark   in  ihrem  Aufbau  kaum  merk- 

1  Über  die  von  Harrison  gemachten  Einwendungen  habe 
ich  mich  ausgesprochen  in  dem  Aufsatz  „Über  organbildende  Keim- 
bezirke",  His  Archiv  1901.  S.  3ls. 


221 


lieh  von  einander  abweichen,  treten  bekanntlich  im 
Laufe  der  Zeit  zunehmende  Unterschiede  hervor,  deren 
Verständnis  Gegenstand  der  Forschung  sein  muss.  Die 
Grundvorgänge  sind  überall  dieselben,  überall  kommt 
es  zu  einer  stetigen  Teilung  der  an  der  Innenfläche 
liegenden  Keimzellen  und  zu  einer  teilweisen  Umbildung 
derselben  zu  Nervenzellen  und  zu  Spongioblasten,  aber 
die  Zeitfolge,  nach  der  diese  Vorgänge  sich  aneinander 
anfügen,  wechselt  nach  den  verschiedenen  Bezirken. 
Von  vornherein  können  wir  davon  ausgehen,  dass  die 
Keimzellen  das  stetig  sich  vermehrende  allgemeine  Bil- 
dungsmaterial sind.  So  lange  sie  als  solches  sich 
erhalten,  schreitet  das  Wachstum  durch  Zellenneubildung 
fort.  Je  früher  und  je  reichlicher  aber  dies  Material 
zu  den  speziellen  Zwecken  der  Neuroblasten-  und  Spongio- 
blastenbildung  verbraucht  wird,  um  so  mehr  wird  dasGesamt- 
Wachstum  des  betreffenden  Bezirkes  eingeschränkt  werden. 
In  der  Hinsicht  ist  es  besonders  bemerkenswert,  dass  gerade 
diejenigen  Gehirnteile,  die  in  der  Folge  am  allermäch- 
tigsten  auswachsen,  die  Hemisphären  von  Gross-  und  von 
Kleinhirn  in  ihrer  Anfangsentwickelung  sehr  verzögert 
erscheinen.  Sie  enthalten  noch  keine  ausgebildeten 
Neuroblasten  in  einer  Zeit,  da  das  Rückenmark  und  das 
verlängerte  Mark  in  ihrer  Entwickelung  schon  weit  fort- 
geschritten sind. 

Ich  müsste  in  die  spezielle  Entwickelungsgeschichte 
des  Gehirns  eintreten,  sollte  ich  im  Einzelnen  das  zeitliche 
und  örtliche  Ineinandergreifen  der  einzelnen  Entwicklungs- 
vorgänge auseinandersetzen.  Bei  einem  späteren  Anlass 
hoffe  ich,  dieser  Aufgabe  näher  treten  zu  können,  hier  be- 
schränke ich  mich  auf  einige  wenige  Punkte.  Sehen  wir  ab 
von  dem  Intussusceptionswachstum  der  einzelnen  Hirn- 
teile, das  beim  Längenwachstum  des  Markrohres  allein 
in  Betracht  kommt,  so  sind  beim  Dickenwachstum  viel- 


—     222     — 

fach  Appositionsvorgänge  beteiligt,  die  teils  auf  die 
Rechnung  von  Zellen auswanderungen,  teils  auf  die  von 
angelagerten  Faserkomplexen  zu  setzen  sind.  Für  das 
verlängerte  Mark  habe  ich  seiner  Zeit1)  den  Nachweis 
geführt,  dass  aus  dessen  Querschnitt,  ähnlich  wie  aus 
einem  geologischen  Profil,  das  relative  Alter  der  Schichten 
herausgelesen  werden  kann.  Die  am  oberflächlichsten 
gelegenen  Pyramiden  sind  die  jüngste  Bildung,  die  zuerst 
vorhandenen  motorischen  Kerne  aber  und  der  sogenannte 
Tractus  solitarius,  das  heisst  Teile,  die  anfangs  eine  ganz 
oberflächliche  Lage  eingenommen  hatten,  erscheinen 
durch  dicke  Zellen-  und  Faserkomplexe  weit  in  die 
Tiefe  gerückt.  Ähnliches  lässt  sich  für  die  Brücke  und 
für  die  Hirnschenkel  darthun,  dagegen  entwickelt  sich  die 
Wand  der  Grosshirnhemisphären  in  einer  völlig  ab- 
weichenden Weise.  Hier  wandern  in  einer  sehr  späten 
Periode  die  Zellen  massenhaft  aus  den  innern  in  die 
äusseren  Wandschichten  und  sammeln  sich  zu  einer 
geschlossenen  Rindenschicht.  Die  neu  auf-  und  die  von 
unten  her  in  die  Hemisphären  eintretenden  Fasermassen 
lagern  sich  nicht  an  die  Aussenfläche  der  Wand  an, 
sondern  sie  schieben  sich  zwischen  die  neu  entstandene 
Rindenschicht  und  die  ursprüngliche  Innenplatte  ein. 
Ein  Querschnitt  der  Hemisphärenwand  gibt  daher  kein 
so  einfaches  historisches  Dokument,  wie  ein  solcher  des 
verlängerten  Markes. 

Noch  komme  ich  mit  einigen  Worten  auf  das  Ver- 
halten der  auswachsenden  Nerven  zurück;  auch  hier- 
über habe  ich  mich  bei  früheren  Gelegenheiten  schon 
ausgesprochen.  Es  treten  dabei  die  Eigentümlichkeiten 
zeitlicher  Entwicklungskorrelationen  in  besonders  anschau- 


1)  Hin  1890.  Die  Entwickelung  des  menschlichen  Rautenhirns. 
AUmndlungen  der  k.  sächs.  Ges.  der  Wissensch.  mathem.  phys. 
Klasse,  Bd.  XVII,  Xo.  I,  S.  65. 


223     — 

lieber  Weise  hervor.     Die  aus  dem  Markrohr   und  aus 
Ganglien  hervorwachsenden  Nervenfasern   sammeln  sich 
zunächst    zu    kleinen    Bündeln   und    weiterhin    zu  kom- 
pakten   Stämmen,    die    allmählich    peripheriewärts    vor- 
rücken.   Bei  ungehemmtem  Verlaufe  geschieht  das  Aus- 
wachsen geradlinig.    So  verläuft  z.  B.  beim  menschlichen 
Embryo  der  N.  oculomotorius    völlig  gestreckt    von  der 
Mittelhirnbasis    durch    die    Sattelspalte  hindurch  bis  in 
die  Nähe  des  Auges.    Gestreckte  Verlaufsrichtung  zeigen 
auch    auf    grössere    Strecken    hin    der    N.    trochlearis 
und  der  N.  abducens.     Die    drei    Stümpfe    des   N.    tri- 
geminus,  die  Nn.  facialis,    glossopharyngeus   und  vagus, 
sowie  die  Rückenmarksnerven  zeigen,  solange    sie    noch 
kurz  sind,  sämtlich  gestreckten  Verlauf.     Die  mit  fort- 
schreitender Entwickelung  auftretenden  Komplikationen 
beziehen  sich  nun  einerseits  auf  Biegungen  der  Stämme, 
andererseits    auf   zunehmende  Teilung    derselben.     Die 
Bedingungen  für  die  beiderlei  Arten  von  Veränderungen 
lassen  sich  unschwer  übersehen  :   Wenn  ein  nervenführen- 
der Teil  entwickelungsgemäss    verbogen    wird,    so  wird 
auch  der  von  ihm  umschlossene  Nervenstamm  verbogen 
und  dessen  Richtung  des  Auswachsens  wird  eine  andere. 
So  verläuft  der  N.  facialis    innerhalb    des   Hyoidbogens 
anfangs  gestreckt,   und    sein   Stumpf   liegt   ventralwärts, 
dann  aber  erfährt  der  Hyoidbogen  eine    Knickung  und 
das  Nervenende  bekommt  nun  die  Richtung  gegen  den 
Mandibularfortsatz,    in    den    es    weiterhin  hineinwächst. 
Stösst  ein    auswachsender    Nervenstumpf  auf  einen 
Widerstand,    so    werden    seine  Fasern   aus   ihrer  Bahn 
abgelenkt,    wobei    die    einen    auf  einer,    die  andern   auf 
der  andern  Seite  des  Widerstandes  auswachsen  können. 
Der    Stamm    teilt    sich    in    solchem    Fall    in  zwei  oder 
mehr     Zweige.       Als     solch     ablenkende     Widerstände 
kommen    insbesondere  Knorpel    und  Blutgefässe  in  Be- 


—     224     — 

tracht.  So  teilt  sich  z.  B.  der  N.  mandibularis  da, 
wo  er  auf  den  Meckel' sehen  Knorpel  stösst,  in  den  nach 
innen  von  letzterem  vorbeiziehenden  N.  lingualis  und  in  den 
nach  auswärts  davon  verlaufenden  N.  alveolaris  inferior. 
In  anderen  Fällen  bestimmt  umgekehrt  die  gegebene 
Anordnung  der  Nervenstämme  die  Verteilung  der  Knorpel- 
anlagen, so  an  der  Wirbelsäule  und  im  Becken.1)  Es 
erscheint  eben  von  besonderer  Bedeutung,  dass  die 
Bildung  des  peripherischen  Nervensystems  und  die  des 
Knorpelskelettes  zeitlich  ineinander  greifen.  Es  findet 
(wenigstens  gilt  dies  vom  menschlichen  Embryo)  eine 
Art  von  Wettlauf  statt.  Dasjenige  der  beiden  Gebilde, 
Nerv  und  Knorpel,  das  zuerst  auf  dem  Platz  erscheint, 
bestimmt  die  Anordnung  des  anderen. 

Es  wäre  nicht  schwer,  die  Zahl  der  Beispiele  zu 
vermehren,  bei  denen  das  zeitliche  Ineinandergreifen 
verschiedener  Entwickelungsvorgänge  für  deren  besondere 
Gestaltung  von  entscheidender  Bedeutung  ist.  Es  han- 
delt sich  um  ein  durchgreifendes  Vorkommnis:  Kein 
Organ  oder  Organteil  entwickelt  sich  unabhängig  von 
den  andern,  und  so  kommt  es  nicht  nur  darauf  an,  dass 
sich  der  Teil  in  bestimmter  Richtung  entwickelt,  sondern 
auch  darauf,  in  welchem  Zeitpunkt  er  sich  entwickelt, 
und  inwieweit  seine  Entwicklung  störend  oder  fördernd 
mit  der  von  anderen  Teilen  zusammen  trifft. 

Wie  haben  wir  uns  nun  vorzustellen,  dass  Ent- 
wicklungen, die  nach  scheinbar  verschiedenartigen  Ge- 
setzen vor  sich  gehen,  gleichwohl  scharf  abgegrenzt 
in  einander  eingreifen  ?  Wie  kommt  es  z.  B.,  dass  das 
Knorpelgewebe  in  eben  dem  Zeitpunkt  erscheint,  da  es 

l)  Hiezu  vergl.  mau  die  Ergebnisse  von  Petersen  in  seinen 
Untersuchungen  zur  Entwickelung  des  menschl.  Beckens.  Hin  u. 
Braunes  Archiv  1893,   S.  89. 


225 


nicht  allein  zur  Stütze  des  weichen  embryonalen  Körpers 
erforderlich  ist,  sondern  da  es  auch  in  ganz  bestimmter 
Weise  die  Anordnung  der  sich  bildenden  Gefässe  und 
Nerven  zu  regeln  hat? 

Solange  wir  das  Problem  spezialisieren,  erscheint 
es  einer  Lösung  kaum  zugänglich,  es  wird  aber  seinem 
Wesen  nach  verständlich,  wenn  wir  die  Entwickelung 
eines  jeden  Organismus  als  einen  zwar  vielgliedrigen 
aber  einheitlichen  Prozess  auffassen,  dessen  Teilvorgänge 
nach  allen  ihren  Phasen  einen  zeitlich  und  örtlich  fest 
geregelten  Ablauf  haben.  Lösen  wir  einen  solchen 
Gesamtprozess  in  seine  einzelnen  Glieder  auf,  so  be- 
kommen wir  eine  Anzahl  von  Einzelprozessen,  deren 
jeder  seinen  eigenen  Gesetzen  gemäss  abläuft.  Diese 
Teilprozesse  sind  aber  nicht  nur  physiologisch  zu 
gemeinsamer  Leistung  verkettet,  sie  führen  sich  auch 
genetisch  auf  gemeinsame  Anfänge  zurück,  auf  um  so 
einfachere,  je  früher  diese  fallen. 

Der  Prozess,  der  sich  uns  in  der  Entwickelung 
organischer  Wesen  enthüllt,  charakterisiert  sich  seiner 
Natur  nach  als  ein  periodischer.  Jedes  sich  ent- 
wickelnde Individuum  ist  das  Einzelglied  einer  durch 
unabsehbare  Zeiten  sich  hindurch  erstreckenden  Genera- 
tionenreihe. Wie  bei  einer  Wellenlinie,  dem  einfachsten 
Pilde  einer  periodischen  Funktion,  jedes  Glied  seinen 
Vorgängern  und  seinen  Nachfolgern  gleicht  und  auch 
zeitlich  deren  Eigentümlichkeiten  wiederholt,  so  wieder- 
holen auch  die  Glieder  gegebener  Generationsreihen  im 
Werden  und  im  Vergehen,  die  Eigenschaften  der  vor 
und  der  nach  ihnen  kommenden. 

Die  periodische  Wiederkehr  von  Eigenschaften  bei 
den  sich  folgenden  Gliedern  einer  Generationenreihe 
bezeichnen  wir  bekanntlich  als  Vererbung.  Sind  Ent- 
wickelung und  Leben  als  periodische  Funktionen  aner- 

15 


226     — 

kannt,  so  ergibt  sich  der  Begriff  der  Vererbung  als 
eine  natürliche  Folge  hievon.  Die  Verhältnisse  wären 
ohne  weiteres  mit  denen  einer  etwas  komplizierter  ge- 
stalteten Wellenlinie  zu  vergleichen,  deren  Gipfel  und 
Thäler  bei  jedem  Glied  in  entsprechenden  Phasen  sich 
wiederholen,  kämen  nicht  bei  den  Generationsreihen 
organischer  Wesen  die  Einflüsse  sexueller  Fortpflanzung 
hinzu.  Parallelen  lassen  sich  übrigens  an  dem  ein- 
fachen Vergleichsobjekt  der  Wellenlinie  auch  hiefür 
in  den  Interferenzerscheinungen  finden,  die  auftreten, 
wenn  zwei  zusammentreffende  Wellensysteme  sich  mit 
einander  kombinieren. 

Die  Auffassung  des  Lebens  als  periodische  Funk- 
tion führt  übrigens  auch  zu  einer  naturgemässen  Ein- 
reihung des  Zweckmässigkeitsbegriffs.  Bei  einer  jeden 
organischen  Entwickelung  erfolgt  der  Ablauf  der  ein- 
zelnen Vorgänge  und  ihr  Ineinandergreifen  in  zweck- 
mässiger, das  heisst  in  der  zur  Erzeugung  eines  normalen 
Organismus  hinführenden  Weise.  Diese  Zweckmässig- 
keit in  der  Entwickelung  ist  ein  physiologisches  Postulat, 
denn  jede  Abweichung  von  diesem  Prinzip  führt  zur 
Entstehung  von  abnormen,  bez.  von  lebensunfähigen 
Formen.  Sie  liegt  aber  andererseits  in  jedem  Gesetz 
periodischer  Prozesse  begründet.  Nach  solchem  Gesetz 
erscheint  jede  beliebige  Phase  eines  periodischen  Pro- 
zesses als  notwendige,  oder  physiologisch  ausgedrückt, 
als  zweckmässige  Vorbedingung  aller  nachfolgenden 
Phasen.  Handelt  es  sich,  wie  bei  der  Entwickelung 
organischer  Wesen,  um  hochorganisierte  vielgliedrige 
Prozesse,  so  hat  ein  jedes  der  Teilglieder  an  seinem 
Ort  und  zu  seiner  Zeit  in  Erscheinung  zu  treten.  Ist 
der  Anfang  der  Bewegung  (die  uq/j)  r/;a  xivtjoscog 
von  Aristoteles)  gegeben,  dann  schliesst  sich  alles  übrige 
mit  Naturnotwendigkeit  an. 


—     227 

Ich  habe  bei  früherer  Gelegenheit  für  eine  derartige 
Verknüpfung  verwickelter  Naturvorgänge  das  Leilmizsche 
Wort  von  der  „prästabi Herten  Harmonie"  gebraucht,  und 
es  ist  mir  dies  als  unwissenschaftlich  verdacht  worden. 
Leibniz  selber  formuliert  sein  Problem  und  dessen  Lösung 
in  folgender  Weise  :  Die  psychischen  Vorgänge  folgen 
ihren  besonderen,  fest  normierten  Gesetzen,  und  dasselbe 
gilt  von  den  körperlichen  Vorgängen.  Psychische  und 
körperliche  Vorgänge  laufen  aber  in  harmonischer  Weise 
ab,  und  sie  entsprechen  einander,  wie  etwa  zwei  absolut 
übereinstimmend  regulierte  Uhren  von  vielleicht  völlig 
verschiedenartiger  Konstruktion.1)  Dies  Bild  der  Uhren 
führt  Leibniz  an  anderer  Stelle  weiter  aus-)  :  Die  Über- 
einstimmung in  deren  Gang  wird  verständlich  1)  wenn 
die  eine  Uhr  stetig  auf  die  andere  einwirkt;  2)  wenn 
ein  Aufseher  die  beiden  Uhren  fortwährend  regliert 
und  3)  wenn  die  Uhren  absolut  genau  gearbeitet  sind. 
Letztere  Möglichkeit  ist  die  der  prästabilierten  Über- 
einstimmung. Setzt  man  an  Stelle  der  beiden  Uhren  Seele 
und  Körper,  so  gelten  dieselben  Betrachtungsweisen  : 
Für  die  erstere  Auffassung,  gegenseitige  Abhängigkeit 
von  Seele  und  Körper,  tritt  die  landläufige  Philosophie 
ein,  aber  da  man  nicbt  verstehen  kann,  wie  materielle 
Teilchen  und  immaterielle  Eigenschaften  auf  einander 
wirken  können,  ist  die  Auffassung    nicht    haltbar.     Die 


r)  „Les  âmes  suivent  leurs  lois,  qui  consistent  dans  un  certain 
développement  des  perceptions  selon  les  biens  et  les  maux;  et  les 
corps  suivent  aussi  les  leurs,  qui  consistent  dans  les  règles  du 
mouvement  :  et  cependant  ces  deux  êtres  d'un  genre  tout  à  fait 
différent  se  rencontrent  ensemble  et  se  répondent  comme  deux 
pendules  parfaitement  bien  réglées  sur  le  même  pied,  quoique  peut- 
être  d'une  construction  toute  différente.  Et  c'est  ce  que  j'appelle 
V Harmonie  préétablie,  qui  écarte  toute  notion  de  miracle  des 
actions  purement  naturelles  et  fait  aller  les  choses  de  leur  train. 
réglé  d'une  manière  intelligible."  Gr.  Gr.  Leibnitii  Opera  omnia,  éd. 
Dutens.     Clenevae  1908-    Bd.  II    S.  40. 

2)    Ebendaselbst  II.  S  .  95. 


—     228     — 

zweite  Auffassung  verlangt  das  stetige  Eingreifen  eines 
Dens  ex  machina  und  ist  gleichfalls  unstatthaft.  Es 
bleibt  daher  nur  die  dritte  Möglichkeit,  dass  bei  der 
ersten  Schöpfung  jede  der  beiden  „Substanzen"  so  voll- 
kommen gebildet  und  so  genau  reguliert  worden  ist,  dass 
sie,  obwohl  ihren  eigenen  Gesetzen  folgend,  doch  mit 
der  anderen  genau  harmoniert,  gerade  als  ob  eine  von 
der  andern  abhängig  wäre,  oder  als  ob  Gott  fortwährend 
für  die  Übereinstimmung  beider  besorgt  wäre. 

Sieht  man  bei  dieser  Darstellung  von  der  Ein- 
führung des  Welten  Schöpfers  als  Erklärungsmotiv  ab, 
so  bleiben  das  Grundproblem  und  dessen  Lösung  dem 
unserigen  durchaus  verwandt.  In  beiden  Fällen  handelt 
es  sich  um  den  Ablauf  unter  sich  verschiedenartiger, 
gesonderten  Gesetzen  folgender  Vorgänge.  Für  beide 
Probleme  liegt  die  Lösung  in  der  Anerkennung  eines  die 
Sondervorgänge  beherrschenden  Gesamtgesetzes.  Durch 
das  Gesamtgesetz  der  Entwicklung  ist  das  einheitliche 
Ineinandergreifen  der  Teilvorgänge  im  voraus  bestimmt, 
die  Harmonie  ist  eine  prästabilierte.  Sie  ist  in  dem- 
selben Sinn  prästabiliert,  wie  das  allseitige,  dem  perio- 
dischen Ablauf  der  Jahreszeiten  sich  anpassende  In- 
einandergreifen pflanzlicher  und  tierischer  Entwicklungen 
überhaupt.  Bei  der  Anerkennung  und  Feststellung 
allgemeiner  und  besonderer  Entwickelungsgesetze  orga- 
nischer Wesen  bleibt  übrigens  die  neuere  Forschung 
nicht  stehen,  sie  bemüht  sich,  die  Entstehung  dieser 
Gesetze  auch  ihrerseits  als  notwendige  Folgen  natür- 
licher Vorsänge  abzuleiten. 


Recherches  sur  la  transparence 
des  eaux  du  Léman 


par 
F.-A.  Forel. 


Dans  le  IIe  volume  du  Léman,  p.  427  *),  j'ai 
donné  quelques  chiffres  résumant  mes  dernières  études 
sur  la  transparence  des  eaux,  telles  que  je  les  ai  ex- 
posées le  9  janvier  1895  devant  la  Société  vaudoise 
des  Sciences  naturelles.  Il  sera  peut-être  utile  d'en  pu- 
blier une  description  plus  détaillée;  la  méthode  que  j'ai 
employée  pourra,  je  l'espère,  intéresser  des  collègues  qui 
voudraient  suivre  à  des  études  analogues  ou  voisines. 

Et  d'abord  la  méthode.  Elle  consiste  à  verser  l'eau 
qu'il  s'agit  d'étudier  dans  un  tube  vertical,  fermé  en  bas 

l jpar  une  glace  et  à  en   déterminer  la  transparence. 

Mon  appareil  est  un  tube  cylindrique  de  1  m  de 
longueur,  en  feuilles  de  zinc,  de  3,5  cm  de  diamètre, 
terminé  à  ses  deux  extrémités  par  des  cupules  plus 
larges,  de  5,5  cm  de  diamètre.  La  cupule  inférieure 
est  fermée  par  une  glace  de  verre  blanc  cimentée  sur 
son  pourtour;  la  cupule  supérieure  est  ouverte2). 
Je  suspends  le  tube  verticalement  à  un  trépied  qui 
le  maintient  soulevé  à  10  cm  au-dessus  du  plancher 
de  la  chambre,  de  telle  sorte  que  je  puisse  glisser 
sur  le  sol  un  écran  blanc,  ou  une  feuille  de  papier 
portant    des    caractères    d'imprimerie,    et    les    voir 


1  éclairés  par  une  lumière  oblique. 


l)  F.-A.  Forel.  Le  L<''man,  monographie  limnologique  t.  II, 
p.  427.     Lausanne  1895. 

2J  Si  j'ai  évasé  en  cupules  les  extrémités  de  mon  tube,  c'est 
afin  que  le  champ  visuel  ne  soit  pas  rétréci  sur  les  bords,  ni  par 
le  ciment  qui  entoure  la  glace  de  l'extrémité  inférieure,  ni  par  le 
ménisque  capillaire  de  l'eau  à  sa  surface  libre. 


230     — 

Je  verse  dans  le  tube  un  litre  de  l'eau  dont  je  veux 
étudier  la  transparence.    Deux  cas  peuvent  se  présenter: 

a.  Ou  bien  l'eau  est  relativement  limpide  ;  je  dis- 
tingue plus  ou  moins  nettement  les  objets  éclairés  à  tra- 
vers l'épaisseur  d'un  mètre  d'eau  que  mon  rayon  visuel 
parcourt  dans  l'appareil.  J'apprécie  alors  le  degré  de 
la  limpidité-  je  constate  qu'elle  me  permet  de  voir  à 
peine  une  lueur  diffuse  dans  les  cas  de  transparence  faible; 
ou  bien  dans  les  cas  où  la  transparence  est  plus  parfaite 
de  reconnaître  des  caractères  d'imprimerie,  de  lire  telles 
grosses  lettres,    de  ne  pas  lire   telles  lettres   plus   fines. 

b.  Ou  bien  l'eau  est  assez  louche  pour  être  opaque 
et  ne  pas  laisser  passer  trace  de  lumière  sous  l'épaisseur 
d'un  mètre.  Dans  ces  conditions,  pour  arriver  à  en  appré- 
cier le  degré  d'opacité,  je  dilue  l'eau  trouble  dans  des 
quantités  progressives  d'une  eau  parfaitement  limpide? 
(de  l'eau  passée  par  un  filtre  de  porcelaine,  filtre  Chamber- 
land)  et  je  cherche  le  degré  de  dilution  qui  me  permet 
de  voir  les  premières  lueurs  de  lumière  diffuse,  ou  de 
lire  nettement  tels  caractères  d'imprimerie  que  je  choisis 
comme  objet  visé.  La  quantité  plus  ou  moins  grande 
d'eau  limpide  ainsi  ajoutée  me  donne  une  notion  de  la 
turbidité  de  l'eau  sale;  j'obtiens  de  cette  manière  les 
éléments  d'une  comparaison  suffisante  entre  deux  eaux 
inégalement  opaques. 

Il  est  évident  que  les  valeurs  données  par  ce  pro- 
cédé ne  sont  pas  des  chiffres  absolus  ;  ils  varieraient 
d'un  observateur  à  l'autre  suivant  la  puissance  de  leurs 
yeux;  l'appréciation  de  la  lisibilité  d'un  caractère  pour- 
rait aussi  différer.  Mais  le  même  observateur,  prenant 
l'habitude  d'estimer  de  la  même  manière  l'instant  où  il 
déclare  lisible  tel  caractère,  peut  obtenir,  cela  est  cer- 
tain,   des  valeurs   parfaitement   comparables    entre  elles- 


231 


En  possession  de  cette  méthode,  qui  pourra,  je  le 
crois,  servir  à  diverses  recherches  dans  plus  d'un  sens, 
je  me  suis  posé  le  problème  suivant:  Quelle  est  la 
quantité  des  poussières  qui  rendent  opaque  Peau  du  lac, 
tellement  que  la  limite  de  visibilité1),  dans  le  Léman, 
est  en  moyenne,  en  été  de  7,3  m,  eu  hiver  de  12,5  m, 
au  maximum  de  21,0  m. 

Je  suis  parti  d'un  fait  général  que  j'ai  démontré 
déjà  en  1873.  La  cause  principale  de  l'opacité  des  eaux 
d'un  lac  d'eau  douce,  tel  que  le  Léman,  réside,  non  clans 
une  absorption  par  l'eau  elle-même,  mais  dans  la  forma- 
tion d'un  écran  par  les  poussières  en  suspension  dans  l'eau. 
Ces  poussières  constituent  un  brouillard  qui,  par  super- 
position op tique,  finit  par  masquer  entièrement  l'objet 
visé  et  le  faire  disparaître  à  la  vue2).  Appelons  as- 
sombrissement  ou  extinction  par  occultation,  cette  caté- 
gorie de  phénomènes  qui  amènent  la  diminution  de  la 
transparence  par  formation  d'un  écran  de  corpuscules 
opaques  optiquement  superposés. 

Cela  étant  j'ai  fait  les  expériences  suivantes  pour 
apprécier  le  poids  des  poussières  qui  font  écran  dans 
l'eau  du  lac. 

1°  J'ai  commencé  par  déterminer  comment  se  com- 
porte dans  mon  tube  une  eau  qui  dans  le  lac  me  donne 
la  limite  de  visibilité  sous  un  mètre  de  profondeur. 

Pour  cela  j'ai  cboisi  un  jour  (le  11  juin  1894)  où 
l'eau  du  lac  devant  Morges  était  relativement  sale.  La 
rivière  la  Morge  était  en  état  de  crue  par  suite  de  pluies 
torrentielles:    ses  eaux,   très  chargées  d'alluvion,  étaient 


1)  J'appelle  limite  de  visibilité,  la  profondeur  à  laquelle  dis- 
paraît à  l'œil  un  disque  blanc  de  20  cm  de  diamètre,  descendu  verti- 
calement dans  le  lac.  Cf.  F.- A.  Forel,  le  Léman  II,  409  sq.  Lau- 
sanne 1895. 

2)  Ibid.  p.  413. 


—      232     — 

battues,  à  leur  entrée  dans  le  lac,  par  les  vagues  d'un 
vent  sudois;  les  eaux  littorales  du  lac  en  étaient  salies, 
et  un  courant  de  surface  amenait  des  eaux  troubles  le 
long  de  la  côte,  jusque  sous  le  débarcadère  des  bateaux 
à  vapeur.  L'opacité  des  eaux  était  différente  d'une 
place  à  l'autre  sous  ce  pont;  elles  étaient  plus  troubles 
près  de  la  rive  qu'en  avant.  Aussi  en  passant  d'une 
travée  à  l'autre  de  l'estacade,  et  en  jetant  dans  l'eau 
mon  disque  blanc  attaché  à  une  corde  graduée,  j'ai  bien- 
tôt trouvé  le  point  où  l'eau  avait  exactement  sa  limite 
de  visibilité  par  un  mètre  de  profondeur.  J'y  ai  puisé 
un  seau  d'eau  et  l'ai  apporté  dans  mon  laboratoire. 

J'ai  versé  l'échantillon  dans  mon  tube  vertical  et 
j'ai  reconnu  que  cette  eau  me  donnait  la  lisibilité  nette 
des  caractères  du  grand  titre  du  journal  l'Estafette  de 
Lausanne  (capitales  normandes  de  20  mm  de  hauteur, 
et  de  7  mm  de  largeur  des  pleins). 

J'ai  répété  l'expérience  à  deux  reprises  dans  des 
circonstances  analogues  et  je  suis  arrivé  à  des  résultats 
identiques. 

2°  Ce  premier  point  posé,  j'avais  à  déterminer  le 
poids  des  matières  en  suspension  qui  m'amèneraient  ex- 
périmentalement à  ce  même  résultat  :  lisibilité  dans  mon 
tube  vertical  d'un  mètre  de  long,  des  gros  caractères 
du  titre  de  V Estafette.  Pour  cela  j'ai  institué  l'expé- 
rience suivante  : 

Je  prends  une  argile  fine;  j'en  pèse  une  quantité 
suffisante;  je  la  délaie  dans  l'eau  pure,  et  je  cherche  le 
degré  de  dilution  qui  me  donne  la  même  lisibilité  dans 
le  tube  vertical. 

Voici  le  détail  de  l'une  de  ces  expériences  (4  juin  1894). 

Je  prends  de  l'argile  humide  provenant  d'un  dra- 
gage profond  dans  le  Léman,  et  je  la  délaie  jusqu'à 
en  faire  une  crème  bien  homogène.     Je  pèse  1,34  g  de 


2  :'}:-{ 


cette  crème  et  je  la  laisse  sécher  à  l'air  jusqu'à  poids  con- 
stant; ces  1,84  g  me  donnent  un  poids  de  limon  sec  de 
0,67  g;  il  y  avait  juste  50° ,.„  d'eau. 

Je  prends  ensuite  1,10  g  de  ma  crème  (représentant 
d'après  le  témoin  55  cg  de  limon  sec)  et  je  la  dilue 
dans  de  l'eau  passée  au  tiltre  Chamberland.  Je  pousse 
la  dilution  jusqu'à  ce  que  j'obtienne  la  lisibilité  du  gros 
titre  de  V Estafette;  j'y  arrive  quand  les  55  cg  de  limon 
sont  dilués  dans  74  litres  d'eau  limpide. 

Si  je  divise  55  par  74  j'obtiens  0,7.  L'eau,  qui 
m'a  donné  une  transparence  égale  à  celle  de  l'eau  du 
lac  quand  celle-ci  a  une  limite  de  visibilité  de  1  m  de 
profondeur,  contient  donc  par  litre  7  milligrammes  de  ma- 
tières en  suspension. 

J'ai  répété  cette  expérience  plusieurs  fois  avec  des 
argiles  diverses.  Tantôt  avec  des  argiles  sèches,  délayées 
dans  l'eau,  puis  décantées;  tantôt  avec  des  argiles 
sèches,  porphyrisées,  tamisées,  délayées  et  décantées  -, 
tantôt,  comme  dans  l'expérience  que  je  viens  de  raconter, 
avec  de  l'argile  humide  simplement  délayée 1).  C'est  ce 
dernier  procédé    qui   m'a  donné   les    meilleurs  résultats. 

Avec  les  diverses  substances  que  j'ai  utilisées,  je 
suis  arrivé  à  des  valeurs  du  même  ordre  ;  en  voici  les 
chiffres.  La  quantité  de  matières  en  suspension  clans 
un  litre  d'eau  qui  donne  un  degré  de  lisibilité  égal  à  celui 
des  eaux  troubles  du  lac  dont  la  limite  de  visibilité  est 
à   1  m  de  profondeur,  a  été: 

I.  Argile  du  lac,  sèche,  délayée  et  décantée     9  mg 

IL  id.  id.  7  „ 

III.  Même  argile,  porphyrisée,  tamisée,  délayée   12   „ 


!)  Il  va  sans  dire  que  les  détails  du  mauuel  opératoire  varieut 
d'une  argile  à  l'autre;  la  prise  du  tcmoin  qui  détermine  la  teneur 
d<'  l'eau  en  limon  doit  se  faire  différemment.  Jl  est  inutile  d'ex- 
poser les  particularités  de  ces  manœuvres  très  simples. 


234     — 

IV.  Même  argile,  porphyrisée  tamisée,  délayée  15  mg 

A'.  Argile  du  lac,  humide,  délayée      .     .     .     7   „ 

VI.  Argile  miocène    de  Chigny    sur    Morges, 

humide,  délayée 12  „ 

VII.  Argile  des  tuileries  de  Mormont,  humide, 

délayée 17   „ 

VIII.  Argile   bleue   de   la  seconde   terrasse   la- 
custre du  Léman,  Morges 16  ,, 

Prenons  un  chiffre  moyen  10  mg  par  litre.  Nous 
estimons  donc  à  10  mg  par  litre  (10mg/l)  la  teneur  en  pous- 
sières suspendues  d'une  eau  qui  dans  le  lac  aurait  une 
limite  de  visibilité  par  1  m  de  profondeur. 

3°  Mais  une  eau  dont  la  limite  de  visibilité  est  à  un 
mètre  de  profondeur  est  de  l'eau  sale,  de  l'eau  trouble, 
de  l'eau  opaque.  Les  eaux  limpides  du  Léman  ont  une 
limite  de  visibilité  bien  plus  étendue  ;  nous  avons  dit 
qu'elle  atteint  jusqu'à  21  m  de  profondeur. 

Pouvons  nous,  du  chiffre  obtenu  pour  la  limite  de 
visibilité  courte  des  eaux  sales,  arriver  à  la  valeur  des 
eaux  à  longue  limite  de  visibilité?  de  la  teneur  des  eaux 
opaques  arriver  à  la  teneur  des  eaux  limpides  ?  Pas 
directement;  mais  tout  au  moins  nous  trouverons  les 
extrêmes  que  ne  dépassent  pas  ces  dernières  valeurs. 

J'admettrai  d'abord  que  si  une  teneur  en  poussières 
suspendues  de  10  m  g/1  arrête  la  limite  de  visibilité  à 
1  m,  des  eaux  qui  permettent  de  voir  par  5  m,  par  10  in, 
par  20  m  de  profondeur  contiennent  évidemment  moins, 
beaucoup  moins  de  poussières.  10  mg  de  poussières 
suspendues  dans  1  litre  d'eau  est  donc  un  maximum  qui 
est  loin  d'être  atteint  dans  les  eaux  claires  et  très  claires 
du  Léman. 

Je  crois  ensuite  que  nous  pouvons  faire  le  raisonne- 
ment suivant.  L'obstacle  qui  arrête  la  vision  est  un 
obstacle  mécanique;  il  est  formé  par  la  superposition  opti- 


—     235     — 

que  d'écrans  minuscules,  les  poussières  en  suspension 
dans  l'eau  qui,  lorsqu'elles  sont  assez  nombreuses,  inter- 
ceptent par  occultation  tous  les  rayons  visuels  directs. 
Que  ces  écrans  soient  disposés  sur  un  même  plan  ou 
qu'ils  soient  dispersés  dans  une  masse  liquide  de  grande 
épaisseur  (dans  les  limites  où  nous  nous  mouvons  ici), 
l'obstacle  à  la  vue  doit  être  de  même  efficacité  *,  la  même 
quantité  de  poussières  doit  être  nécessaire  pour  arrêter 
la  vision.  Je  me  crois  donc  autorisé  à  admettre  qu'en 
ne  nous  occupant  que  du  phénomène  de  l'extinction  de 
la  lumière  par  occultation, 

si  10  mg/1  donnent  une  limite  de  visibilité  par  .  1  m 
„      5     „      donneraient  une  limite  de  visibilité  par  2      „ 

2  5 

r>       a       n  ii  ii  h  i-  ii  n      ,J       n 

il         ■!•        n  ii  ii  n  :i  ii  ii    *■'-'        n 

ï!  ",0     „  „  „  „  „  „  „      ""  11 

Le  maximum  de  transparence  que  j'ai  constaté  dans 
le  Léman,  m'a  donné  une  limite  de  visibilité  par  21  m 
de  profondeur,  le  21  février  1891,  au  large  d'Ouchy. 
D'après  ce  que  nous  venons  de  dire,  cette  eau  aurait 
renfermé  moins  d'un  demi  milligramme  de  poussières 
minérales  en  suspension. 

Si  au  lieu  de  poussières  minérales  on  faisait  inter- 
venir des  poussières  organiques  dont  la  densité  est  beau- 
coup plus  faible,  un  poids  moins  grand  encore  de  ma- 
tières animales  ou  végétales  devrait  être  suffisant  pour 
obtenir  le  même  effet.  Il  est  vrai  que  les  poussières 
organiques  n'ont  pas  en  général  la  ténuité  extrême  des 
poussières  minérales  d'une  alluvion  argileuse;  celles-ci 
étant  lourdes,  ce  ne  sont  que  les  particules  les  plus  fines 
qui  restent  en  suspension.  Les  poussières  organiques 
sont  le  plus  souvent  sous  forme  de  flocons  relativement 
gros;  ceux-ci  ayant  la  même  densité  que  l'eau  peuvent 
y  flotter  indéfiniment.    Or  pour  une  même  substance  la 


236 

grosseur  des  particules  est  un  facteur  important  du  poids  de 
matière  qui  amène  l'opacité  du  milieu;  plus  les  poussières 
sont  grosses,  plus  est  grande  la  quantité  nécessaire  pour 
qu'elles    forment    un  écran  opaque    arrêtant   la  lumière. 

Comme  d'une  autre  part  bon  nombre  des  poussières, 
qui  dans  l'eau  d'un  lac  interviennent  pour  fixer  la  limite 
de  visibilité,  sont  de  nature  organique,  et  que  nous  ne 
pouvons  en  indiquer  le  volume,  les  chiffres  donnés  ci- 
dessus,  qui  se  rapportent  à  des  poussières  minérales,  ne 
peuvent  pas,  sans  autre  correction,  être  étendus  aux  faits 
naturels  qui  se  jouent  dans  le  lac.  Mais  je  crois  pou- 
voir admettre  que  si  les  valeurs  numériques  ne  sont  pas 
absolument  certaines,  l'ordre  de  grandeur  qu'elles  indi- 
quent est  parfaitement  admissible  et   valable? 

Par  un  autre  procédé  j'ai  cherché  quelle  est  l'épais- 
seur de  limon  qui  peut  arrêter  la  vision,  rendre  l'eau 
opaque,  empêcher  de  distinguer  un  corps  éclairé. 

Dans  une  auge  plate  de  26  mm  de  largeur  interne, 
j'ai  placé  0,73  g  de  limon  sec,  délayé  dans  l'eau,  et  j'ai 
étendu  la  dilution  jusqu'à  ce  que  je  fusse  à  la  limite 
de  la  vision  distincte.  J'ai  dû  employer  pour  cela  1500  g 
d'eau  passée  au  filtre  Chamberland.  Si  j'attribue  à  ce 
limon  sa  densité  de  2,6,  cela  me  donne  une  couche  de 
limon  sec  d'une  épaisseur  de  0,004  mm.  Une  couche  de 
4  millièmes  de  millimètres  d'alluvion  lacustre  du  Léman 
suffit  donc,  je  ne  dirai  pas  pour  arrêter  la  lumière  dif- 
fuse, mais  pour  empêcher  de  distinguer  un  objet  éclairé. 
C'est  là  aussi  une  valeur  extrêmement  faible  '). 

Quoiqu'il  en  soit,  en  nous  tenant  aux  chiffres  don- 
nés pour  l'alluvion  minérale  en  suspension  dans  l'eau  qui 
peut  causer  l'opacité  relative    de  l'eau  du  Léman,   nous 

1)  M.  le  professeur  Ch.  Dufour  a  montré,  il  y  a  quelques 
années  qu'une  couche  de  charbon  d'un  millième  de  millimètre  d'é- 
paisseur, déposée  sur  une  lame  de  verre  suffit  à  arrêter  entièrement 
la  lumière.     (Archives  I,  226  sq.     Genève  1896.) 


237 

arrivons  à  des  quantités  extraordinairement  faibles,  quel- 
ques milligrammes,  moins  d'un  milligramme  par  litre. 
C'est  remarquablement  peu:  nous  en  jugeons  par  com- 
paraison avec  la  quantité  des  sels  qui  sont  dissous  dans 
l'eau  de  ce  même  lac 5  l'eau  du  Léman  contient  175  mg 
de  substances  solubles  par  litre,  par  conséquent  350  fois 
plus  que  de  matières  en  suspension.  Ainsi  donc,  au  point 
de  vue  physique  l'eau  du  Léman  est,  dans  les  beaux 
jours  d'hiver  surtout,  de  l'eau  presque  absolument 
pure 1). 

On  m'a  fait  deux  objections:  1°  Vous  ne  tenez  pas 
compte  des  autres  facteurs  d'absorption,  entr'autres  de 
l'absorption  de  la  lumière  par  l'eau  elle-même.  L'eau  est 
un  liquide  possédant  un  certain  pouvoir  d'absorption. 
A  cela  je  répondrai:  C'est  vrai.  Mais,  si  une  partie  de 
la  lumière  est  absorbée  par  le  liquide,  en  tant  que  li- 
quide légèrement  absorbant,  j'aurai  besoin  d'une  quantité 
encore  moins  grande  de  poussières  opaques  pour  expli- 
quer la  disparition  par  occultation  des  objets  descendus 
dans  le  lac  aux  profondeurs  observées.  De  ce  fait  encore 
mes  chiffres  sont  des  maximums. 

2°  D'autre  part  M.  le  professeur  Henri  Dufour  m'a 
fait  remarquer  que  je  n'ai  pas  le  droit  de  passer  par  une 
simple  division  de  la  teneur  en  alluvion  suspendue  dans 
une  couche  de  un  mètre  à  celle  d'une  couche  d'épaisseur 
plus  forte.  Quelle  que  soit  la  nature  de  l'obstacle  qui 
affaiblit  ou  arrête  la  pénétration  des  rayons  lumineux, 
que  ce  soit  une  occultation  par  des  écrans  minuscules 
ou  une  absorption  par  un  milieu  translucide,  la  quantité 


])  Et  cependant  J.-L.  »Soret  clans  ses  recherches  sur  la  trans- 
parence de  l'eau  du  Léman,  n'est  arrivé  à  la  limpidité  absolue 
qu'après  avoir  fait  reposer  par  décantation  très  longtemps  prolongée 
toutes  les  poussières  qui  flottent  encore  dans  le  liquide.  Archives 
XXXVII,  14Ü,  Genève  1870. 


—     238 

de  lumière  éteinte  s'exprime  par  une  fonction  exponen- 
tielle :  la  fraction  de  lumière  transmise  est  I  =  Io  Ax  (loi 
de  Bouguer1). 

Si  cela  est,  et  je  m'incline  devant  la  parfaite  com- 
pétence de  l'ami  qui  a  insisté  sur  cette  objection,  les 
chiffres  donnés  ci-dessus  doivent  être  non  des  maximums 
mais  des  minimums  ;  la  quantité  de  matières  en  suspen- 
sion dans  les  eaux  du  Léman  doit  être  un  peu  plus 
forte  que  les  milligrammes  ou  fractions  de  milligramme 
que  j'ai  indiqués  page  234. 

J'ai  voulu  en  avoir  le  cœur  net,  et  je  me  suis 
adressé  à  l'expérience.  J'ai  rempli  mon  tube  vertical  jus- 
qu'à moitié  hauteur,  d'une  eau  opalinisée  par  de  Fallu  - 
vion  minérale  impalpable  des  grands  fonds  du  lac;  j'en 
ai  constaté  la  transparence  par  des  essais  de  lisibilité; 
puis  j'ai  achevé  de  remplir  le  tube  avec  de  l'eau  passée 
au  filtre  Cbamberland,  et  j'ai  mélangé  le  tout.  D'après 
l'objection  de  M.  Dufour  je  m'attendais  à  trouver  une 
diminution  de  l'opacité,  ou  si  l'on  veut  une  augmentation 
de  la  transparence  dans  cette  eau  ainsi  diluée.  C'est 
le  contraire  que  j'ai  obtenu.  Je  crois  avoir  constaté  par 
de  nombreuses  répétitions  de  l'expérience  que  les  carac- 
tères d'imprimerie  vus  à  travers  cette  eau  étaient  moins 
distincts  lorsque  en  surajoutant  de  l'eau  claire  j'avais, 
avec  la  même  dose  de  poussières  occultantes,  augmenté 
l'épaisseur  de  la  couche  translucide;  il  est  vrai  que 
comme  la  lisibilité  h  travers  des  couches  d'épaisseur  dif- 
férentes est  assez  difficile  à  comparer,  d'autant  plus  que 
l'observation  des  deux  lisibilités  n'est  pas  simultanée 
m ,iis  consécutive,  il  pouvait  y  avoir  un  peu  de  doute  sur 
la  valeur  de  l'expérience. 


i)  A  est  le  coefficient  du  transmission  pour  l'unité  d'épaisseur 
traversée,  un  décimètre  p.  ex.,  ou  un  métré,  x  est  l'épaisseur  en 
décimètres  ou  en  mètres. 


239     — 

Mais  j'ai  obtenu  une  observation  parfaitement  cer- 
taine en  me  plaçant  à  la  limite  de  l'opacité  absolue.  Je 
remplis  à  moitié  le  tube  vertical  d'une  eau  troublée  par 
de  l'alluvion  lacustre  et  amenée  jusqu'à  la  dernière  li- 
mite de  l'extinction  de  la  lumière;  je  vois  encore  un  peu 
de  lumière  diffuse,  des  traces  à  peine  dicernables,  mais 
cependant  certaines.  Après  cela  j'ajoute  de  l'eau  lim- 
pide qui  achève  de  remplir  le  tube,  j'agite  le  tout  pour 
avoir  un  mélange  bien  homogène  et  alors,  quand  j'es- 
saye de  regarder  au  travers  de  l'eau,  toute  trace  de  lu- 
mière diffuse  a  disparue;  l'opacité  absolue  est  atteinte. 
J'ai  répété  l'expérience  dans  des  conditions  plus 
exagérées  encore,  en  partant  d'une  quantité  d'eau  limoneuse 
très  faible,  en  remplissant  seulement  le  dixième  du  tube 
vertical,  et  j'ai  à  plusieurs  reprises  obtenu  le  même  résultat. 
J'ai  répété  l'expérience  avec  du  lait,  même  résultat. 

Voici  l'expérience  la  plus  démonstrative  que  j'ai 
établie  : 

Par  un  tuyau  de  caoutchouc  descendant  jusqu'au 
fond  du  tube  vertical  je  verse  environ  un  décilitre  d'eau 
trouble  qui  amène  presque  l'opacité  absolue  ;  il  passe  ce- 
pendant encore  un  peu  de  lumière  diffuse  à  travers 
cette  couche  d'un  décimètre  d'épaisseur.  J'achève  de 
remplir  le  tube  vertical  en  y  versant  9  décilitres  d'eau 
passée  au  filtre  Chamberland.  Résultat  immédiat:  Opa- 
cité absolue.  Je  dilue  progressivement  cette  masse  opa- 
que jusqu'à  ce  que  je  commence  à  voir  passer  les  pre- 
mières traces  de  lumière  diffuse  à  travers  une  couche 
d'un  mètre  d'épaisseur;  je  n'y  arrive  qu'après  avoir  ajouté 
G  litres  d'eau  claire  à  mon  litre  d'eau  opaque. 
De  cela  je  dois  conclure: 

Ou  bien  si,  comme  le  dit  M.  Dufour,  la  fonction 
exponentielle  est  applicable  à  l'extinction  de  la  lumière 
par  occultation,  dans   mon  expérience  le  coefficient  d'oc- 


240 


cultation  par  les  écrans  minuscules  des  poussières  miné- 
rales ou  organiques  est  plus  faible  que  le  coefficient  d'ab- 
sorption par  l'eau  limpide  passée  au  filtre  Chamberland. 
Ce  serait  bien  difficile  à  admettre  étant  donné  la  splen- 
dide transparence  de  cette  eau. 

Ou  bien  l'extinction  de  la  lumière  par  occultation, 
au  moyen  des  écrans  minuscules  des  poussières  en  suspen- 
sion, est  soumise  à  une  autre  loi  que  l'extinction  de  la 
lumière  par  absorption  d'un  milieu  fluide  physiquement 
homogène.  Est-elle  simplement  proportioneile  à  la  quan- 
tité des  poussières  en  suspension,  quelle  que  soit  l'épais- 
seur du  milieu  limpide  dans  lequel  ces  poussières  sont 
suspendues?  Cela  me  paraît  probable,  mais  je  n'ai  pas 
encore  su  instituer  une  exjîérience  qui  le  démontre. 

Quoiqu'il  en  soit,  la  conclusion  générale  que  je  tire 
de  ces  recherches  est  que  les  matières  en  suspension 
dans  les  eaux  limpides  du  Léman  sont  en  quantité  ex- 
trêmement faibles.  Ces  eaux  sont  presque  pures  au  point 
de  vue  physique. 


Über  Digitalis  purpurea  L. 

Von 
Casimir  Nienhaus. 


Der  Fingerhut  ist  unbestritten  unter  den  vielen 
Arzneimitteln,  die  bei  Erkrankungen  des  Herzens  Ver- 
wendung finden,  das  wichtigste.  Die  weitverbreitete  Pflanze, 
die  übrigens  der  Flora  unseres  Landes  nicht  angehört, 
fand  schon  im  XI.  Jahrhundert  zur  Herstellung  äus- 
serlich  gebrauchter  Arzneimittel  Verwendung.  In  den 
Jahren  1640  und  1650  wird  Digitalis  zuerst  unter  den 
Arzneipflanzen  genannt  und  seit  1775  hat  die  Drogue 
ihren  hervorragenden  Platz  im  Arzneischatze  unter  den 
heroischen  Mitteln  erobert. 

Die  üppig  entwickelten  Laubblätter  sind  unter  dem 
Namen  Folia  Digitalis  gebräuchlich;  sie  werden  ent- 
weder als  solche  gebraucht  oder  sie  dienen  zur  Her- 
stellung einer  Anzahl  wichtiger,  galenischer  Präparate. 
Es  gibt  wenige  Arzneimittel,  von  denen  der  Arzt  eine 
so  prompte  Wirkung  wünscht,  erwartet  und  verlangt, 
A\ie  von  der  Digitalis.  Aus  diesem  Grunde  ist  es  von 
der  grössten  Wichtigkeit,  dass  die  Drogue  in  bester 
Qualität  verabreicht  wird  und  dass  die  daraus  dargestellten 
Präparate  nach    rationellen  Methoden   gemacht  werden. 

Merkwürdigerweise  sind  die  schon  lange  gebräuch- 
lichen, auf  rein  empirischem  Wege  erhaltenen  Präparate 
auch  heute  noch  vollständig  zweckentsprechend.  Die 
Bemühungen    der    modernen    pharmazeutischen    Chemie 

16 


242 

sind  selbstverständlich  darauf  gerichtet  gewesen,  aus 
der  wichtigen  Drogue  das  s.  g.  wirksame  Prinzip  zu 
gewinnen,  um  damit  dem  Arzte  ein  unfehlbares  Mittel 
zu  Verfügung  zu  stellen.  Die  auf  diesem  Wege  erzielten 
Resultate  haben  bisher  noch  nicht  den  gewünschten 
Erfolg  gehabt. 

Seit  dem  Jahre  1845  sind  vielfache  Versuche  in 
dieser  Richtung  gemacht  worden.  Die  aus  der  Digitalis 
gewonnenen  Präparate  dieser  Art  erhielten  zunächst 
den  Namen  „Digitalin  a  und  die  Anzahl  solcher  Digi- 
taline ist  eine  recht  beträchtliche.  Dieselben  sind  je- 
weilen  nach  den  Autoren  getauft  worden,  so  Digitaline 
Homolle,  Lancelot,  Lebordais,  Schmiedeberg,  Walz, 
Kosmann;  dazu  kommen  noch  Digitalinum  verum  und 
purum.  Dieser  embarras  de  richesse  beweist  von  vorn- 
herein, dass  diese  verschiedenen  Präparate  nicht  ein- 
heitlichen Charakter  haben,  d.  h.  nicht  reine  Substanzen 
im  chemischen  Sinne  sein  können.  Sie  sind  eins  nach 
dem  anderen  erschienen  und  mit  mehr  oder  weniger 
Reklame  empfohlen  worden,  um  über  kurz  oder  lang 
der  Vergessenheit  anheimzufallen.  Der  Mediziner  ist 
bis  auf  den  heutigen  Tag  immer  wieder  zur  Digitalis 
selbst  zurückgekehrt. 

Die  häufigste  und  beliebteste  Art  der  Verabreichung 
besteht  darin,  dass  die  besonders  präparierten  Blätter 
mit  heissem  Wasser  ausgezogen  werden.  Wir  wollen 
nun  auch  das  Wort  „Digitalin"  gebrauchen  und  damit 
eine  glykoside  Substanz  bezeichnen,  die  bei  der  Be- 
handlung mit  Wasser  eine  Spaltung  erfährt  in  Glykose 
(Traubenzucker)  und  ein  zweites  Spaltungsprodukt,  das 
in  diesem  Falle  die  Wirkung  bedingt. 

Es  liegt  nun  die  Möglichkeit  vor,  diesen  Vorgang 
zu  kontrollieren.  AVird  die  Digitalis  in  kochendes 
Wasser  gebracht,  dann  umgerührt  und  sofort  eine  Probe 


—     243 

abfiltriert,  dann  tindet  man  in  letzterer  schon  Glykose. 
Die  Quantität  lässt  sich  nach  bekannten  Methoden  be- 
stimmen und  so  kann  man  sich  ein  Urteil  verschalten 
über  die  relative  und  eventuell  auch  über  die  absolute 
Menge  der  zur  Wirkung  kommenden  Substanz.  Unter 
allen  Umständen  kann  man  den  Zeitpunkt  bestimmen, 
in  dem  der  Glykosegehalt  nicht  mehr  zunimmt,  also  die 
Operation  beendigt  ist.  Um  sich  über  die  Wirksamkeit 
einer  Digitalis  ein  massgebendes  Urteil  zu  verschaffen, 
könnte  man  die  Quantität  Glykose  vorschreiben,  die  ein 
wässriger  Digitalisauszug,  z.  B.  im  Verhältnis  von  1  zu 
10  Wasser,  zum  mindesten  haben  soll.  Die  Quantität 
des  wirksamen  Spaltungsproduktes  ist  der  Menge  der 
gefundenen  Glykose  proportional.  Die  Spaltung  der 
glykosiden  Substanz  geht  vor  sich  unter  dem  Einflüsse 
der  Eiweisstoffe,  die  im  Gewebe  des  Blattes  enthalten 
sind.  In  den  seltenen  Fällen,  in  denen  Digitalis  in 
Substanz  gegeben  wird,  wird  die  Spaltung  durch  die 
Mitwirkung  des  Speichels  und  des  Magensaftes  wesentlich 
begünstigt.  In  beiden  Fällen  muss  die  Wirkung  der 
Drogue  der  Spaltung  glykosider  Inhaltstoffe  zugeschrieben 
werden. 

Die  bis  auf  den  heutigen  Tag  fortgesetzten  Unter- 
suchungen haben  als  ferneres  Resultat  ergeben,  dass 
ein  anderer,  in  Alkohol  löslicher  Inhaltstoff,  das  „Digi- 
toxin", ebenfalls  die  spezifische  Wirkung  der  Digitalis 
repräsentiere.  Dadurch  erklärt  sich  dann  die  Wirksamkeit 
der  Digitalistinkturen,  die  früher  viel  mehr  gebraucht 
wurden,  wie  zur  Zeit.  Sowohl  in  der  alkoholischen, 
wie  in  der  ätherischen  Tinktur  muss  das  Digitoxin  der 
wirksame  Stoff  sein,  da  dasselbe  in  Alkohol  und  Äther, 
nicht  aber  in  Wasser  löslich  ist. 

Digitalisextrakte  haben  nie  seitens  der  Mediziner 
grosse  Beachtung  gefunden.     Dagegen    war    vor  30,  40 


—     244     — 

Jahren  der  Fingerhut-Essig,  Acetum  Digitalis,  ein  sehr 
geschätztes  Arzneimittel.  Dasselbe  ist  vollständig  in 
Vergessenheit  geraten  und  doch  ist  einer  solchen  Art 
der  Darreichung  die  Berechtigung  nicht  abzusprechen. 
Bei  Blutungen  leistete  das  Mittel  gute  Dienste. 

In  vorstehendem  ist  einmal  von  „besonders  präpa- 
rierten" Digitalisblättern  die  Hede  gewesen.  Das  Blatt 
weist  sehr  eigentümliche  anatomische  Verhältnisse  auf. 
Von  der  starken  Mittelrippe  zweigen  sich  primäre  Seiten- 
rippen  ab,  die  bis  in  die  Nähe  des  Blattrandes  ver- 
laufen. Zwischen  den  letzteren  tritt  eine  sekundäre 
Nervatur  auf,  die  dem  Gewebe  des  Blattes  auch  äusser- 
lich  eine  sehr  zierliche  Zeichnung  verleiht.  Unter- 
suchungen hatten  ergeben,  dass  die  Haupt-  und  die  starken 
Seitenrippen  quantitativ  weniger  reich  an  den  bespro- 
chenen Inhaltstoffen  seien.  Die  Beobachtung  führte 
dahin,  dass  findige  Apotheker,  die  in  der  Nähe  Digitalis 
sammeln  konnten,  diese  Stränge  so  viel  wie  möglich 
aus  dem  Blattgewebe  entfernten  und  sich  dann  für  die 
so  gereinigte  Ware  horrende  Preise  bezahlen  Hessen. 

Neuerdings  ist  nun  eine  Untersuchung  veröffentlicht 
worden,  nach  der  die  Nervatur  ebenso  wirksam  sein 
soll,  wie  das  Mesophyll  des  Blattes. 

Wie  ich  schon  andeutete,  haben  die  wissenschaft- 
lichen Bestrebungen,  vollständige  Klarheit  über  die 
Inhaltstoffe  der  überaus  wichtigen  Arzneipflanze  zu 
schaffen,  bis  jetzt  noch  keineswegs  ihren  Abschluss  ge- 
funden \  aus  dem  bisher  gefundenen  geht  aber  mit  Sicher- 
heit hervor,  dass  die  Darreichungsformen  der  Digitalis,  wie 
sie  von  der  Pharmazie  schon  seit  langer  Zeit  geboten 
wurden,  ihre  volle  Berechtigung  hatten,  ja  dass  in  diesem 
Falle  die  Empirie  nachträglich  ihre  wissenschaftliche 
Begründung  gefunden  hat  und  ihre  Ehre  gerettet  sieht. 


Über  ungesättigte  Säuren. 

(Mitteilung  aus  der  chemischen  Anstalt  der  Universität 

im  Bernoullianum.) 

Von 

Fr.  Fichter. 


In  der  folgenden  Abhandlung  soll  eine  Beziehung 
zwischen  der  Leitfähigkeit  einbasischer  ungesättigter 
Säuren  und  der  Stellung  der  Doppelbindung  in  der 
Molekel  besprochen  werden.  Um  aber  zunächst  den 
Gedankengang  darzulegen,  der  zu  dieser  Untersuchung 
geführt  hat,  gebe  ich  in  einem  ersten  Kapitel  eine  kurze 
Zusammenstellung  einiger  Arbeiten  über  ungesättigte 
Säuren,  die  ich  mit  verschiedenen  Mitarbeitern  von 
1896  — 1902  in  den  Räumen  der  chemischen  Anstalt  im 
Bernoullianum  ausführte.  Im  zweiten  Kapitel  ist  das 
Hauptthema  erörtert,  und  ich  betrachte  es  als  einen 
glücklichen  Umstand,  dass  ich  meinem  Lehrer  in  Physik, 
unserm  hochverehrten  Herrn  Jubilar,  hiemit  eine  Unter- 
suchung widmen  kann,  in  welcher  physikalische,  speziell 
elektrische  Messungen,  eine  so  wesentliche  Rolle  spielen. 

I.    K  a  p  i  t  e  1. 
Synthesen  ungesättigter  Säuren. 

1.  Die  /^-ungesättigten  Säuren. 
Durch   Reduktion    von  Acetoglutarsäureester l)   mit 
Natriumamalgam    in    wässrig-alkoholischer  Lösung    ent- 


J)    Wislicenus  \-  Limpach.  Ann.  d.  Chem.  192,  128. 


—     24G     — 

steht  unter  gleichzeitiger  Verseifung  die  d-Oxy-a-äthyl- 
glutarsäure  resp.  die  ihr  entsprechende  d-Caprolacton-;'- 
carbonsäure  : 

COOR  C001I  COOH 

I  !  I 

CHt-CO-CH  -CH2-CH2  COOR  >-  CH3-CH-CH-CH2-CH2-COOH  >  CHS-CH-CH-CH2-CH2 

I  I 

OH  O —     — CO 

Bei  der  trockenen  Destillation  verliert  diese  Säure 
Kohlendioxyd  und  Wasser  und  liefert  nebeneinander  die 
j/($-Hexensäure  und  die  «-Athylidenglutarsäure  -)  : 

COOH  COOH 

I  I 

CH3-CH-CH-CH2-CH2  >-  CH3-CH=CH-CH2-CH2-COOH  und  CHs-CH  =  C-CH2-CH2 

I  I  I 

O—  ~CO  COOII 

In  vollkommen  analoger  Weise  gelangt  man  durch 
Reduktion  des  Benzoylglutarsäureesters  zur  d-Oxy- 
a-benzylglutarsäure  und  zur  (î-Phenyl-d-Valerolacton-y- 
carbon säure: 

COOR  COOH  COOH 

C6H5-CO-CH-CH2-CH2  >■  C0H5  CH-CH-CH2-CH2  y  CeHs-CH-cH-GHs-CHa 

1  1  1  1  1 

COOK  OH  COOH  O—  —CO 

die  ihrerseits  bei  der  trockenen  Destillation  nebenein- 
ander Phenyl-j'd-pentensüure  und  wenig  a-Benzyliden- 
glutarsäure  liefert 3)  : 

COOH  COOH 

I  I 

CuH^-CH-CH  CH2  CHl-  •>-  CsHä-CH  =  CH-CH2-CH2-COOH  und  CßHa-CH  =  CCH2-CH2 

I  I  ' 

O CO  COOH 

Diese  beiden  Reaktionsreihen  repräsentieren  eine 
der  Verallgemeinerung  fähige  Synthese  /^'-ungesättigter 
Säuren,  welche  sich  direkt  anschliesst  an  die  Reduktion 


2)  Fichier,  Ber.  d.  d.  ehem.  Ges.  29,  2367. 
:!)   Alex.  Bauer,    Hiss.    Basel    1898   und   Ber.  d.  d.  ehem.  Ges. 
31,  2001. 


—     247      — 

des  Acetobernsteinsäureesters 4)  zu  Methylparaconsäure 
und  die  Destillation  der  letzteren  zur  Gewinnung  von 
/i/-Pentensäure  neben  Methylcitra-  und  Methylitacon- 
säure  5)  : 

COOK  COOH 

CH3-CO-CH-CH2  >-  CHii-CH-CH-CH»    ^    CH:^CHr,CH-CH2-COOH  etc. 

[                       I 
COOR  <> CO 

Die  Zwischenprodukte  der  oben  geschilderten  Syn- 
tbese  sind  die  interessanten  d-Lactonsäuren,  welche  die 
Unbeständigkeit  des  d-Lactonringes  in  deutlichster  Weise 
zeigen:  die  diesbezüglichen  Beobachtungen  sind  seither 
von  Siobbe*)  an  andern  Beispielen  bestätigt  worden. 
Die  erhaltenen  /^-ungesättigten  Säuren  dienten  in  erster 
Linie  dazu,  unsre  Kenntnisse  dieser  Säureklasse,  von 
der  bis  dahin  nur  die  Allylessigsäure  zugänglich  war, 
nach  verschiedenen  Richtungen  zu  vermehren  und  zu 
befestigen.  So  konnte  die  von  Fittig  aus  Versuchen 
an  der  Allylessigsäure  gefolgerte  Vermutung 7),  dass 
/d-ungesättigte  Säuren  beim  Kochen  mit  Natronlauge 
nicht  umgelagert  werden,  im  vollen  Umfange  bestätigt 
werden:  die  Indifferenz  gegen  kochende  Natronlauge  ist 
das  charakteristische  Unterscheidungsmerkmal  der  yd-xm- 
gesättigten  Säuren  gegenüber  den  ^/-ungesättigten,  mit 
welchen  sie  sonst  viele  Ähnlichkeit  besitzen.  Dann  hat 
die  /d-Hexensäure  auch  zu  verschiedenen  physikalischen 
Messungen  gedient,  wodurch  unsre  Erfahrungen  bezüglich 
des  Einflusses  der  Stellung  der  doppelten  Bindung  inner- 


4)  Die   sich   am  Besten   mit    Aluminiumamalgam   durchführen 
lässt. 

5J  Fittig  Sf  Spenzer,  Ann.  d.  Chem.  283,  *iG. 
c)  H.  Stobbe,  Aun.  d.  Chem.  314,  120. 
")  Ann.  d.  Chem.  283,  63. 


—     248     — 

halb  der  Molekel  einer  ungesättigten  Säure  erweitert 
werden  konnten.8) 

Von  der  als  Nebenprodukt  dei  der  Darstellung  der 
yd-Hexensäure  erhaltenen  «-Athylidenglutarsäure  und 
ihren  Verwandten  soll  in  einem  besondern  Abschnitt 
noch  weiter  die  Rede  sein. 

Einen  andern  Weg  zur  Darstellung  ^'-ungesättigter 
Säuren  hatte  schon  Fittifj  eingeschlagen,  aber  ohne  den 
gewünschten  Erfolg  zu  erzielen.  Wie  Natriumsuccinat 
bei  Gegenwart  von  Essigsäureanhydrid  sich  mit  allen 
möglichen  Aldehyden  kondensieren  Hess  zu  den  sub- 
stituierten Paraconsäuren  9)  (deren  Destillation  dann 
/^-ungesättigte  Säuren  ergiebt),  so  sollte  Natriumglutarat 
unter  denselben  Bedingungen  d-Lactonsäuren  geben: 
aber  die  Kondensationen  mit  Benzaldehyd  und  Valeral- 
dehyd  lieferten  nicht  die  gewünschten  Lactonsäuren, 
sondern  zweibasische  ungesättigte  Säuren 10),  und  ver- 
liefen mit  ganz  unbefriedigender  Ausbeute. 

Betrachten  wir  nun  einmal  die  Kondensationsfähig- 
keit der  zweibasischen  Fettsäuren  : 

yCOOH  /COOH  ,     /COOH 

CH"\COOH  CH2x  CH2-COOH  "'\CH2-CH2-COOH 

Malonsäure        13  ernstein  säure  Glutar  säure 

so  ergiebt  sich,  dass  die  Malonsäure  mit  Aldehyden 
sofort  schon  bei  gewöhnlicher  oder  nur  wenig  erhöhter 
Temperatur,    bei  Gegenwart    von  allen    möglichen  Kon- 


s)  Refraktionsmessung,  briefl.  Mitt.  d.  H.  Prof.  ,/.  F.  Eykman, 
aus  Amsterdam,  vom  27.  XII.  1896.  Messung  der  optischen  Drehung 
des  Mentholesters,  vergl.  Vortrag  d.  H.  Dr.  Hans  Rupe  in  der  Na- 
turforschenden (res.  am  II.  V.  PJ02.  Leitfähi.i>keitsmessung,  siehe 
II.  Kapitel. 

'•»)  Ann.  d.  Chem.  255,  1. 

10)  Ann.  d.  Chem.  282,  834. 


—     249     — 

densationsmitteln  leicht  reagiert,  weil  ihre  Methylen- 
gruppe rechts  und  links  von  der  stark  negativen  Oar- 
boxylgruppe flankiert  ist.  In  der  Bernsteinsäure  lassen 
sich  Kondensationen  auch  noch  ziemlich  leicht  erzielen, 
nach  der  Per  hin- Fittig' sehen  oder  nach  der  Claiseri  sehen 
Methode  -  -  ihre  reaktionsfähige  Methylengruppe  wird 
von  einer  Oarboxylgruppe  direkt,  von  der  andern  nur 
indirekt  über  ein  Atom  hinweg  beeinflusst.  In  der 
Glutarsäure  endlich  kann  die  «-Methylengruppe  nur  von 
einer  Oarboxylgruppe  beeinflusst  werden;  die  andere  ist 
zu  weit  davon  entfernt. 

Wir  können  aber  wenigstens  einem  Wasserstoffatom 
der  Methylengruppe  der  Glutarsäure  die  Beweglichkeit 
eines  Wasserstoffatoms  der  Malonsäure  verschaffen,  wenn 
wir  eine  zweite  negative  Gruppe  in  die  «-Stellung  ein- 
führen, z.  B.  die  Penylgruppe  : 

CoH.ï-CH-COOH 

I 
CH-2 

I 
CH2-COOH 

Das  zwischen  Phenyl  und  Carboxyl  stehende  Methin- 
wasserstoffatom ist  nun  in  der  That  sehr  reaktionsfähig 
geworden. 

«-Phenylglutarsäure  ")  resultiert  aus  der  Einwirkung 
von  /i-Jodpropionester  auf  Natrium-Phenylmalonester 
und  Verseifung  des  erhaltenen  Produkts  : 

CeHs-CNa  (COOR)2  C6H5-<^(COOR)2  CV.tb-CH-COOH 

CH2J-CH:-COOR    '  CH2-CH2-COOR  CH2-CH:-COOH 

Die  auch  in  anderer  Beziehung  (leichte  Anhydrid- 
bildung etc.)  interessante  «-Phenylglutarsäure  kondensiert 
sich    in  Form    ihres    Natriumsalzes    bei  Gegenwart    von 

u)  Otto  Merckens,  Diss.  Basel  1902,  und  Ber.  d.  d.  ehem.  Ges. 
34,  4174. 


—     250     — 

Essigsäureanhydrid  unter  Kohlendioxydabspaltung  mit 
Benzaldehyd  zur  y<J-Diphenylallylessigsäure  nach: 

COOH  CsH5 

l  I 

CeHe  CHO  +  CH-CH2-CH2-COOH  -  COs  +  HsO-f  CV,H.-,-CH  -  C-CH2  CH2-COOH 
I 
CisHs 

wodurch  also  die  gewünschte  Synthese  einer  ^-unge- 
sättigten Säure  erreicht  ist.  Die  Reaktion  schliesst  sich 
in  jeder  Beziehung  der  von  W.  H.  Perkin12)  durchge- 
führten direkten  Synthese  (ohne  Isolierung  der  Penyl- 
paraconsäure)  der  sogenannten  Phenylisocrotonsäure 
oder  richtiger  Phenylvinylessigsäure  an  ;  die  Reaktion 
von  Merckens  kann  durch  Anwendung  andrer  Aldehyde 
leicht  ausgedehnt  werden,  wobei  allerdings  die  Kosten 
der  Gewinnung  der  a-Phenylglutarsäure  erschwerend  ins 
Gewicht  fallen. 

Aber  noch  eine  dritte  Methode  musste  für  die  Ge- 
winnung der  y($-ungesättigten  Säuren  berücksichtigt 
werden.  W.  H.  Perkin  kondensierte13)  Zimmtaldehyd 
mit  essigsaurem  Natrium  bei  Gegenwart  von  Essigsäure- 
anhydrid zur  sogenannten  Cinnamenylacrylsäure: 

OeHs-CH  =  CH-CHO  +  CHs-COOH  ►-  CaHö-CH  =  CH-CH  =  CH-COOH 

und  reduzierte  diese  mit  Natriumamalgam  zur  Hydro- 
cinnamenylacrylsäure.  Man  weiss  heute,  auf  Grund 
klassischer  Untersuchungen  von  Filligu),  V.  Baeyerif>) 
und  Thiele1*"'),  dass  die  Reduktion  einer  Säure  mit  in 
der  angedeuteten  Weise  hintereinander  liegenden  zwei 
Doppelbindungen  zu  einer  Säure  mit  nur  einer  Doppel- 
bindung  zwischen    den    beiden    ursprünglichen    führt  - 

12)  .Jahresber.  ü.  d.  Fortschritte  d.  Chemie  1877,  790. 

13)  Loc.  cit.  791. 

14)  Ann.  d.  Chem.  227,  31,  225,  12. 

15)  Ann.  d.  Chem.  251,  278,  256.  1. 

ir')  Ann.  «1.  Chem.  306,  87. 


—     251     — 

class    also  Perkin's  Hydrocinnamenylacrylsäure    nur    die 
Formel  einer  /^-ungesättigten  Säure  besitzen  kann  : 
C6H5-CH2-CH  =  CH-CH2-OOOH 

Wie  hier  Perkin  aus  einer  aß-yd-un gesättigten  Säure 
durch  Reduktion  zu  einer  /^/-ungesättigten  Säure  gelangt 
war,  gerade  so  sollte  man  durch  Reduktion  einer  ßy-os-un- 
gesättigten  Säure  zu  einer  /^-ungesättigten  Säure  kommen 
können. 

Zimmtaldehyd  kondensiert  sich  mit  Bernsteinsäure- 
ester  bei    Gegenwart   von   Natriumaethylat    zur   Cinna- 

menylitaconsäure  n)  :  COOH 

I 
CoHs-CH  =  CH-CHO  +  CH2-CJS2-COOK  >-   CeHs-CH  =  CH-CH  =  C-OH2-COOH 

I 
COOR 

AVenngleich  das  Produkt  in  Beziehung  auf  die  end- 
ständige Carboxylgruppe  die  verlangte  Konstitution  einer 
/Jy-dfi-ungesättigten  Säure  besitzt,  so  gelang  es  doch  nicht, 
die  gewünschte  Synthese  durchzuführen,  denn  die  mittel- 
ständige Carboxylgruppe  liess  sich  in  keiner  Weise  ab- 
spalten. Der  glatte  Verlauf  der  Reduktion  zur  Phen- 
äthylidenbrenz  Weinsäure,        COOH 

CeHö-CHa-Cfl  =  CH-OH-CH2-COOH 
die  Umlagerung   der  letzteren    durch    siedende   Natron- 
lauge zur  Phenäthylitaconsäure, 

COOH 
I 
C6H5-CH2-CH2-CH  =  C-CH2-COOH 

und    die    schliessliche    Reduktion     zur    Phenäthylbrenz- 

weinsäure  COOH 

I 
C6H5-CH2-CH2-CH2-CH-CH2 

COOH 

konnte  dem  genannten  Übelstand  nicht  abhelfen. 


»)  Sylvain  Hirsch,   Diss.  Basel   1900.    I.  Abhandlg..  und   Bei: 
d.  d.  ehem.  Ges.  34,  2188. 


—     252     — 

Wenn  alier  die  Einführung  einer  Phenylgruppe  in 
a-Stellung  bei  der  Glutarsäure  ohne  weiteres  die  Kon- 
densation mit  Benzaldehyd  unter  Kohlendioxydabspaltung 
bewirkt  hatte,  so  waren  ähnliche  Resultate  zu  erwarten 
bei  der  Kondensation  von  Zimmtaldehyd  mit  Phenyl- 
bernsteinsäure  —  dieselbe  nmss  nach  : 

CeHs  CfiHs 

I 
OeHs-CH  =  CH-CHO  +  CH-CH2-COOH  ►■  CeHs-CH  =  CH-CH  =  C-CH2-COOH 

I 
COOll 

verlaufen    zur    Bildung     einer    /^-(^-ungesättigten    ein- 
basischen  Säure  und  so  zum  Ziele  führen  1S). 

Damit  würden  wir  drei  unabhängige  Methoden  zur 
Gewinnung  ^-ungesättigter  einbasischer  Säuren  besitzen. 

2.  Die  de-imgesättigten  Säuren. 

Im  Anschluss  an  die  erste  Methode,  die  zur  Ge- 
winnung von  ^-ungesättigten  Säuren  geführt  hatte, 
wurde  Acetessigester  mit  /-Chlorbuttersäureester  kom- 
biniert zum  Acetyladipinsäureester  19)  : 

CH3-CO-CH2-COOR  OHs-CO-CH-COOR 

>■  I 

CH2CI-CH2-CH2-OÜOR  CH2-  CH2-CH2-COOR 

woraus  durch  Reduktion  unter  gleichzeitiger  Verseifung 
€-Oxy-a-aethyladipinsäure  resultiert  : 

COOK  COOH 

I  ! 

CH3-CO-CH-CH2-CH2-CH2-COOR  y    OH3-CH(OH)-CH-CH2-CH2-CH2-COOH 

Diese  e-Oxysäure  ist  zur  Lactonbildnng  nicht  mehr 
befähigt.      Sie     giebt     bei    der    trockenen    Destillation 

18)  Herr  Ernst  Greffier  ist  mit  diesen  Versuchen  beschäftigt. 
,;|)  Eugen  <<i>lli/,   Diss.  Basel  1897,   und  Ber.  d.  d.  ehem.  Ges. 
30,  2047. 


—     253 

unter  Abspaltung  von  Wasser  und  Kohlendioxid  die 
de-Heptensäure  : 

COOH  •>-        C( ).-  +  HsO  +  CH3  CH  =  CH-CH2  CH2-CH2-CO( »II 

I 
(  'II::  CH  (OHJ-CH-CH2-CH2  -CH2-COOH 

(daneben  entstehen  kleine  Mengen  einer  zweibasischen 
ungesättigten  Säure ,  wahrscheinlich  Athylidenadipin- 
säure). 

Die  normale  de-Hexensäure  wird  auf  folgendem 
Weg  dargestellt  -°).  7-Acetobuttersäure  2l)  addiert  Cyan- 
wasserstoff zu  einem  Cyanhydrin,  das  bei  der  Verseifung 
die  a-Methyl-a-oxyadipinsäure  liefert: 

CN  COOH 

I  I 

CH;   CO-CH2-CH2-CH2-COOH  >-    CH3-C-CH2-CH2-CH2-COOH  >-    CH3-C-CH2-CH2-CH2-COOH 

I  I 

OH  OH 

bei  der  Destillation  giebt  diese  unter  Abspaltung  von 
Wasser  und  Kohlendioxyd  nebeneinander  die  yd-  und 
die  (fe-Hexensäure  : 

^°0H  v  CHs-OH  =  CH-OH2-OH2-COOH 

CH3-C-CH2-OH2-CH2-COOH 

|  ~~ >■  CH2  =  CH-OH2-CHs-CHs!-COOH 

OH 

(daneben  entsteht  noch  eine  zweibasische  ungesättige 
Säure).  Die  yd-  und  die  fo-Hexen säure  können  auf 
Grund  der  verschiedenen  Löslichkeitseigenschaften  ihrer 
Baryumsalze  von  einander  getrennt  werden. 

Die  zwei  de-unge sättigten  Säuren,  die  einer  ganz 
neuen  Klasse  angehören,  zeichnen  sich  dadurch  aus, 
dass  sie  bei    der  Addition    von  Halogenwasserstoff  und 


w)   Werner  Lmgguth,  Diss.  Basel  1897,  II.  Teil,  und  Ber.  d.  d. 
ehem.  Ges.  30,  2050;  Aim.  d.  Chem.  313,  371. 
21)  l.  Wolff.  Ann.  d.  Chem.  216,  129. 


—     25  4 

darauf  erfolgendem  Austausch  des  Halogenatoms  gegen 
Hvdroxyl  <3-Lactone  ergeben  nach  : 
CHa    CH-CHa-CHa-CHa-COOH  +  HBr  y   CHa-CHBr-CHs-CEfc-CHs-COOH  y 

y  CH3-CH(OH)-CH2-CH2-CH2-COOH  y  CH3-CH-CH2-CH2-CH2 

I  I 

Speziell  das  hier  als  Beispiel  angeschriebene  Lacton  ist 
mit  aller  Sicherheit  mit  dem  bekannten  d-Caprolacton 82) 
identificiert  worden  23). 

Zum  Vergleich  mögen  noch  in  einer  kleinen  Tabelle 
die  Eigenschaften  der  neu  erhaltenen  yd-  und  ^-unge- 
sättigten Säuren  mit  den  bekannten  isomeren  Vertretern 
zusammengestellt  werden  : 

Pentensäuren.  Hexensäuren.  Heptensäuren. 

,    Sm.  9°,5-10°,5.  Sm.  33°. 

aß     Sd.    200-201°.       ß/      Sd.    216-217°. 

flüssig.  _      flüssig.  flüssig. 

'  ''     Sd.  194".  'r/    Sd.  208°,5.  ?'     Sd.  220-228°. 


yd 


flüssig.  .,    Sm.   15°. 

Sd.   186-187°.        ;'      Sd.    206°,5. 


flüssig.  ,      flüssig. 


Sd.  204°.  Sd.  222-224° 

(«C 


Phenylpentensäuren. 

aß  Sm.   104°. 
ßy  Sm.  31°. 
yd  Sm.  90-91°. 


flüssig. 

Sd.225   227°) 23) 


22)  L.  Wolff,  Ami.  d.  Ghem.  216,  134. 

23)  0.  Wallach,  Ann.  d.  Chem.  312,  171  beschrieb  einige  Jahre 
später  anscheinend  dieselbe  fe-Hexensäure,   sowie  eine  rfe-Decylen- 

säure  und  eine  f  f -Heptylensaure  :  er  erhielt  die  Körper  durch  die  Beck- 


255     — 

3.  Die  «-Äthylidenglutarsäure  und  ihre  Verwandten. 

Als  Nebenprodukt  bildet  sich  bei  der  Darstellung 
der  /d-Hexensäure  aus  der  Capro-d-lacton-y-carbonsäure 
eine  sehr  schön  kristallisierte  zweibasische  ungesättigte 
Säure,  die  als  «-Äthylidenglutarsäure  aufzufassen  ist 
und  nach  folgender  Umlagerung  entsteht: 
COOH  COOH 

CH3-CH-CH-CE2-CH2    y    CH3-CH-C-CH2-CH2 

i  I  I 

0-  —CO  COOH 

Der  Beweis  für  ihre  Konstitution  liegt  in  der  Thatsache, 
dass  dieselbe  Säure  erhalten  wird  durch  Behandlung 
des  Capro- (Macton -/-carbonsäureesters  mit  Natrium- 
aethylaf24): 

COOO2H5  COOC2H5 

CH3-CH-OH-CH2-CH2  (H-NaOCiHa)  y  CH3-CH=C-CH2-CH2 

0 = CO  COONa 

d.  h.  also  nach  einer  Reaktion,  welche  zur  Umlagerung 
von  homologen  Paraconsäuren  in  die  entsprechenden 
Itaconsäuren  dient.  -b).  Die  «-Äthylidenglutarsäure  steht 
in  demselben  Verhältnis  zur  Capro-d-lacton-y-carbonsäure 
wie  die  Äthylidenbernsteinsäure  oder  Itaconsäure  zur 
Valerolacton-ß-carbonsäure  oder  Paraconsäure. 

/»«»«'sehe  Umlagerung  der  Oxime  cyclischer  Ketone  zu  „Isoximen". 
Aufspaltung  der  erhaltenen  Ringe  zu  Amidosäuren  mit  Fernstellung 
der  Amidogruppe,  und  Umwandlung  der  letzteren  durch  salpetrige 
Säure  zu  Oxysäuren  und  daneben  auftretende  ungesättigte  Säuren. 
Wallach  giebt  für  (5e-Hexensäure  den  Siedepunkt  zu  208-210° 
an,  während  wir  —  zuletzt  bei  der  Darstellung  von  30  gr.  reiner 
Säure  —  nur  203-201°  (Thermometer  ganz  im  Dampf)  beobachteten. 
Die    Walfach' 'sehe  Angabe  ist  entschieden  zu  hoch. 

2*)  August  Eggert,  Diss.  Basel  1898  und  Ber.  d.  d.  ehem.  Ges. 
31,  1998. 

25)  W.  Hoser.  Ann.  d.  Chem.  220,  254;  li.  Fitlig,  Ann.  d.  Chem. 
256,  50. 


256     — 

Die  a-Athylidenglutarsäure  besitzt  nun  ein  grosses 
Interesse  wegen  ihrer  Verwandschaft  zu  einem  Körper, 
den  v.  Pechmann 26)  durch  Polymerisation  von  Croton- 
säureester  erhalten  hat:  seine  sogenannte  Dicrotonsäure 
besitzt  die  Konstitution  einer  a-Athyliden-ß-methylglutar- 
säure  und  ist  ein  höheres  Homologes  der  a-Athyliden- 
glutarsäure. 

Die  a-Athyliden-/?-inethylglutarsäure  nimmt  nach 
V.  Pechmann  eine  merkwürdige  Ausnahmestellung  ein. 
Nach  einer  empirischen,  von  OstwuldiT)  aufgefundenen 
Regel  wächst  das  Aquivalentleitvermögen  des  Natrium- 
salzes einer  n-basischen  Säure  um  rund  lOn  Einheiten, 
wenn  die  Verdünnung  der  untersuchten  Lösung  getrieben 
wird  von  1  32  normal  bis  zu  1  1024  normal.  Diese 
Regel  bietet  ein  Mittel,  um  die  Basizität  einer  Säure 
zu  bestimmen,  indem  man  die  Aquivalentleitfähigkeit 
des  Xatriumsalzes  derselben  bei  den  genannten  Ver- 
dünnungen misst,  die  Differenz  nimmt  und  diese  durch 
10  dividiert  :  eine  zweibasische  Säure  würde  eine  Dif- 
ferenz von  rund  20  Einheiten  ergeben  müssen. 

Zweifellos  ist  die  a-Athyliden-/?-methylglutarsäure 
eine  zweibasische  Säure  —  aber  trotzdem  macht  diese 
Differenz  bei  ihr  nur  11,9  Einheiten  aus. 

v.  Pechmann  -s)  hat  auch  den  Acrylsäureester  po- 
lynierisiert  und  aus  demselben  eine  zweibasische  unge- 
sättigte Säure  gewonnen,  die  als   a-Methylenglutarsäure 

OH2=  C-COOH 
I 

CHa 
i 
CH2-COOH 


26)  Ber.  d.  d.  ehem.  Ges.  33,  3323. 

-T)   Vergl.  z.B.  Ber.  d.  d.  ehem.  Ges.  21.  3534. 

2S)  Ber.  d.  d.  ehem.  Ges.  34,  427. 


—     257     — 

zu  betrachten  ist.  Dieselbe  Säure  wurde  im  hiesigen 
Laboratorium  aus  ganz  andern  Gründen  und  mit  Hilfe 
andrer  Reaktionen  dargestellt. 

Die  Reduktion  der  Anhydride  fetter  zweibasischer 
Säuren  zu  Lactonen  durch  Natriumamalgam  29)  -  -  z.  B. 
des  Bernsteinsäureanhydrids  zu  Butyrolacton  : 

CHa~CO\  ÜH2-CH2  . 

I  >0  +  2H2=  1  >0  H-  H2O 

OH2-CCK  CH2-CO   / 

bot  namentlich  interessante  Resultate  bei  Verwendung 
von  Glutarsäureanhydrid  (und  Aluminiumamalgam  als 
Reduktionsmittel)30).    Es  entstand  so  das  (5-Valerolacton : 

CH2-C(  »  CH2-CH2 

1  I        1 

CH2  n     -f-  2H2  =  CH2  0    +   H20 
11  l 

CH2-CO  CH2-CO 

als  leicht  bewegliches  Ol  vom  Siedepunkt  113—114°  bei 
13— 14  mm,  das  die  sehr  charakteristische  Eigenschaft 
zeigt,  sich  nach  und  nach  zu  polymerisieren  zu  einem 
festen  Körper,  der  aus  Ather-Petroläther  in  kleinen 
Krystallwärzchen  vom  Schmelzpunkt  47—48°  krystalli- 
siert,  und  auf  Grund  von  Molekulargewichtsbestimmungen 
vielleicht  als  heptamer  anzusehen  ist.  Das  polymère 
Lacton  giebt  beim  Kochen  mit  Alkalien  die  Salze  der 
monomeren  d-Oxyvaleriansäure  und  aus  diesen  resultiert 
zunächst  wieder  das  monomere  d-Valerolacton,  das  sich 
im  Lauf  der  Zeit  aber  bald  in  das  Polymere  zurück- 
verwandelt. 

Diese  bemerkenswerten  Erscheinungen  hat  keiner  der 
Autoren  31)  beobachtet,  die  bisher  das  d-Valerolacton  in 

-'•')  August  Herbrand,  Diss.  1898  und  Ber.  d.  d.  ehem.  Ges.  29, 
1192. 

y°)  Alfred  Beisswenger,  Diss.  Basel  1902. 

;l     Funck,  Ber.  d.  d.  ehem.  Ges.  26,  2ö74.    Clovex.  Ann.  d.  Chem. 
319,  357. 

17 


—     258     — 

Händen  gehabt  haben,  und  man  darf  daraus  schliessen, 

dass  diese  Forscher  den  Körper  nicht  in  reinem  Zustand 

besassen.      Insbesondere    gilt    dies    für     Weidel 32),    der 

durch  Destillation  der  (aus  Nicotinsäure  durch  Reduktion 

mit   Natriumamalgam   erhaltenen)    d-Oxy-a-methylglutar- 

säure  das  d-Valerolacton  dargestellt  zu   haben   glaubte, 

nach  : 

COOH 
I 
CH2-CH-CH2-CH2  >-  CO2  -f  H2O  -f  GH2-GH2-CH2-CH2 

I  I  I 

OH  COOH  0—  CO 

Die  Versuche  von  Weidel  wurden  deshalb  wieder- 
holt und  ergaben  als  Resultat,  dass  das  einzige  Produkt 
der  Destillation  jener  Oxysäure  «-Methylenglutarsäure 
ist,  nach 33)  : 

COOH  COOH 

l  I 

CH2-CH-CH2-CH2  >■  H2O  +  CH2=C-CH2-CH2 

I  1  I 

OH  COOH  COOH 

Die    «-Methylenglutarsäure,    die    «-Athylidenglutar- 

säure  und  die  «-Athyliden-/?-methylglutarsäure 

CH2  =  C-COOH  CH3-CH  =  C-COOH        CH3-CH=  C-COOH 

CH2  CH2  CH3-CH 

!  I  I 

CH2-COOH  CH2-COOH  CH2-COOH 

bilden  eine  Reihe  von  Homologen.  Wenn  die  von 
v.  Peckmann  beobachtete  Unregelmässigkeit  bezüglich 
der  Leitfähigkeit  des  Natriumsalzes  eine  allgemeine 
Eigenschaft  dieser  Säureklasse  darstellt,  so  müsste  sie 
sich  bei  den  niedrigeren  Homologen  ebenfalls  finden. 
Deshalb  wurden  nun  auch  die  Aquivalentleitfähigkeiten 
der  Natriumsalze  dieser  Säuren  bestimmt. 


32)  Monatshefte  f.  Chemie  XI,  501.  Ber.  d.  d.  ehem.  Ges.  24, 
Ref.  148. 

33j  Das  vermeintliche  (5-Valerolacton  von  Weidel  war  vielleicht 
das  Anhydrid  der  «-Methylenglutarsäure. 


259     — 

a-Methylenglutarsaures  Natrium,  bei  25°  34) 
v  =  32  64  128  256  512  1024 

A=  84,5         88,3         92,8         96,5         99,3         101,9 

^1024  ~~^32  =  l7'4  (recipr- 0hm)  oder  16'3  (reciPr-  S-E0 

a-Athylidenglutarsaures  Natrium,  bei  25°)  35) 

v  =  32  64  128  256  512  1024 

A=  82,3         87,2         91,0         94,2         96,9  98,7 

A1  no,  -A8()  =  16,4  (recipr.  Ohm)  oder  15,4  (recipr.  E. S.) 
1LM4  oii 

Aus  diesen  Messungen  lässt  sich  der  Schluss  ziehen, 
dass  die  abnorme,  von  v.  Pechmann  beobachtete  Dif- 
ferenz von  nur  11,9  bei  der  a-Athyliden-ß-methylglutar- 
säure  keine  Gruppeneigenschaft  der  a-Alkylidenglutar- 
säuren,  sondern  vielleicht  eine  spezielle  Eigentümlichkeit 
der  „Dicrotonsäure"   darstellt. 

4.  Die  Vinylessigsäure  (erste  Versuche). 

In  den  Abschnitten  1  und  2  ist  gezeigt,  dass  die 
Darstellung  von  ungesättigten  Säuren  mit  sozusagen 
beliebiger  Stellung  der  Doppelbindung  gelingt,  wenn 
man  nur  eine  zweibasische  Oxysäure  bezw.  eine  Lac- 
tonsäure  von  geeigneter  Konstitution  trocken  destilliert. 
Welchen  Konstitutionsbedingungen  muss  eine  derartige 
zweibasische  Oxysäure  genügen,  wenn  sie  zu  dem  ge- 
dachten Zwecke  geeignet  sein  soll? 

Die  gemeinsame  Eigenschaft  fast  aller  zur  Unter- 
suchung gelangter  Säuren  einschliesslich  der   von  Fittig 


34  )  Alfred  Beisswenger,  Diss.  Basel  1902,  pag.  44. 
35)  Benno  Mühlhauser,  Diss.  Basel  1902,  pag.  54,  und  Ber.  d.  d. 
ehem.  Ges.  35,  341. 


—     260     — 

verwandten  Paraconsäuren  ist  die,  dass  eine  Carboxyl- 
gruppe  zu  der  Oxygruppe,  welclie  frei  oder  in  einem 
Lactonring  gebunden  sein  kann,  in  ß-Stellung  steht. 

Diese  /i-Stellung  von  Carboxyl  und  Hydroxy]  ist 
auch  die  Bedingung  für  das  Gelingen  der  im  Abschnitt 
3  erwähnten  Roser-Fittig 'sehen  „Natriumäthylatreaktion" 
der  Ester.  Zur  Aufklärung  der  Verhältnisse  jener 
Reaktion  dient  eine  zufällig  gemachte  Beobachtung,  die 
nachher  durch  eine  systematisch  durchgeführte  Unter- 
suchung ergänzt  wurde  :ifi),  dass  diejenigen  Lactonsäuren, 
deren  Ester  bei  der  Natriumäthylatreaktion  ungesättigte 
Säuren  liefern,  beim  Kochen  mit  Natronlauge  dieselbe 
Umlagerung  erleiden;  und  eine  Wasserabspaltung  in 
diesem  Sinne  erfahren  wahrscheinlich  alle  /?-Oxysäuren, 
gleichgültig  ob  sie  ausser  der  /?-Carboxylgruppe  noch 
eine  zweite  enthalten  und  wo  sich  dieselbe  befindet. 

Um  die  Giltigkeit  des  Satzes  bezüglich  der  Destil- 
lation zweibasischer  Oxysäuren  zu  prüfen,  wurde  ge- 
legentlich auch  eine  homologe  Apfelsäure  dargestellt  und 
destilliert 37).  Buttersäureester  kombiniert  sich  mit 
Oxalester  bei  Gegenwart  von  Natriumäthylat  zum 
Athyloxalessigester  3S) 

CH3-CH2-CH2-COOR  CH3-CH2-CH-COOR 

ROOC-COOR  CO-COOR 

welcher  bei  der  Reduktion  mit  Aluminiumamalgam  in 
ätherischer  Lösung  glatt  in  Athyläpfelsäureester  über- 
geht: 

(  H.;-CH2-CH-COOR  CH3-CH2-CH-COOR 

1  +m>-  , 

CO-COOR  CH(OH)-COOR 


3G)  Camille  Dreyfus,    Diss.  Basel   1900,    und    Ber.   d.  d.  ehem. 
Ges.  33,  1452. 

37)  Max  Goldhaber,  Diss.  Basel  1902. 

3s)    Wilhelm    Wislicmua,  Ann.  d.  d.  Chem.  246,  3:37. 


—     261     — 

Die  daraus  gewonnene  Athyläpfelsäure  spaltet  bei 
der  Destillation  wohl  Wasser  ab  und  liefert  als  Haupt- 
produkt Methylcitracon säure  neben  kleinen  Mengen  der 
isomeren    Methylitaconsäure    und    Methylmesaconsäure  : 

OH.i-CHs-CH-COOH  CH3-CH2-C-COOH        CH3-CH2-C-COOH        CHs-CH  =  C-COOH 

1  ►■  ;  11        ; 

CH(OH)-COH  II  C  COOH  HOOC-C-H  CH2  COOII 

aber  die  erwartete  Abspaltung  von  Kohlendioxyd  tritt 
nicht  oder  nur  in  verschwindendem  Masse  ein.  Viel- 
leicht würde  sich  die  Bildung  «^-ungesättigter  einba- 
sischer Säuren  doch  erreichen  lassen,  wenn  man  nur  in 
der  Reihe  der  Apfelsäuren  zu  noch  höheren  Homologen 
fortschreiten  würde,  wie  ja  auch  in  der  Reihe  der  ho- 
mologen Faraconsäuren  die  Kohlendioxydabspaltung  mit 
steigendem  Molekulargewicht  immer  reichlicher  eintritt. 
Wenn  man  alle  die  Beobachtungen  bezüglich  der  De- 
stillation zweibasischer  Oxysäuren  überblickt,  so  erscheint 
es  als  sehr  wahrscheinlich,  dass  auch  die  /i-Oxyglutar- 
säure,  welche  v.  Pechmann  und  Jenisch :J9)  durch  Re- 
duktion der  Acetondicarbonsäure  dargestellt  hatten  : 

CH2-COOH  CH2-COOH 

I  l 

CO  4-     H2    ^     CH.OH 

I  ! 

CHs-COOH  CB2-COOH 

bei  der  Destillation  eine  einbasische  ungesättigte  Säure 
liefern  muss.  Zum  ersten  Male  wurde  diese  Frage  vor 
vier  Jahren  (eigentlich  mit  einem  andern  Ziel  im  Auge) 
studiert40).  Entgegen  der  Angabe  v.  Pechmannh,  dass 
/?-Oxyglutarsäure  bei  der  Destillation  ausschliesslich 
Glutaconsäure  gebe,  fanden  sich  im  Produkte  der  De- 
stillation   im   Vacuum    neben    Glutaconsäure    reichliche 


°9)  ßer.  d.  d.  ehem.  Ges.  24,  3250. 

1,1 1  Arch.  sc.  phys.  nat.  Genève  (4)  6,  402.  Chem.  Central!)]. 
1898,  II,  1011.  Albert  Brafft,  Diss  Base.  1899.  Ber.  d.  d.  ehem. 
Ges.  32,  2799. 


—     262     — 

Mengen  einer  einbasischen  flüchtigen  Säure  von  der  Zu- 
sammensetzung der  Crotonsäuren,  die  nichts  andres  war 
als  die  lange  gesuchte  Yinylessigsäure  41) 

cm  CH-CH2-C00H 

Ihre  Bildung  rauss  folgendermassen  aufgefasst  werden: 
ß-Oxyglutarsäure  verliert  bei  der  Destillation  Wasser 
unter  Bildung  einer  ß-Lactonsäure,  die  aber  bei  der 
herrschenden  hohen  Temperatur  ohne  weiteres  Kohlen- 
dioxyd verliert  —  wie  dies  alle  ß-Lactone  thun  —  und 
dadurch  glatt  in  Yinylessigsäure  übergeht  : 

CH2-COOH  CH2-CO  CH2 

1  I        1 

CH-OH  ^     CH-0  y     CH 

I  I  l 

CH2-COOH  CH2-COOH  CH2-COOH 

Keine  andere  Erklärungsart  ist  so  befriedigend  wie 
diese:  will  man  annehmen,  /i?-Oxyglutarsäure  gebe  zuerst 
Glutaconsäure  und  diese  erst  Yinylessigsäure,  so  steht 
dem  die  Thatsache  entgegen,  dass  Glutaconsäure  im 
Vaciram  als  Anhydrid  überdestilliert  und  kein  Kohlen- 
dioxyd abspaltet;  will  man  andrerseits  die  Hypothese 
aufstellen.  /S-Oxyglutarsäure  verliere  zuerst  Kohlendioxyd 
unter  Bildung  von  ,3-Oxybuttersäure  und  diese  erst  gebe 
Wasser  ab  und  liefere  Yinylessigsäure,  so  widerspricht 
dieser  Annahme  der  Umstand,  dass  /J-Oxybuttersäure 
im  Vadium  vollkommen  unzersetzt  destilliert,  ja  auf 
diesem  AVeg  gereinigt  werden  kann. 

Die    Hypothese    der    intermediären    Bildung    einc^ 
/J-Lactons  ist  vielleicht  auch  in    andern  Fällen    zur  Er- 


41)  Die  Gewinnung  dieser  Säure  gelang  später  auch  —  unter 
Verwendung  von  /i-Bromglutarsäure  als  Ausgangsmaterial  — 
S&emmoff,  Chem.  Centralis.  1899.  II,  28,  und  J.  Wislicenus,  Ber. 
d.  d.  chem.  Ges.  32,  2047;  vergl.  auch  //.  II'.  E.  üelkmberg,  Diss- 
Leipzig  1901. 


—     263 

klärung  des  Verhaltens  von  ß-Oxy säuren  bei  der  Destil- 
lation heranzuziehen. 

Aber  eine  Schwierigkeit  war  noch  zu  überwinden. 
V.  Baeyer  und  Villiger  i2)  hatten  eine  /?-Lactonsäure  der 
Fettreihe,  das  /?-Lacton  der  asymmetrischen  Dimetbyl- 
äpfelsäure,  dargestellt  und  untersucht  und  gefunden, 
dass  dieses  Lacton  selbst  bei  der  Destillation  kein 
Kohlendioxyd  abspaltet. 

Der  merkwürdige  Ausnahmefall  ist  hier  auf  das 
Sorgfältigste  geprüft  worden  43),  und  es  hat  sich  folgendes 
ergeben.  Allerdings  spaltet  das  /?-Lacton  der  asymme- 
trischen Dimethyläpfelsäure  bei  der  Destillation  kein 
Kohlendioxyd  ab,  aber  es  lagert  sich  dabei  in  tiefgrei- 
fender Weise  um:  der  viergliedrige  Ring  des  /j-Lactons 
wird  erweitert  zum  fünfgliedrigen  des  Anhydrids  der 
asymmetrischen  Dimethyläpfelsäure 

CHhx  CH3N 

ch3/^-g^  cm^'C0   \0 

CH-0         ►■  ("II  -CO""" 

I  I 

COOII  OH 

was  ja  durchaus  natürlich  erscheint,  wenn  man  die  starke 
Spannung  berücksichtigt,  die  in  einem  viergliedrigen 
Ringsystem  herrschen  muss  ii). 

Das  Verhalten  des  /?-Lactons  der  as-Dimethyläpfel- 
säure  kann  in  keiner  Art  als  Gegenbeweis  gegen  die 
obige  Annahme  einer  /9-Lacton säure  als  Zwischenprodukt 
der  Darstellung   der   Vinyl essigsaure    aus    /j-Oxyglutar- 


42)  Ber.  d.  d.  ehem.  Ges.  30,  1954. 

43)  Sylvain  Hirsch,  Diss.  Basel  1900,  It.  Abhandlung,  und  Ber. 
d.  d.  ehem.  Ges.  33,  3270. 

u)  Analoge  Versuche  mit  Trimethyläpfelsäure  und  deren  Lacton 
sind  jetzt  von  andrer  Seite  in  Angriff"  genommen  worden,  vergl. 
C.  Komppa,   Ber.  d.  d.  ehern.  Ges.  35,  514. 


264     — 

säure  geltend  gemacht  werden,  sondern  im  Gegenteil 
lässt  sich  aus  den  Versuchen  von  Hirsch  der  Schluss 
ziehen,  dass  bei  der  Zersetzung  der  ,9-Oxyglutarsäure 
zunächst  überhaupt  nur  die  /i-Lacton  säure  entsteht. 
Diese  ihrerseits  kann  dann  entweder  nach  Art  der 
meisten  /J-Lactone  Kohlendioxyd  abspalten  und  Vinyl- 
essigsäure liefern,  oder  sie  kann  sich  unter  Ringer- 
weiterung umlagern  zum  Anhydrid  der  /?-Oxyglutarsäure 
und  dadurch  die  Entstehung  der  Glutaconsäure  veran- 
lassen, etwa  nach: 

CH2 

II 

CH 

CH2-COOH       CHä-CO  /      CH2-COOH 

I  I         I  x 

CH.  OH       y    CH-0  v.  CH2  — CO  CH-CO 

I  I  \       i  I  II        I 

CHä-COOH      CH-'-COOH  >*.   CH.OH  0       ^     CH    0 

Il  II 

CH2  —  CO  CH2--CI  > 

Derartigen  Hypothesen  fehlt  solange  der  sichere  Boden, 
als  es  uns  nicht  gelingt,  die  /i-Lactonsäure  selbst  zu 
fassen. 

Nachdem  damit  soweit  als  möglich  Klarheit  ge- 
schaffen war  über  die  Bildung  der  Vinylessigsäure,  galt 
es  nunmehr  auch  ihre  Konstitution  in  eindeutiger  Weise 
zu  bestimmen.  Dem  stellten  sich  aber  zwei  Hindernisse 
in  den  Weg. 

Die  von  Albert  Erafft  dargestellte  Vinylessigsäure 
enthielt  kleine  Mengen  von  fester  Crotonsäure,  und  in 
den  ersten  Versuchen  gelang  es  nicht,  eine  vollkommene 
Abscheidung  dieser  Verunreinigung  zu  erzielen.  Deshalb 
war  auch  eine  präzise  Charakterisierung  der  neuen  Sub- 
stanz nicht  mit  aller  wünschbaren  Schärfe  möglich. 

Ferner  scheiterten  gleich  die  ersten  Versuche  zum 
Nachweis  der  /?/- Stellung  der  doppelten  Bindung  voll- 
kommen.     Alle    ^'-ungesättigten    Säuren    liefern     beim 


—     265     — 

Kochen  mit  Schwefelsäure  einer  bestimmten  Konzen- 
tration unter  Umlagerung  die  isomeren  /-Lactone:  die 
Vinylessigsäure  aber  giebt  unter  diesen  Bedingungen 
glatt  und  quantitativ  die  wohlbekannte  feste  Cfotonsäure. 
Ebensowenig  Erfolg  brachten  Versuche  mit  dem  Di- 
bromid  der  Vinylessigsäure. 

Um  diese  Schwierigkeiten  zu  überwinden,  oder 
richtiger  um  ihnen  aus  dem  Wege  zu  gehen,  wurden 
nun  zwei  ganz  neue  Richtungen  eingeschlagen,  bis  dass 
schliesslich  eine  einfache  Reinigungsmethode  der  Vinyl- 
essigsäure das  Ziel  in  Kürze  erreichen  Hess. 

5.  Synthese  homologer  Vinylessigsäuren. 

Wie  die  Vinylessigsäure  aus  der  /i-Oxyglutarsäure, 
und  diese  aus  der  Acetondicarbonsäure  erhalten  worden 
war,  so  mussten  homologe  Vinylessigsäuren  aus  homo- 
logen /J-Oxyglutarsäuren  resp.  aus  homologen  Aceton- 
dicarbonsäuren  darstellbar  sein.  Homologe  Acetondicar- 
bonsäureester  sind  nach  v.  Pechmami's  Angaben  45)  glatt 
durch  Synthese  aus  Natriumacetondicarbonsäureester  und 
Halogenalkylen  zugänglich. 

Jene  Angaben  erwiesen  sich  aber  als  vollkommen 
trügerisch.  Bei  der  Darstellung  des  sogenannten  „Di- 
benzylacetondicarbonsäureesters"46)  zeigte  es  sich,  dass 
die  betreffende  Substanz  ihren  Namen  zu  Unrecht  führt 
und  richtiger  Tribenzylacetondicarbonsäureester  genannt 
werden  muss. 

Lässt  man  nämlich  Benzylchlorid  auf  Natriumace- 
tondicarbonsäureester  einwirken,  so  bildet  sich  zuerst 
Monobenzylacetondicarbonsäureester: 

15i  Ann.  d.  Chem.  261,  173. 

•"'•i   Heinrich  Schiess,  Diss.  Basel  1901,  und  Ber.  d.  d.  chem.  Gea 
34,  1996. 


—     266     — 

CcHd-CH-CI  -f-  CHNa-COOR  CeHs-OHa-CH-COOR 

I  I 

CO  >■  CO 

I  I 

ch2-co(  m  CH2-C00R 

dieser  ist  aber  eine  stärker  saure  Substanz  als  der  Ace- 
tondicarbonsäureester  selbst,  und  bevor  nur  der  ganze 
Natriuniacetondicarbonsäureester  in  Reaktion  getreten 
ist,  hat  ihm  schon  der  Benzylacetondicarbonsäureester 
sein  Natrium  entrissen  und  Natriummonobenzylaceton- 
dicarbonsäureester  damit  gebildet: 

CHNa-COOR  C6H5-CH2-CH-COOR  C6H5-CH2-CH-COOR  CH2-COOR 

I  I 

CO  CO  ^  CO  +     CO 

I  III 

CH2-COOR  CH2-COOR  CHXa-COOR  CH2-COOR 

die  neue  Natriumverbindung  reagiert  wieder  mit  Benzyl- 
chlorid  zu  Dibenzylacetondicarbonsäureester 

C6H5-CH2-CH-COOR 

l 
CO 

CGH5-CH2-CH-COOR 

der  aber  noch  stärker  saure  Eigenschaften  besitzt  und 
wieder  Natrium  an  sich  reisst  unter  Bildung  des  Na- 
triumdibenzylacetondicarbonsäureesters 

CoH5-CH2-CNa-COOR 

I 

CO 

I 
CV,H5-CH2-CH-COOR 

und  der  letztere  endlich  reagiert  nochmals  mit  Benzyl- 
chlorid  zum  Tribenzylacetondicarbonsäureester: 


C0H5-CH2 


\/ 


CgH5-CH2/^COOR 
CO 

C6H5-CH2-CH-CO(  >R 

Damit  scheint  dann  das  Spiel  zum  Stillstand  zu  kommen: 
ein  Tetrabenzylacetondicarbonsäureester  konnte  nicht 
isoliert  werden.     Wie  man  aber  die  Synthese   anstellen 


—     267     — 

mag,  ob  man  den  Ansatz  wählt,  der  zum  mono-,  oder 
zum  di-,  oder  zum  tri-substituierten  Produkt  führen 
muss  —  immer  erhält  man  ein  Gemisch  von  flüssigen 
Estern,  aus  welchem  der  vorhandene  Tribenzylaceton- 
dicarbonsäureester  rasch  und  vollständig  auskrystallisiert. 

Einen  noch  bessern  Überblick  über  die  Mannig- 
faltigkeit der  Produkte  der  anscheinend  so  einfachen 
Synthesen  mit  Acetondicarbonsäureester  gewinnt  man 
bei  Verwendung  von  p-Nitrobenzylchlorid,  da  die  damit 
erhaltenen  Körper  fast  ausnahmslos  gut  kristallisieren47). 

Symmetrisch  substituierte  /i-Oxyglutarsäuren  sind 
noch  auf  einem  andern  Wege  zugänglich,  den  zuerst 
S.  Reformatzky 4S)  beschritten  hat,  nämlich  durch  Re- 
aktion von  halogensubstituierten  Estern  bei  Gegenwart 
von  Zink  auf  Ameisenester:  so  resultiert  beispielsweise 
aus  a-Brombuttersäureester  und  Ameisenester  (unter 
intermediärer  Bildung  zinkhaltiger  Produkte,  die  hier 
nicht  näher  angeführt  werden  sollen)  der  Diaethyl-/:?- 
oxyglutarsäureester  : 

CHs-CH'-CH  Br-COOR  CH3-CH2-CH-COOR 

I 
H  .  CO  .  OR        (  -f  2  Zn)  >-  CH  .  OH 

CH3-CH2-CH  Br-COOR  CH3-CH2-CH-CO(  >R 

Aus  der  symmetrischen  Diäthyl-ß-oxyglutarsäure  muss 
bei  der  Destillation  eine  Diäthylvinylessigsäure  ent- 
stehen49) nach  : 

CH3-CH2-CH-COOH  CH3-CH2-CH 

CH.OH        ►-  CO2  +  H2O    !  CH 

I  I 

CH3-CH2-CH-COOH  CH3-CH2-CH-COOH 


47)  Herr  Chaskel  Wortsmann  hat  in   einer  diesbezüglichen  Un- 
tersuchung  eine  Reihe  schöner  Substanzen  isoliert. 

48)  Ber.  d.  d.   ehem.  Ges.  28,  3262. 

l9)  Herr  E.  A.  Wittmann  widmet  sich  diesen  Versuchen. 


—     268     — 

Dem      Stereoiso  mer  enpaar     Crotonsäure-Isocroton- 

säure   ist  das  Paar  Tiglinsäure-Angelicasäure   homolog. 

Wie  nun  den  Crotonsäuren  als  «/^-ungesättigten  Säuren 

die    Vinylessigsäure    als    /?j/-Isomeres    sich    anreiht,     so 

sollte    eine    „Vinylpropionsäure"     den    aß- ungesättigten 

Tiglinsäure-Angelicasäure  zur  Seite  stehen  : 

CHs-C-H  CH3-C-H  CH->   CH 

'I  I 

HOOO-C-CHa  CHa-C-COOH  CH3-CH-COOH 

Tiglinsäure  Angelicasäure         Vinylpropionsäure 

Ihre  Darstellung  wurde  auf  folgendem  "Wege    versucht. 

Ameisenester  wurde  bei  Gegenwart  von  Natriumäthylat 

mit  Brenzweinsäureester  kombiniert    zum   Formylbrenz- 

weinsäureester    oder  Oxymethylenbrenzweinsäureester 5") 

CHs  CH3 

H.OOOR  +  CH2-CH-COOR  y  CH(OH)^C-CH-COOH 
I  I 

COOK  COOR 

der    durch  Reduktion  in    den  Ester    der  a-Methylpara- 
consäure  übergieng: 

COOR  COOR  COOR 

l  1  I 

CHfOHi^C-CH-C'Hs  y     CH2(OH)-CH-CH-CH3  >■     CH2-CH-CH-CH3 

I  !  i       I 

COOR  COOR  O-  -CO 

Die  daraus  erhaltene  «-Methylparaconsäure  wurde  dann 
destilliert.  Aber  anstatt  wie  andre  homologe  Paracon- 
säuren  dabei  zu  zerfallen  unter  Kohlendioxydabgabe  und 
eine  einbasische  ungesättigte  Säure  zu  liefern  etwa  nach: 
COOH 
CFL'-CH-CH-CHa     >-     CH2    CH-CH-CHs 

6 CO  COOH 

geht  die  a-Methylparaconsäure  im  Vacuum  und  bei  ge- 
wöhnlichem    Druck    nnzerselzt    über.      Dieser    Versuch 


5n)  Nach  Analogie   der  Darstellung   des    Formvlbernsteinsäure- 
esters,    W.   Wislicenus,  Ber.  d.  d.  ehem.  Ges.  27,  3186. 


—     269     — 

zur  Erlangung  der  Vinylpropionsäure  ist  also  gescheitert51). 
Nichtsdestoweniger  bietet  das  geschilderte  Verhalten  der 
ft-Methylparaconsäure  grosses  Interesse,  insofern  es 
weitere  Beiträge  liefert  zu  dem  Gesetz  über  die  Kon- 
stitution derjenigen  Oxy säuren  und  Lactonsäuren,  welche 
bei  der  Destillation  ein-  und  zweibasische  ungesättigte 
Säuren  geben  können. 

Die  Resultate  dieses  Abschnittes  sind  also  dahin 
zusammenzufassen,  dass  von  drei  Wegen  zur  Synthese 
homologer  Vinylessigsäuren  nur  einer  sich  als  gangbar 
erwiesen  hat. 

6.    Einwirkung'   aromatischer    Basen    auf    die    Bromad- 
ditionsprodukte ungesättigter  Säuren. 

Bei  den  Versuchen  von  Kraft,  die  Vinylessigsäure 
durch  das  Verhalten  ihres  Dibromids  bei  der  Zer- 
setzung mit  Wasser  zu  charakterisieren,  waren  nur 
wenig  durchsichtige  Resultate  erlangt  worden  und  es 
erhob  sich  damit  die  Frage,  ob  vielleicht  die  Einwirkung 
aromatischer  Basen  auf  solche  Bromadditionsprodukte 
zu  leicht  zu  reinigenden,  krystallisierbaren  Körpern 
führen  würde.  Zu  diesem  Behuf  mussten  aber  zuerst 
die  Additionsprodukte  von  Säuren  bekannter  Konsti- 
tution in  der  angedeuteten  Richtung  untersucht  werden, 
und  es  erwuchsen  hieraus  eine  ganze  Reihe  von  Arbeiten, 
die  in  extenso  zu  behandeln  hier  nicht  der  Ort  ist,  da 
sie  mit  dem  Hauptthema  nur  in  einem  losen  Zusammen- 
hang stehen.  Es  sei  darum  nur  hingewiesen  auf  die 
Darstellung  des  l-Phenyl-4-methylpyrazolons,  seiner  Ab- 
kömmlinge   und    seiner  Verwandten  5'2),    aus    Citra-   und 

51)  Herr  Ernst  Rudin  beschäftigt  sich  mit  diesen  und  einigen 
verwandten  Untersuchungen. 

:2)  Joseph  Enzenauer,  Diss.  Basel  1900;  Emil  Uellenberg,  Diss. 
Basel  1900,  IL  Teil  ;  Ber.  d.  d.  ehem.  Ges.  33,  494;  Reinhard  Vor- 
tisch, Diss.  Basel  1902. 


-     270      - 

Mesadibrombrenzweinsäure  und  Phenylhydrazin;  ferner 
auf  das  sogenannte  Anilidocitraconanil  und  seine  in- 
teressanten Umwandlungsprodukte  53)  ;  aber  ein  kleines 
Kapitel  aus  diesen  Untersuchungen  54)  muss  doch  kurz 
besprochen  werden  wegen  seiner  Bedeutung  für  die 
Beurteilung  der  Stärke  der  ungesättigten  Säuren.  Es 
sollte  zum  Zweck  des  Studiums  der  Einwirkung  von 
Toluylen-o-diamin  auf  das  Dibromadditionsprodukt  der 
Crotonsäure  zuerst  das  Carboxyl  jener  Säure  mit  Toluyl- 
endiamin  festgelegt,  d.  h.  in  die  Anhydrobase  verwandelt 
werden.  In  dieser  Absicht  wurde  Crotonyl-p-toluid  nitriert 

NO2 

l 

CH3-/  .\  H-CO- CH  =  CH-CHs  >-  CHa-  -NH-CO-CH  ^  CH -CHs 

und  das  Nitrocrotonyl-p-toluid  reduziert.  Das  Produkt 
der  Reduktion  mit  Zinn  und  Salzsäure  war  aber  keine 
Anhydrobase,  sondern  einfach  das  4-Crotonyltoluylen- 
diamin,    neben    dem    isomeren    3-Crotonyltoluylendiamin 

NO2  NH2  NH.CkHöO 

I  1  ! 

CH3-  VnH.CjHsU   y    CHs-<  VNH.C4H6O  und  CH3-/  -NH2 

\ /  \_/  \__y 

Die  Entstehung  des  letztgenannten  Isomeren  erklärt 
sich  dadurch,  dass  die  Salzsäure  einen  Teil  des  4-Cro- 
tonyltoluylendiamins  verseift,  worauf  der  abgespaltene 
Crotonsäurerest  in  der  3-Stellung  von  neuem  angelagert 
wird:  im  Produkt  findet  sich  immer  auch  noch  freies 
Toluylen-o-diamin . 

Das  4-  und  das  3-Crotonyltoluylendiamin  können  als 
solche  charakterisiert  werden  durch  die  Einwirkung  von 
salpetriger  Säure,  welche  aus  den  beiden  crotonylierten 


53j  Ernst  Preiswerk,  Diss.  Basel  1902,  und  Ber.  d.  d.  ehem.  Ges. 
35,  1626. 

M)  Ebenfalls  aus  der  Diss.  des  Herrn  Dr.  Ernst   Preiswerk, 


—     271     — 

o- Diaminen    zwei    isomere    crotonylierte    Azimidotoluole 
erzeugt  : 

C4H5O  <,!!,<> 

NH  N N  NH-j  N=N 


— NH2     y  — N   _  V KH-C4H:,()     >~  — N-C4H0O 


CHa  CHa  CH3  CH3 

Es  wird  durch  die  Existenz  der  beiden  Crotonyl- 
Azimidotoluole  die  Tautomerie  der  Azimidokörper  von 
neuem  illustriert 55).  Für  unsre  Besprechungen  hier  ist 
speziell  das  Ausbleiben  des  Ringschlusses  bei  den  beiden 
Crotonyltoluylendiaminen  wichtig. 

7.  Die  reine  Vinylessigsäure. 

J.  Wislicenus  hat  ein  Verfahren  ausgearbeitet 56) 
um  die  sogenannte  Isocrotonsäure,  welche  immer  reich- 
liche Mengen  von  fester  Crotonsäure  enthält,  vollkommen 
rein  und  frei  vom  Isomeren  zu  gewinnen.  Die  Methode 
beruht  im  wesentlichen  darauf,  dass  das  Natriumsalz 
der  festen  Crotonsäure  in  Alkohol  fast  unlöslich,  das- 
jenige der  Isocrotonsäure  dagegen  äusserst  leicht  lös- 
lich ist. 

Es  zeigte  sich  nun,  dass  auch  das  Natriumsalz  der 
Vinylessigsäure  in  Alkohol  löslich  ist  —  nicht  gar  so 
leicht  wie  das  der  Isocrotonsäure,  aber  doch  bedeutend 
leichter  als  das  der  festen  Crotonsäure.  Mit  einer 
kleinen  Abänderung  bezüglich  der  Menge  des  Alkohols 
Hess  sich  das  Wislicenus' sehe  Verfahren  auf  die  rohe,, 
crotonsäurehaltige  Vinylessigsäure  anwenden  und  lieferte 
nun    endlich    die    vollkommen    reine    einheitliche  Vinyl- 


5a)  Vergl.  Zincke,  Ann.  d.  Chem.  291,  317. 
sc)  Chem.  Centralis  1897,  II,  259. 


—     272     — 

essigsaure  57),  deren  Haupteigenschaften  hier  in  Vergleich 
gestellt  werden  sollen  mit  denjenigen  der  reinen  festen 
Crotonsäure  und  der  reinen  Isocrotonsäure  : 


Crotonsäure. 

Isocrotonsäure. 

Vinylessigsäure. 

H-C-CHu 

CH3-C-H 

CH2=CH-CH2-COOH 

H-O-COOH 

H-C-CÜOH 

8m.       72°. 

15°,4-15°,5. 

flüssig. 

Sd.        85°. 

74°. 

71°. 

12-14  mm 

Die  Charakterisierung  der  reinen  Vinylessigsäure 
als  einer  /^-ungesättigten  Säure  gelingt  nicht  durch 
Umwandlung  in  das  ihr  entsprechende  j'-Butyrolacton. 
Die  mit  dem  gleichen  Volum  Wasser  verdünnte  Schwefel- 
säure, welche  Fiitifi  zu  derartigen  Unilagerungen  be- 
nützt 58)  sowohl  als  eine  ganz  verdünnte  Schwefelsäure 
bewirken  beim  Erhitzen  eine  quantitative  Umlagerung 
in  feste  Crotonsäure,  und  genau  das  gleiche  Resultat 
wird  erreicht  durch  Behandlung  der  Vinylessigsäure 
mit  Bromwasserstoff  bei  0°. 

Aber  die  Vinylessigsäure  lässt  sich  vorzüglich 
charakterisieren  durch  ihr  Dibromid  und  dessen  Zer- 
setzungsprodukte. Das  Vinylessigsäuredibromid,  auf  die 
übliche  Weise  in  Schwefelkohlenstofflösung  dargestellt, 
krystallisiert  nach  dem  Abdunsten  des  Lösungsmittels 
und  wird  durch  Umkrystallisieren  aus  wenig  Schwefel- 
kohlenstoff rein  mit  dem  Schmelzpunkte  49-50°  erhalten; 
die  neue  Dibrombuttersäure  im  Vergleich  mit  den  schon 
bekannten  zeigt  also  folgende  Eigenschaften: 


:,7j  Ferdinand  Sonneborn,  Diss.  Basel  1902,  und  Ber.  d.  d.  ehem. 
des.  35,  938. 

58)  Ann.  d.  Chem.  283,  51. 


273     — 

«.ï-Dibrombuttersaure  a/î-lsodibrombuttersaure  /?y-Dibrombuttersäure 

aus  fester  Crotonsäure.  aus  Isocrotonsäure.  aus  Vinylessigsäure, 

m.  85°.  58-59°.  40-50°.  59) 

Wird  die  /?y-Dibrombuttersäure  mit  Wasser  gekocht, 
so  spaltet  sie  Bromwasserstoff  ab  und  tauscht  ein  Brom 
gegen  Hydroxyl  aus  unter  Bildung  eines  /?-Oxybutyro- 
lactons,  das  bei  der  Destillation  Wasser  verliert  unter 
Bildung  eines  Butenlactons: 


CH2Br-CHBr-CH2-COOH    >- 

CHa-OHBr-CH2        CH2-CH(OH)-CH2        CHCH-CH> 

I 
-CO 


O-  -CO         0 CO         0 CO     (?) 


Das  Oxybutyrolacton  und  das  Butenlacton  bedürfen 
noch  genauerer  Untersuchung.  Aber  die  Thatsache  der 
Bildung  von  Lactonen  beweist  allein  schon  aufs  schla- 
gendste, dass  in  der  /?/-Dibrombuttersäure  ein  Bromatom 
in  /-Stellung  sich  befunden  hat,  dass  also  die  ßy-Dibrom- 
buttersäure  das  Additionsprodukt  einer  /^-ungesättigten 
Säure  ist  —  und  damit  ist  die  Konstitution  der  reinen 
Vinylessigsäure  über  jeden  Zweifel  erhaben. 

Die  Bestimmung  der  physikalischen  Konstanten  der 
Vinylessigsäure,  speziell  der  Leitfähigkeit,  gab  den  An- 
stoss  zu  den  Messungen,  die  im  folgenden  Kapitel  be- 
sprochen werden  sollen. 


59)  Heisenberg,  Diss.  Leipzig  1901,  vergl.  Anmerkung  «),  fand 
lür  sein  Vinylessigsäuredibromid  den  Sm.  50-51 i  2°. 

18 


274 


II.    Kapitel. 

Leitfähigkeitsmessungen  an  ungesättigten  Säuren. 
1.   Theoretische  Vorbemerkung. 

Nach  den  Theorien  der  elektrolytischen  Dissociation 
sind  die  meisten  momentan  in  wässriger  Lösung  ver- 
laufenden Reaktionen,  wie  die  Neutralisation  der  Säuren 
und  Basen,  „lonenreaktionen"  G0).  Demnach  beruht 
z.  B.  die  Bildung  von  essigsaurem  Natrium  aus  wässriger 
Natronlauge  einzig  und  allein  auf  einer  Reaktion  der 
für  die  Säure  charakteristischen  Wasserstoffionen  einer- 
seits, mit  den  für  die  Base  charakteristischen  Hydroxyl- 
ionen  andrerseits,  die  sich  zu  nicht  dissociiertem  Wasser 
vereinigen  : 

CH3.COO'  H;    +   Na-    OH'  =  OH3  COO'  Xa-    +    H2O 

während  das  Anion  der  Essigsäure  CH3  .  COO  sowohl, 
als  das  Kation  Na,  nach  wie  vor  der  Neutralisation 
eine  gewissermassen  selbständige  Existenz  als  elektrisch 
geladene  Ionen  in  der  Lösung  führen. 

Die  Heftigkeit,  mit  welcher  eine  Säure  mit  einer 
Base  reagiert,  oder  die  Stärke  der  Säure,  wird  diesen 
Anschauungen  gemäss  abhängen  von  der  Leichtigkeit, 
mit  welcher  sie  sich  in  wässriger  Lösung  in  ihre  Ionen, 
das  Kation  Wasserstoff,  und  das  Anion  Säurerest,  spaltet, 
oder  also  von  der  Anzahl  der  in  einer  Lösung  bestimmter 
Konzentration  von  ihr  gebildeten  Ionen.  Je  mehr  freie 
Ionen  eine  Säure  bildet,  desto  stärker  ist  sie;  wenn  sie 
vollständig  in  Ionen  zerfallen  ist,  so  hat  sie  das  Maxi- 
mum der  Stärke  erreicht.  Den  Grad  der  Dissociation, 
von  welchem  also  die  Stärke  einer  Säure  abhängt,  kann 

60)  Vergl.  z.  ß.    W.  Ostwald,  die  wissenschaftlichen  Grundlagen 
der  analytischen  Chemie,  II.  Aufl.  1 90 1 . 


275 


man  messen,  durch  die  Leitfähigkeit  der  Säure;  denn 
nur  die  Ionen  transportieren  die  Elektrizität,  die  nicht 
dissoeiierten  Molekeln  beteiligen  sich  nicht  an  der 
Leitung.  Je  mehr  Ionen  eine  Lösung  enthält,  desto 
besser  leitet  sie  die  Elektrizität.  Eine  starke  Säure 
leitet  demgemäss  besser  als  eine  schwache  Säure  bei 
derselben  Konzentration. 

Nun  ist  noch  zu  berücksichtigen  der  EinÜuss  der 
Verdünnung  auf  den  Dissociationsgrad.  Je  verdünnter 
die  Lösung  ist,  desto  weiter  schreitet  die  Dissociation 
einer  Säure  fort,  so  dass  also  die  Leitfähigkeit  und  der 
Dissociationsgrad,  wenn  wir  sie  immer  auf  ein  Gramm- 
äquivalent  beziehen  (das  Aquivalentleitvermögen),  welches 
einmal  in  wenig,  das  andre  Mal  in  mehr  Wasser  gelöst 
ist,  mit  wachsender  Verdünnung  zunehmen.  Direkt 
vergleichbar  sind  also  nur  Säurelösungen  gleicher  Aqui- 
valentkonzentration. 

Ostwald  hat  aber  aus  dem  Dissociationsgrad  unter 
Elimination  des  Einflusses  der  Verdünnung  einen  Aus- 
druck abgeleitet,  den  man  als  Dissociationskonstante  oder 
Dissociationscoefhcient  bezeichnet,  und  der  direkt  als 
ein  Mass  der  Stärke  einer  Säure  angesehen  werden 
kann.  Der  Dissocationscoefricient  wird  aus  Messungen 
der  Leitfähigkeit  auf  einfache  Weise  berechnet;  die 
Formel  gilt  aber  nur  für  wenig  dissoeiierte,  also  schwache 
Säuren. 

Die  Dissociationscoefficienten  organischer  Säuren  — 
die  meist  zur  Klasse  der  massig-starken  Säuren  gehören 
(für  welche  die  Dissociationsformel  anwendbar  ist)  — 
sind  nun  in  weitgehendem  Masse  abhängig  von  der 
Konstitution  der  organischen  Molekeln.  So  wird  die 
schwache  Essigsäure  zu  einer  viel  stärkeren  Säure  durch 


276 


Einführung  von  negativen  Substituenten,  wie  Hydroxyl, 
Halogen  etc.,  was  folgende  kleine  Tabelle  zeigen  möge  : 
Essigsäure     CHs-COOH  K=  0,0018  G1) 

Glycolsäure     CH2(OH)-COOH  K  =  0,015 

Monochloressigsäure  CH2CI-COOH      K  =  0,155 
Dichloressigsäure  CHCl2-COOH  K  =  5,l 

Trichloressigsäure  CCLt-COOH  ist  so  weitgehend 
dissociiert  wie  eine  Mineralsäure. 
Aber  nicht  nur  die  Anwesenheit,  sondern  auch  die 
Stellung  der  negativen  Substituenten  ist  von  bedeutendem 
Einfluss  auf  die  Grösse  des  Dissociationscoefficienten 
in  dem  Sinne,  dass  der  negative  Substituent  umso 
stärker  wirkt,  je  näher  er  sich  bei  der  Carboxylgruppe 
befindet;  auch  dieser  Satz  sei  durch  ein  kleines  Beispiel 
illustriert0-): 

«-Chlorpropionsäure     CH3-CHCI-COOH  K-  0.1465 

/>'-Chlorpropionsäure     CH2CI-CH2-COOH  K  =  0,0086 

«-Chlorbuttersäure  CH3-CH2-CHCI-COOH  K  =  0,1390 
/i-Chlorbuttersäure  CH3-CHCI-CH2-COOH  K  =  0,0089 
Nun  gilt  auch  die  Doppelbindung  als  ein  negativer 
Substituent;  sie  muss  demgemäss  durch  ihre  Anwesen- 
heit die  Stärke  der  Säure  oder  den  Dissociationscoef- 
ficienten erhöhen,  was  auch  in  der  That  eintrifft: 
Propionsäure     CH3-CH2-COOH  K  =  0,0013 

Acrylsäure          CH2  =  OH-COOH  K  =  0,0056 

Butter  säure        CH3-CH2-CH2-COOH    K  =  0,0015 
Crotonsäure       CH3-CH  =  CH-COOH     K  =  0,0020 
Die  Erhöhung  ist  keine  so  beträchtliche,  wie  die  durch 
Chlor  bewirkte,  aber  sie  ist  sehr  wohl   zu  konstatieren. 

,;1J  Die  Zahlenangaben,  bei  denen  nichts  weiter  bemerkt  ist, 
stammen  aus  Kohlrausch  und  Holborn,  Leitvermögen  der  Electro- 
lyte,  1898. 

G2)  J)  M.  Lichty,  Ann   d.  Ohem.  319,  381. 


—     277      — 

Wenn  nun  eine  Doppelbindung  gerade  wie  eine 
Hydroxylgruppe  oder  wie  ein  Chloratom  die  Stärke 
einer  Säure  erhöht,  so  war  es  ausserordentlich  wahr- 
scheinlich, ja  selbstverständlich,  dass  eine  Doppelbindung, 
je  näher  sie  der  Carboxylgruppe  steht,  eine  umso  grössere 
Erhöhung  des  Dissociationscoefficienten  bewirken  werde, 
d.  h.  also  dass  unter  den  ungesättigten  Säuren  die 
(^'-Säuren  den  grössten  Wert  des  Dissociationscoeffi- 
cienten aufweisen,  dann  die  /iy-Säuren  einen  niedrigeren, 
die  yd-Säuren  einen  noch  niedrigeren  u.  s.  f. 

Diesen  Schluss  hat  auch  Ostwald  gezogen  63)  und 
er  ist  allgemein  acceptiert  worden. 

Wie  gross  war  daher  unsere  Überraschung,  als  die 
Messungen  des  Herrn  Dr.  Ferd.  Sonnebor n  an  der  Vinyl- 
essigsäure  bewiesen,  dass  diese  Säure  stärker  sei  als 
die  isomeren  Crotonsäuren  ! 

Ich  gebe  hier  das  Resultat  einer  Messung,  die 
Herr  Alfred  Pfisier  später  ausgeführt  hat: 


Vinylessigsäure  bei  25°  6t) 


A_  =  383 


L  >o 


v  =  16     32      64     128     256    512    1024 
A  =  9,36    13,16    18,46    25,01    35,89   50,02   68,92 
100a  =  2,44   3.44    4,82    6,77    9,37    13,1    18,0 
K  =  0,00381  0,00383  0,00381  0,00384  0,00378  0,00386  0,00386 
K  Mittel  =  0,00383  G5) 

,;3)  Zeitschr.  f.  phys.  Chem.  3,  383. 

°4)  v- :  Anzahl  Liter  auf  ein  Gramm  äquivalent;  \  das  Äqui- 
valentleitvermögen; Aoo  das  Äquivalentleitvermögen  bei  unend- 
licher Verdünnung,  das  maximale  Leitvermögen  ;  100  a  der  Disso- 
ciationsgrad  iu  Prozenten;  K  der  Dissociationscoefficient. 

Gr>)  In  früheren  Publikationen  ist  K  infolge  eines  Versehens 
zu  0,0051  angegeben  worden,  was  hiemit  berichtigt  sei. 


—     278     — 

Der  Dissociationscoefhcient  beträgt  demnach  für 
Vinylessigsäure  K  =  0,0038,  während  feste  Crotonsäure 
K  =  0,0020  (und  unreine  Isocrotonsäure  K  =  0,0036?) 
aufweist. 

2.  Messungen  an  den  Penten-  und  Hexensäuren. 

Das  Problem  war  damit  gegeben  ;  es  mussten  nun 
an  isomeren  Reihen  ungesättigter  Säuren  von  vergleich- 
barer Konstitution  Messungen  des  Leitvermögens  ange- 
stellt werden,  um  zu  untersuchen,  ob  die  Annahme  von 
Ostwald  richtig  ist.  Das  Material  für  solche  vergleichende 
Messungen  boten  neben  den  bekannten  aß-  und  /^/-un- 
gesättigten Säuren  die  yö-  und  de-Säuren,  deren  Dar- 
stellung im  ersten  Kapitel  besprochen  ist.  Die  Ge- 
winnung und  peinliche  Reinigung  der  ungesättigten 
Säuren,  sowie  die  Messungen  selbst  hat  Herr  Alfred 
Pfister  mit  Sorgfalt  und  Geschick  ausgeführt,  wofür 
ihm  auch  an  dieser  Stelle  herzlicher  Dank  ausge- 
sprochen sei. 

Die  Resultate  sind  in  der  folgenden  Tabelle  ver- 
einigt und  ausserdem  in  zwei  beigelegten  Tafeln  graphisch 
dargestellt. 

I.   tt^-Pentensäure  bei  25". 

380- 


Aoo-J 

v=16           32 

04 

128 

256 

512 

1024 

A  =  5,90         8,35 

11.71 

16.38 

22,53 

30,72 

41,98 

100a  =1,55    2,20 

3. (»8 

4,31 

5,93 

8,08 

11,05 

K  =  0,00153  0,00158  0.00153  0.00152  0.00146  0,00139  0.00134 
K  Mittel  =  0,00148. 


—     279     — 

II.  /?7-Pentensäure  bei  25°.  J\      =  380. 

v=16         32             G4              128           256  512            1024 

A  =  8,94      12,(il         17,60        24,32        32,51  45,06        62,46 

100a  =  2,35    3,32          4,63          6,40          8,56  11,86        16,44 

K  =  0,00353  0,00356    0,00351    0,00342    0,00313  0,00312    0,00316 
K  Mittel  =  0,00335. 


III.  j^-Penten  säure  bei  25°.  A      =  380. 

v  =  16         32  64  128  256  512  1024 

A  =  6,90        9,89        13,76        19,33        26,88        36,86        50,17 
100a  =  1,82    2,60  3,62  5,09  7,07  9,71         13,2 

K  =  0,00211   0,00217    0,00213    0,00213    0,00210    0,00204    0,00196 
K  Mittel  =  0,00209. 


IV.  «ß-Hexensäure  bei  25°.  A      =  378. 

v  =16         32  64  128  256  512  1024 

A  =  6,46        9,18        12,93        18,18        25,34        35,33        49,15 
100a  =  1,71    2,43  3,42  4,81  6,70  9,35        13,0 

K=  0,00186  0,00189    0,00189    0,00190    0,00188    0,00188    0,00190 
K  Mittel  =  0,00189. 


V.   /i;'-Hexensäure  bei   25° 66).  A      =  378. 

v=16         32  64  128  256  512  1024 

A=7,76      11,01         15,42        21,50        29,95        40,96        55,30 
100a  =  2,05    2,91  4,08  5,69  7,92         10,8  14,6 

K=  0,00268  0,00273    0,00271    0,00268    0,00266    0,00256    0,00244 
K  Mittel  =  0,00264. 

G6)  /?}'-Hexensäure  oder  Hydrosorbinsäure  ist  schon  früher  von 
Ostwald  gemessen  worden,  Zeitscbr.  f.  phys.  Chemie,  3,  274*  er  fand 
K     0,0024. 


\       =378 

512 

1024 

35,84 

49,15 

9,48 

13,0 

—     280     — 

VI.  /d-Hexensäure  bei  25°.  A  _  =  378. 

v=16  32  04  128  256  512  1024 

A- 6,21         8,83        12,54        17,54        24,22        33,79        47,10 
100a  =1,64    2,34  3,32  4,64  6,41  8,94        12,5 

K=  0,00171  0,00175    0,00178    0,00176    0,00172    0,00171    0,00174 

K  Mittel  =  0,001 74. 

VII.  dg-Hexensüure  bei  25°. 

v=16  32  64  128  256 

A  =6,50        9,25         12,99         18,18        25,60 
100a  =1,72    2,44  3.44  4,81  6,77 

K  =  0,00188  0,00192    0,00192    0,00190    0,00192    0,00194    0,00190 
K  Mittel  =  0,00191. 

Eine  Zusammenstellung  führt  uns  nochmals  das 
Resultat  vor  Augen  : 

Butensäuren       aß  0,0020        ßy  0,0038 
Pentensäuren     aß  0,00148      ßy  0,00335      yd  0,00209 
Hexensäuren      aß  0,00189      ßy  0,00264      yö  0,00174      de  0,00191 

In  dieser  Zahlenreihe  fällt  —  abgesehen  von  der 
gleich  zu  diskutierenden  Hauptfrage  wegen  des  Unter- 
schiedes zwischen  aß-  und  ^/-ungesättigen  Säuren  — 
der  Umstand  auf,  dass  die  a/2-Hexensäure  einen  höheren 
Dissociationscoefficienten  besitzt  als  die  «^-Pentensäure, 
während  im  allgemeinen  beim  Fortschreiten  in  der  Reihe 
der  Homologen  mit  steigendem  Molekulargewicht  die 
Stärke  der  Säuren  abnimmt. 

Aber  auch  bei  den  gesättigten  Fettsäuren  erhlilt 
man  keine  ganz  regelmässige  Zahlenreihe,  wenn  man 
die  DissociationscoerHcienten  miteinander  vergleicht.  Die 
betreffenden  Zahlen  sind  nach  neueren  Messungen   für: 


281 


(Uneare  Con re/i  tr citions) 
fié 


M 


:   3 


Tufeßj. 
T'ervieni 


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^S 


—     282     — 

Ameisensäure         H .  COOB  K  =  0,02 1  r'7) 

Essigsäure  CEfe-COOH  0,0018 

Propionsäure  CH3  CHs  COOH  0,0013 

Buttersäure  CH3-CH2-OH2-COOH  0,00154 

N-Valeri  an  säure     CH3-GH2-CH2-CR2-COOH        0,00161 
N-Capronsäure       CH3-(CH2j4-COOH  0,00146 

Heptylsäure  CH3-(CH2)5-COOH  0,0013 

Caprylsäure  OH3-(CH2)6-OOOH  0,0014 

und  Ostwald  äusserte  sich  schon  früher  über  diese  Reihe 
folgen dermass en  G8) :  „Die  Werte  für  die  drei  ersten 
Glieder  der  Fettsäurereihe  nehmen  stetig  ab,  der  Eintritt 
von  CH3  für  H  erniedrigt  also  die  Reaktionsfähigkeit 
der  Säuren.  Vom  dritten  Gliede  ab  schwanken  die 
folgenden  Werte  unregelmässig  um  kleine  Beträge  auf 
und  ab.  Die  weit  vom  Carboxyl  erfolgenden  Substi- 
tutionen von  Wasserstoff  durch  Methyl  haben  keinen 
merklichen  Einfluss  mehr  auf  dasselbe,  und  es  machen 
sich  andre  Wirkungen  geltend,  die  sich  zunächst  unseren 
Kenntnissen  entziehen."  G9) 

Das  Verhalten  der  gesättigten  Fettsäuren  zeigt  uns 
also,  dass  wir  nicht  voraussetzen  dürfen,    es  müssten  in 

07 )  Teils  nach  E.  Franke,  Zeitschr.  f.  phys.  Chemie  16,  463, 
teils  nach  J.  BilUtzer,  Monatshefte  f.  Chemie  20.  666;  Jahrbuch 
d.  Elektrochemie  VI,  99. 

C8)  Ctrundriss  der  allgemeinen  Chemie,  II.  Aufl.  1890,  pag.  3S0. 
69j  Wenn  man  die  Affinitätsgrössen  der  Fettsäuren  auf  anderm 
Wege  bestimmt,  z.  B.  durch  Katalyse  von  Methylacetat,  so  erhält  man 
ganz  stetig  verlaufende  Zahlen.  Setzt  man  den  Greschwindigkeits- 
coefficienten  von  Salzsäure  =  1,00,  so  ergiebt  sich  für  die  Reihe 
der  homologen  Fettsäuren: 

Chlorwasserstoff  1,00 

Ameisensäure  0,01310 

Essigsäure  0,00345 

Propionsäure  =     0,00304 

Buttersäure  0,00299 

vergl.  Osticald,  Grundriss  der  allgemeinen  Chemie,  iL  Aufl.,  pag.  357. 


—     283      — 

einer   homologen    Reihe    die  Werte    der    Dissociations- 
coefficienten  ganz  stetig  verlaufen. 

Eine  zweite  kleine  Schwierigkeit  bietet  sich  hei  der 
Betrachtung  der  Reihe  der  Dissociationscoefficienten  inner- 
halb einer  Messungstabelle  bei  den  verschiedenen  Ver- 
dünnungen ;  speziell  bei  den  ßy-\u\ gesättigten  Säuren 
(II  und  V)  zeigen  die  einzelnen  Werte  eine  nicht  unbe- 
deutende Abnahme  bei  steigender  Verdünnung.  Das 
kann  nicht  durch  eine  ungenügende  Reinheit  der  ange- 
wandten Säuren  veranlasst  sein,  denn  gerade  bei  den 
/^'-ungesättigten  Säuren  ist  auf  die  Reinigung  eine  weit- 
gehende Sorgfalt  verwendet  worden.  Es  lässt  sich  leicht 
ein  Grund  denken,  warum  eine  solche  Unregelmässigkeit 
gerade  bei  den  /^-ungesättigten  Säuren  eintreten  könnte. 
/^/-Säuren  werden  durch  Säuren,  d.  h.  durch  Wasserstoffi- 
onen, iny-Lactone  umgelagert.  Wenn  eine /^/-ungesättigte 
Säure  in  wässriger  Lösung  dissoeiiert,  so  bildet  sie  selbst 
Wasserstoffionen,  und  zwar  bei  steigender  Verdünnung 
verhältnismässig  immer  mehr.  Diese  Wasserstoffionen 
können  auf  die  Säure  selbst  zurückwirken  unter  Ein- 
lagerung in  das  isomere  Lacton,  das  nicht  dissoeiierbar 
und  auch  nicht  dissoeiiert  ist  und  das  infolge  dessen 
scheinbar  den  Dissociationsgrad  der  Säure  und  damit 
den  Dissociationscoefficienten  herunterdrückt-,  dies  muss 
sich  speziell  bei  den  höheren  Verdünnungen  bemerkbar 
machen.  Die  Wirkung  der  Wasserstoffionen  der  Säure 
auf  den  nicht  dissoeiierten  Teil  der  Säure  ist  eine  Au- 
tokatalyse, wie  sie  an  einem  ganz  analogen  Fall,  dem 
freiwilligen  Übergang  der  /-Oxysäuren  in  /-Lactone 
unter  dem  Einfluss  der  Wasserstoffionen  aus  den  y-Oxy- 
säuren  von  P.  Henry70)  und  von  Heinr.  Goldschmidt'11) 
konstatiert-  worden   ist. 


70)  Zeitsclir.  f.  phys.  (  îhemie  X.  96  ;  I  ier.  d.d.  ehem.  Ges.  25,  Ref.  845. 
T1)  Ber.  d.  d.  eitern.  Gres,  29.  2213;  die1  Versuche  betreffen  die 
sog.  direkte  Esterbilduner. 


284 


.'}.    Die    ^'/-ungesättigten  Säuren    zeigen    höhere    Disso- 
ciationscoenicienten  als  die  cr/j-ungesättigten  Säuren. 

Der  in  der  Überschrift  ausgesprochene  Satz  geht 
aus  allen  Beobachtungen  an  der  Vinylessigsäure,  an  den 
Pentensäuren  und  an  den  Hexensäuren  hervor  und  lässt 
sich  am  einleuchtendsten  demonstrieren  mit  Hilfe  der 
beiden  Tafeln,  auf  welchen  die  Kurve  der  /^/-Säuren 
immer  den  höchsten  Platz  einnimmt 7-). 

Die  von  Ostwald  —  man  darf  wohl  sagen  —  ange- 
nommene Regel  (denn  er  hat  diese  Regel  nicht  durch 
vergleichende  Messungen  an  einbasischen  Säuren  be- 
wiesen) ist  demnach  zu  modifizieren.  Allerdings  nimmt 
der  Dissociationscoemcient  der  ungesättigten  Säuren  mit 
steigender  Entfernung  der  doppelten  Bindung  von  der 
Carboxylgruppe  ab  —  aber  erst  bei  Vergleichung  der 
ßy-  mit  den  yd-Säuren  7a)  ;  dort,  wo  der  Dissociations- 
coefncient  am  höchsten  sein  sollte,  bei  den  a/J-Säuren, 
ist  er  im  Gegenteil  niedrig,  niedriger  als  bei  den  /?/-un- 
gesättigten  Säuren,  ja  bei  der  a/J-Pentensäure  sogar 
niedriger  selbst  als  bei  der  /d-Pentensäure. 

Dieselbe  Beobachung  findet  sich  in  der  Litteratur 
schon  mehrfach  verzeichnet.  So  äussert  sich  v.  ßaeyer  7i) 
zu  den  unter  Ostwald  von  den  Herren  Bethmann  und 
Bader1'0)  durchgeführten  Messungen  an  den  hydrierten 
Naphtoesäuren: 


7-)  Die  Curve  der  âe- Hexensäure  konnte  nicht  eingezeichnet 
werden,  weil  sie  mit  derjenigen  der  «,?-Hexensäure  fast  vollständig 
zusammenfällt. 

71 1  Über  das  Verhalten  der  <5e-Säuren  kann  man  noch  kein 
abschliessendes  Urteil  bilden. 

T4)  Ann.  d.  Chem.  266,  175. 

"')  Zeitschr.  f.  phys.  Chemie  V,  39!)  und  VI,  311. 


285 


COOH 


CH 
A^Dihydro-a-naphtoësaure  0H2  K  =  0,0080 


COOH 

\--Dihydro-«-naphtoësaure  CH  K=  0,0114 

\CH,/ 

'\/CH2\0_C00H 
A2-Dihydro-/3-naphteesäure  CH  K  =  0,00290 

VCH2 

/OH2\CHCOOH 
Jy'-Dihydro-ß.naphtoesäure  OH  K  =  0.00515 

'W 

„Diese  Zahlen  wirkten  anfangs  entmutigend,  da  die 
Bestimmungen  für  die  Leitfähigkeit  der  Dihydrosäuren 
gerade  das  Umgekehrte  des  Resultats  gaben,  welches 
man  nach  Osheald's  früheren  Beobachtungen  hätte  er- 
warten sollen.  Es  wurde  nämlich  in  beiden  Fällen  die 
labile  Dihydrosäure  (d.  h.  die  /fy-Säure)  stärker  befunden 
als  die  stabile  (die  a/S-Säure),  d.  h.  die  Säuren,*  welche 
die  doppelte  Bindung  in  unmittelbarem  Zusammenhang 
mit  dem  Carboxyl  enthalten,  leiten  schwächer  als  die 
andern.  Nachdem  nun  aber  Ostivaltfs  Messungen  bei 
den  Hydrophtalsäuren  dasselbe  Resultat  ergeben  haben, 
wird  es  wahrscheinlich,  dass  hier  ein  allgemeineres  Ge- 
setz zu  Grunde  liegt,  dessen  genauere  Kenntnis  für 
die  Mechanik  der  Ringsysteme  selbstverständlich  von 
grosser  Wichtigkeit  sein  würde." 

In  der  That  liegt  diesem  Verhalten  ein  allgemeineres 
Gesetz  zu  Grunde,    wie    wir   gleich    noch    weiter    sehen 


—     286     — 

werden  —  nur  kommt  für  dasselbe  nicht  die  Ringnatur 
der  Säuren,  sondern  allein  die  Stellung  der  doppelten 
Bindung  in  Betracht.  Von  den  betreffenden  Messungen 
an  den  hydrierten  Phtalsäuren  seien  hier  nur  die  zwei 
wichtigsten  angeführt  : 

CH 

/       \ 

CI  II'       C-COOH 

A2'6-Dihydrophtalsäure         i  K  =  0,0172 

CH-2      C-COOH 

\      // 
CB 

CH 
\ 
CH        CH-COOH 
trans-A3'5-Diuydrophtalsäure        i  I  K  =  0,0246 

J        x  CH       CH-COOH 

/ 
CH 

wozu  v.  Baeyer  bemerkt:  „Bei  den  Dihydrosäuren  sollte 
A2'6  am  stärksten  sein,  sie  wird  aber  von  A3'5  über- 
troffen" 7G).  Also  auch  hier  ein  augenfälliges  Beispiel 
dafür,  dass  die  /Jy-Säuren  grössere  Dissociationscoeffi- 
cienten  aufweisen  als  die  a/J-Säuren. 

Fernere  Beobachtungen  solcher  Art  machte  Ossian 
Aschan1')  an  den  Tetrahydrobenzoesäuren: 

a  1  m  x     !      t     i  ••  ••  nu       CH-'-CH  flüssige  K     0,00214 

A  -Tetrahydrobenzoesaure  CH2<  ^C-COOH 

GHa-GHs/  feste       K     0,00221 

CH=CH 
A2-Tetrahydrobenzoe'säure  CH2<  >CH-COOH  k     o,O0305 

CH2-CH2 

Er    schreibt    darüber:    „Wie    die  Dihydronaphtoë- 
säuren   zeigen   also    auch   die    entsprechenden    Derivate 


'<■)  Ann.  d.  Chem.  269,  163. 

77)  Ann.  d.  Chem.  271,  237  und  '271. 


287     — 

der  Benzoesäure,  dass  die  Leitfähigkeit  im  Gegensatz  zu 
den  Beobachtungen  Oslwald's  in  derEettreihe  mit  der  Ent- 
fernung der  doppelten  Bindung  von  Carboxyl  zunimmt." 

Es  ist  also  durch  die  Untersuchung  der  normalen 
ungesättigten  Fettsäuren  sowohl  als  durch  ältere  Beob- 
achtungen andrer  Autoren  an  ringförmig  gebauten  partiell 
hydrierten  Benzoesäuren,  Phtalsäuren  und  Naphtoë- 
säuren,  übereinstimmend  die  Thatsache  konstatiert 
worden,  dass  die  ^-ungesättigten  Säuren  höhere  Disso- 
ciationscoefticienten  besitzen  als  die  aß-unge  sättigten 
Säuren. 

Man  wird  versucht  sein,  den  Grund  hiefür  zuerst 
bei  den  /^/-ungesättigten  Säuren  zu  suchen. 

Vielleicht  bieten  räumliche  Verhältnisse  eine  Hand- 
habe. Wenn  man  aus  den  bekannten  tetraëdrischen 
Kohlenstoffmodellen,  deren  Axen  die  Valenzrichtungen 
des  Kohlenstoffs  repräsentieren  sollen,  eine  Kette  von 
4  oder  5  Atomen  aufbaut,  in  der  Art,  dass  die  Centren 
aller  Tetraeder  in  einer  Ebene  liegen  und  dass  die 
Atommodelle  immer  auf  der  gleichen  Seite  aneinander 
gesetzt  werden,  so  erhält  man  eine  bogen-  oder  sichel- 
förmige Anordnung,  in  welcher  das  vierte  —  nach  der 
bei  den  Säuren  üblichen  Bezeichnung  das  y-Kohlenstoff- 
atom  (da  das  erste  als  Carboxylkohlenstoff  nicht  gezählt 
wird)  —  und  das  fünfte,  das  d-Kohlenstoffatom,  ziemlich 
nahe  an  das  erste,  das  Carboxylkohlenstoffatom,  heran- 
gerückt ist.  Diese  relative  Annäherung  von  y-  und 
(^-Stellung  an  die  Carboxylgruppe  hat  z.  B.  J.  Wisli- 
cenus 7S)  herangezogen,  um  das  Zustandekommen  der 
Ringschlüsse  bei  den  y-Lactonen  und  <3-Lactonen  in 
eleganter  Weise  zu  erklären. 


78)    Über    räumliche    Anordnung    der   Atome    in     organischen. 
Molekeln,  1887. 


—     288     — 

In  unserm  Fall  würde  der  Einfluss  der  räumlichen 
Annäherung  so  zu  deuten  sein,  dass  die  in  ^-befind- 
liche doppelte  Bindung  durch  die  Nähe  des  /Î-Kohlen- 
stoffatoms  eine  relativ  starke  Wirkung  auf  die  Carbo- 
xylgruppe  ausübt;  aber  diese  Erklärung  hält  nicht 
stand,  erstens,  weil  das  a-Kohlenstoffatom  immer  noch 
näher  an  der  Carboxylgruppe  steht  als  das  geeignet 
herumgebogene  y-Kohlenstoffatom,  und  zweitens,  weil 
das  d-Kohlenstoffatom  der  Carboxylgruppe  noch  näher 
kommt  als  das  y-Atom,  und  demgemäss  die  y<5-Säuren 
den  höchsten  Dissociationscoefficienten  haben  müssten,  - 
was  eben  nicht  der  Fall  ist. 

Nicht  die  /^-ungesättigten  Säuren  also  nehmen  eine 
Ausnahmsstellung  ein;  nicht  sie  sind  stärker  dissociiert 
als  man  erwarten  sollte  ;  sondern  im  Gegenteil  zeigen 
die  ßy-,  die  yd-  und  die  dg-ungesättigten  Säuren  das 
normale  Verhalten.  Die  «/J-Säuren  aher  sind  viel  weniger 
dissociiert,  als  dies  von  einer  ungesättigten  Säure  mit 
einer  als  negativer  Substituent  wirkenden  Doppelbindung 
in  unmittelbarer  Verbindung  mit  der  Carboxylgruppe 
vorauszusetzen  war. 

4.  Die  «^-Stellung  bedingt    einen    auffallend    schwachen 

Einfluss  der  Doppelbindung  auf  die  Dissociationsconstante 

der  ungesättigten  Säure. 

In  einzelnen  Fällen  beeinflusst  die  a/J-Doppelbindung 
den  Dissociationscoefficienten  einer  Säure  sogar  negativ, 
derart,  dass  die  ungesättigte  Säure  einen  niedrigeren 
Coefficiente.n  aufweist  als  die  entsprechende  gesättigte 
Säure.     In  der  folgenden  Zusammenstellung: 

Propionsäure         0,0013  Acrylsäure  0,0<».V> 

Buttersäure  0,00154  Crotonsäure  0,0020  Vinylessigsäure  0,0038 

N-Valeriansäure  0,00161  a/?-Pentensäure  0,00148  /?j'-Peutensäure  0,00335 

Kapronsäure         0,00140  a/3-Hexensäure    0,00189  /?j/-Hexensäure  0,0021)4 


—     289     — 

tritt  diese  merkwürdige  Erscheinung  bei  der  or/J-Penten- 
säure  auf;  die  andern  Reihen  -  -  ausser  Propionsäure- 
Acrylsäure  —  zeigen  nur  unbedeutende  Zunahme  des 
Coefficienten  bei  Eintritt  der  cn/?-Doppelbindung  gegen- 
über dem  grossen  Sprung  zwischen  der  gesättigten  und 
der  ßy-xmge sättigten  Säure.  Man  erhält  geradezu  den 
Eindruck,  dass  die  a/?-Doppelbindung  die  Beweglichkeit 
des  AVasserstoffatoms  der  Carboxylgruppe  herabsetzt. 

Eine  derartige  Wirkung  lässt  sich  nun  auch  in  der 
That  verstehen,  wenn  man  die  Thiele'sche  Theorie  der 
Doppelbindung  7<J)  zu  Hilfe  nimmt.  Nach  Thietëa  An- 
nahme verbraucht  eine  Doppelbindung  nicht  die  ganze 
Energie  der  doppelt  gebundenen  Atome,  sondern  lässt 
noch  einen  Energierest,  die  sogenannten  Partialvalenzen 
übrig.  An  Stelle  der  früheren  Schreibweise  der  Doppel- 
bindung : 

0:       C 

tritt  die  neue 

C  =  C 

worin  die  punktierten  Striche  die  Partialvalenzen  aus- 
drücken sollen.  Eine  derartige  Anschauung  ist  sehr 
geeignet,  die  ungesättigte  Natur  der  Doppelbindung  zu 
erklären;  den  Angriffspunkt  für  die  addierten  Atome 
und  Atomgruppen  bilden  eben  die  Partialvalenzen. 

In  einem  System  aus  zwei  hintereinander  liegenden 

Doppelbindungen 

C  =  0  -  0  =  c 

vereinigen  die  mittleren  Atome  ihre  Partialvalenzen    zu 
einer   neuen,  inaktiven  Doppelbindung: 
C  =  C^C    C 

so  bezeichnet,  weil  sie  keine  Partialvalenzen  mehr  ent- 
hält.    Aus  dem  ursprünglichen  System  mit    zwei   unab- 

™)  Ann.  d.  Chem.  306,  87  ff. 

L9 


290     — 

hängigen  Doppelbindungen  und  vier  freien  Partialva- 
lenzen  wird  also  ein  neues,  in  welcbem  die  Doppel- 
bindungen in  Beziebung  zu  einander  getreten  sind,  zu 
konjugierten  Doppelbindungen,  und  das  nur  mehr  zwei 
freie  Partialvalenzen  enthält.  Derartige  Umwandlungen 
erklären  sich  leicht  durch  das  allgemeine  Bestreben  der 
Molekeln,  in  möglichst  gesättigte  Verbindungen  über- 
zugehen. 

Die  konjugierten  Doppelbindungen  vermögen  nur 
noch  zwei  Atome  und  zwar  an  den  Enden  des  Systems 
anzulagern.  Dabei  werden  die  äusseren  Doppelbindungen 
zu  einfachen  und  die  mittlere  inaktive  zu  einer  aktiven 
mit  zwei  Partialvalenzen.  Derartige  Vorgänge  sind  zur 
Genüge  bekannt  durch  das  Verhalten  zweifach  unge- 
sättigter Säuren  bei  der  Reduktion,  wovon  schon  im 
ersten  Kapitel,  Abschnitt  1,  die  Rede  war. 

Doppelbindungen  existieren  nicht  nur  zwischen  Koh- 
lenstoffatomen allein,  sondern  z.  B.  auch  zwischen  Kohlen- 
stoff- und  Sauerstoffatomen.  Eine  «^-ungesättigte  Säure 
-CH  =  CH-0  (OH)  =  0 

enthält    ein    System   von   Doppelbindungen,    das    sicher 
auch  zu  einem  konjugierten  wird80): 
-CH.  CH^C(OH)  =  0 


80)  Man  kann  diese  Annahme  benutzen  zu  einer  plausibelu  Er- 
klärung der  Thatsache,  dass  die  a/3-ungesättigten  Säuren  sich  im 
Gegensatz  zu  den  /Jy-ungesättigten  Säuren  durch  Natriumamalgam 
direkt  reduzieren  lassen.  In  dem  konjugierten  System  der  «^-un- 
gesättigten Säuren  wird  Wasserstoff  an  den  Enden  addiert  und  das 
Produkt  lagert  sich  sofort  um: 

-CH  =  CH  ^  C(OH> 0  +  m   -     -CHj-CH  =  C (OH)-OH    ^ 

y     -CH2-CH2-C(OH)    0 
zu  einer  gesättigten  Säure. 


291 


Aus  diesen  wenigen  Grundsätzen  lässt  sich  mög- 
licherweise ohne  weiteres  eine  Erklärung  ableiten  für 
die  niedrigen  Dissociationscoefhcienten  der  «^-ungesät- 
tigten Säuren.  Nach  Thiele  ist  eine  «/j-ungesättigte 
Säure  ein  gesättigteres  Gebilde  als  eine  /^-ungesättigte 
Säure 

C-C  =  0  ^  C  =  0       gesättigter  als       C    C-C-C  =  O 

und  wir  können  erweiternd  hinzufügen:  auch  gesättigter 
als  eine  yd-  oder  de-Säure. 

Ist  es  dann  nicht  geradezu  selbstverständlich,  dass 
das  gesättigtere  Gebilde  auch  weniger  Neigung  besitzt,  sein 
Wasserstoff- Kation  abzuspalten   als   das  ungesättigtere? 

Gewisse  Anschauungen,  die  Vorländer 81)  in  einer 
Abhandlung  über  die  Konstitutionsformeln  der  Säuren 
entwickelte,  führen  zu  demselben  Schluss:  nach  Vor- 
länder enthalten  alle  Säuren  eine  Kombination  von  vier 
Elementen  : 

12        3         4 

H.    E.    E:    E. 

wobei  die  Elemente  3  und  4  die  „reaktive  Gruppe" 
bilden.  Die  Beweglichkeit  des  Wasserstoffatoms  1  hängt 
zunächst  ab  von  dem  Nichtmetall  2  (im  Falle  der  Car- 
boxylgruppe  ist  dies  ein  Sauerstoffatom),  mit  welchem 
der  Wasserstoff  in  direkter  Verbindung  steht.  Dann 
wird  die  Beweglichkeit  von  den  Nichtmetallen  3  und  4 
(bei  der  Carboxylgruppe  C  und  0)  beinflusst,  besonders 
von  dem  ungesättigten  Zustand  derselben. 

Der  ungesättigte  Zustand  —  so  lässt  sich  im 
Hinblick  auf  die  vorliegende  Frage  weiter  argumentieren 
—  der  Elemente  3  und  4  ist  nun  bei  den  gesättigten 
Säuren  oder  bei  den  ßy-,  yd-  etc.  ungesättigten  Säuren 
mit  den  Thiele 'sehen  Formeln 


*l)  Ber.  d.  d.  ehem.  Ges.  34,  K333. 


—     292     — 
-C-C-C-C  (OH)  =  0  -C  =  C-C-C  (OH)  -  0 

gewiss  stärker    ausgeprägt    als    in    den    a/J-ungesättigten 

Säuren  : 

-C  =  C  ^  C  (OH)  =  0 

wo  eine  der  beiden  Partialvalenzen  der  Oarbonylgruppe 
durch  Konjugierung  mit  der  benachbarten  Doppelbindung 
abgesättigt  ist  —  und  so  muss  also  nach  Vorländer  die 
Beweglichkeit  des  Wasserstoffatoms  in  einer  aß-unge- 
sättigten  Säure  geringer  sein  als  in  einer  /^/-ungesättigten, 
was  mit  unsern  Beobachtungen  vollkommen  überein- 
stimmt. 

Thiele  suchte  die  gesättigtere  Natur  einer  a/?-Säure 
gegenüber  der  /?/-Säure  auch  nachzuweisen  durch  den 
geringeren  Energieinhalt  der  ersteren,  gemessen  durch 
die  Verbrennungswärme.  „Nach  den  oben  entwickelten 
Anschauungen  sollte  eine  a/9-ungesättigte  Säure  eine 
geringere  Verbrennungswärme  haben  als  eine  ^/-unge- 
sättigte. Es  liegt  dafür  eine  Litteraturangabe  vor: 
_V-Dihydromuconsäure  (aß)  hat  die  Verbrennungswärme 
629,1  Cal.,  A"  (ßy)  bat  629,4  Cal.  (Stohmami):  Die 
Differenz  liegt  zwar  in  dem  richtigen  Sinne,  ist  aber 
allerdings  geringer  als  man  erwarten  sollte"  8"2). 

Leider  sind  derartige  Messungen  an  einbasischen 
ungesättigten  Säuren  noch  nicht  ausgeführt  worden. 
Aber  eine  aus  ganz  andern  Gründen  begonnene  Unter- 
suchung weist  uns  auf  Analogieen  hin,  die  wir  vielleicht 
hier  zum  Beweis  heranziehen  dürfen. 

Nachdem  die  Vinylessigsäure  dargestellt  und  damit 
alle  drei  der  Theorie  nach  möglichen  isomeren  Buten- 
säuren mit  gerader  Kette  bekannt  waren,  sollte  versucht 
werden,  zu  der  längst  bekannten  Phenyl-/J/-butens;tun 


2)  Thiele,  Aun.  d.  Chem.  306,  103. 


—     293     — 

Phenylisocrotonsäure  auch  das  entsprechende  Stereoiso- 
merenpaar  der  Phenyl-a/?-butensäuren  zu  gewinnen.  Eine 
Phenyl-a/?-butensäure  hat  Fittig 83)  durch  ümlagerung 
der  Phenyl-/?j/-butensäure  mit  Natronlauge,  aber  in  auf- 
lallend geringer  Ausbeute  erhalten.  Um  die  Phenyl- 
or/J-butensäure  bequemer  darzustellen,  wurde  Phenyl- 
acetaldehyd  mit  Malonsäure  kondensiert  bei  Gegenwart 
von  Pyridin  oder  von  Essigsäureanhydrid  :  aber  statt 
der  nach  der  Reaktion  : 

Gem  CH2-CHO  -!■  ('H-<^|||||      CO2  +  H2O    !    (VU.-.  CH2  CH:  CH-COOH 

zu  erwartenden  Phenyl-«/9-butensäure  resultierte  fast 
ausschliesslich  Phenyl-/?y-butensäure  oder  Phenyliso- 
crotonsäure Si).  Zweifellos  ist  zuerst  Phenyl-a/?-buten- 
säure  gebildet  worden;  sie  ist  aber  so  unbeständig,  dass 
sie  unter  den  Bedingungen  der  Reaktion  ohne  weiteres 
in  Phenyl-/?y-butensäure  übergeht. 

Vergleicht  man  die  Beständigkeit  der  Butensäuren 
und  der  Phenylbutensäuren  miteinander  : 

Vinylessigsäure,  labil.  (feste)  Crotonsäure,  stabil. 

CH2    CH-CH2-COOH  CHt-CH     CH-COOH 

Phenylvinylessigsäure,  stabil.  Phenyl-aß- crotonsäure,  labil. 

CgHs-CH    CH-CH2-CO(  )H  C6H5-CH2-CH     CH-COOH 

so  fällt  die  direkte  Umkehrung  der  Stabilitätsverhält- 
nisse ohne  weiteres  in  die  Augen  8'J).  In  den  Phenyl- 
butensäuren spielt  die  Phenylgruppe  sozusagen  dieselbe 
Rolle,  wie  in  den  Butensäuren  die  Carboxylgruppe;  in 
den    fetten    Säuren    zieht    die    Carboxylgruppe,    in    den 

SH)   A.  Liriö,  Ann.  d.  Chem.  283,  297. 

84)  Herr  E.  Alber  führt  diese  Versuche  aus. 

85)  Interessante  Aufschlüsse  sind  in  dieser  Beziehung  auch  von 
der  von  Herrn    W.  Latzko  dargestellten   /?y-Diphenylvinylessigsäure 

«V,U,  CE      C(CeH5)-CH2-COOH     zu  erwarten. 


—     294     — 

aromatischen  die  Phenylgruppe  die  Doppelbindung  zu 
sich  heran  86).  Man  kann  auf  Grund  obiger  Beobach- 
tungen direkt  das  Phenyl  in  Parallele  setzen  zum  Car- 
boxyl,  und  miteinander  vergleichen 

Vinylesssigsäure  (labil)      und     /fy-Propenylbenzol  (labil) 
CHl>  =  CH-CH2-OOOH  CH2  =  CH-CHa-CeHs 

Crotonsäure  (stabil)     und    «,9-Propenylbenzol  (stabil) 
CH3-CH  =  CH-COOH  CHs-OH  =  CH-CcHn 

Die   Analogieen   beider  Verbindungsreihen    werden 
durch  beliebig  herausgegriffene  Beispiele  belegt. 

OCH3 
/ 

Eugenol,   CH^CHGFh-  \öR      wird  durch  alkalische  Mittel 

OCH3 

/ 

in  Isoeugenol  CH3-CH  =  CH-/         ;  OH      umgelagert87).   Eugenol  ist 

nicht  reduzierbar,  aber  Isoeugenolmethyläther 

OCH3 
/ 

CH3-CH  =  CH-  /       ^  -  OCHs 

wird  von  Natrium  und  Alkohol  zu  Dihydroeugenol- 
methyläther  00H3 

/ 

(  ,H:s-CH2-CH2-</       \  -  OCHs 

reduziert  ss). 


8G)  Auf  die  letztere  Thatsache  und  auf  ihre  Verwertung  be- 
züglich der  Auffassung  des  Benzols,  an  dessen  Kohlenstoffatomen 
wahrscheinlich  noch  ein  geringer  Rest  freier  Affinität  vorhanden 
ist,  hat  auch  schon  Thiele  hingewiesen,  Ann.  d.  Chem.  306,  126, 
Fussnote  w). 

8T)   Tiemarui,  Ber.  d.  d.  chem.  Ges.  24,  2871  ;  Einhorn,  DRP.  76982. 

ss)   Ciamician  und  Silber,  Ber.  d.  d.  ehem.  Ges.  23,   1166. 


295     — 

1  >      CHü 

/       I 

Safrol    CH2  =  ÖH-CHt-<  >_o  ist   sehr   beständig  gegen 

Reduktionsmittel89);    das  daraus  durch  Umlagerung  mit 
alkoholischem  Kali  erhaltene  Isosafrol 

,-/°7CH2 

CH3-OH  =  CH-<         ^>-0 
wird  durch  Natrium  in  alkoholischer  Lösung  zu 

0\0H« 

/      7 

Dihydrosafrol       CHa-CHs-CH*--''         >-0  reduziert89). 

Die  Umlagerung  mit  Alkali  führt  von  den  /fy-Pro- 
penylbenzolen  zu  den  a/5-Propenylbenzolen;  die  Reduktion 
mit  Natrium  tritt  nur  ein  bei  den  a/ï-Propenylbenzolen, 
nicht  bei  den  /?/-Propenylbenzolverbindungen  90). 

Demnach  sind  die  «/i-Propenylbenzole  die  gesättig- 
teren von  den  beiden  Isomeren;  das  drückt  sich  in 
schönster  Weise  in  den  Verbrennungswärmen  aus  : 

PY<  aß. 

Eugenol  1286,9  Cal.  Isoeugenol  1278,1  Cal. 

OCHs  OCHs 

/  _/ 

CH2-CH-CH2-/  >-OH  GH3-CH  =  CH-/       \oH 


89)  Ciamieian  und  Silber,  Ber.  d.  d.  ehem.  Ges.  23,  1162. 

9'J)  Hieher  gehört  auch  die  bemerkenswerte  Fähigkeit  der 
Phenylisocrotonsäure,  durch  Natriumamalgam  reduziert  zu  werden 
zur  Phenylbuttersäure,  vergl.  Jayne,  Ann.  d.  Chem.  216,  108, 
trotzdem  sie  bez.  der  Carboxylgruppe  eine  /^-ungesättigte  Säure  ist. 


296 


ßy.  aß. 

Safrol  1244,7  Cal.  Isosafrol  1234,5  Cal91) 

0      0H2  °-  CH2 

CHo  =  CH -CH2-/         Vo  OHa-CH:  (II  N-0 

\ /  \ / 

Die  a/î-Propenylverbindungen  besitzen  also  bedeutend 
niedrigere  Verbrennungswärmen  als  die  /¥j/-Propenyl- 
verbindungen  :  die  Konjugierung  der  a/?-Doppelbindung, 

die  in  den  a/j-Propenylbenzolen  zu  der  relativ  grösseren 
Sättigung  führt,  findet  vermutlich  mit  Doppelbindungen 
des  Benzolkerns  auf  Grund  der  im  Benzol  noch  vor- 
handenen Affinitätsreste  statt  92). 

Es  lassen  sich  auf  diese  Weise  Schlüsse  ziehen  von 
dem  relativ  gesättigten  Charakter  der  c^-Propenylben- 
zole  auf  denjenigen  der  a/^-ungesättigten  Säuren  —  bis 
auch  an  diesen  durch  direkte  Bestimmung  der  Ver- 
brennungswärmen die  auf  Grund  der  Dissociationscoef- 
ficienten  vermuteten  Unterschiede  im  Energieinhalt  (gegen- 
über dem  der  /^/-ungesättigten  Säuren)  bewiesen  werden 
können. 

Es  muss  nun  zum  Schluss  noch  ausdrücklich  betont 
werden,  dass  die  Grösse  der  elektrolytischen  Dissocia- 
tionscoefticienten  nicht  ohne  weiteres  als  absolutes  Mass 
für  die  Affmitätsgrösse  oder  „Stärke"  der  Säuren  ange- 
sehen werden  darf.  Die  Zahlen,  die  für  die  Stärke  der 
Säuren  auf  dynamischem  Wege,  .  durch  Messung  von 
Reaktionsü-eschwindisrkeiten,   erhalten  werden,    verlaufen 


,J1)  Stohmann,    Ber.  d.  d.  ehem.    <i<'s.   25,    Ref.    897;    daselbst 
noch  zahlreiche  andere   Beispiele. 
'■'-)  Vergi.  FussnoteM;). 


297     — 

nicht  unbedingt  parallel  mit  der  Reihe  der  Dissociations- 
coefficienten,  und  es  müssen  deshalb  nun  vor  allem  ver- 
gleichende Messungen  mit  ungesättigten  Säuren  an  der 
Katalyse  von  Methylacetat,  oder  an  der  Inversion  von 
Rohrzuckerlösung  angestellt  werden.  Was  in  der  vor- 
stehenden Abhandlung  dargelegt  und  diskutiert  ist,  be- 
trifft nur  die  Beziehungen  zwischen  der  elektrolytischen 
Dissociation  ungesättigter  Säuren  und  der  Stellung  der 
Doppelbindung  in  der  Molekel. 

Wir  haben  bisher  nur  eine  Beobachtung  chemisch- 
dynamischer Natur  über  die  „Stärke"  a/i-ungesättigter 
Säuren  gemacht.  Im  Ö.  Abschnitt  des  ersten  Kapitels 
ist  gezeigt  worden,  dass  Crotonsäure  keine  Anhydrobase 
bildet,  oder  dass  Crotonyltoluylendiamin  den  Imidazol- 
ring  nicht  schliesst.  Vermutlich  kommt  ein  derartiger 
Ringschluss  in  zwei  Phasen  zu  Stande  :  zuerst  addiert 
die  Carbonylgruppe  NH  und  H  unter  Bildung  eines 
„Ortbosäurederivates"  das  dann  wieder  Wasser  abspaltet 
unter  Schliessung  des  Ringes,  nach 

/NHH  NH     OH  X 

CO-R  ^    !  C-R     >-  O-B 

\/XH  X/^NH^  MI 

Die  Crotonsäure  kann  diese  Reaktion  nicht  geben, 
offenbar  weil  das  Carbonyl  ihrer  Carboxylgruppe  nicht 
mehr  addieren  kann  :  denn  es  besitzt  nur  noch  eine 
Partialvalenz 


XH        ,0 
XII 


C_('I1     CÏÏ-CH3 


anstatt    zweier,    wie    dasjenige    einer    gesättigten     Fett- 
säure. 


—     298 

Ist  diese  Anschauung  richtig,  so  müssten  alle  ge- 
sättigten Fettsäuren,  sowie  alle  ßy-,  yô-  etc.  ungesättigten 
Fettsäuren  Imidazole  geben  —  nur  gerade  die  «^-unge- 
sättigten Säuren  dürften  dies  nicht  thun.  Es  muss 
deshalb  in  dieser  Richtung  vor  allem  weiteres  Material 
gesammelt  werden. 

BASEL,  im  Oktober  1902. 


Die  Bedeutung  der  Farbstoffe  im  Haushalte 
der  Natur. 

Eine  farbenchemisch  biologische  Studie. 

Von 

Rudolf  Nietzkl. 


Bei  einem  Blick  in  unsere  Umgebung  sehen  wir, 
dass  die  meisten  Gegenstände  eine  mehr  oder  weniger 
ausgesprochene  Färbung  zeigen,  forschen  wir  aber  nach 
der  Ursache  dieser  Färbung,  so  werden  wir  finden,  dass 
dieselbe  durch  die  Beimengung  verhültnissmässig  geringer 
Mengen  gefärbter  Stoffe  veranlasst  wird,  welche  wir  als 
Farbstoffe  im  weiteren  Sinne  bezeichnen.  Wenn  wir  von 
der  sehr  geringen  Färbung  absehen,  welche  auch  die 
sogenannten  farblosen  Körper,  wie  Wasser  und  Luft, 
in  dicken  Schichten  zeigen,  so  kommen  wir  zu  der 
Überzeugung,  dass  die  Hauptmasse  der  Körper  farblos 
ist.  So  verdanken  die  meisten  Mineralien  ihre  Färbung 
einer  Beimengung  von  Eisen,  Mangan  und  anderen 
Schwermetallen  sowie  von  organischen  Substanzen. 

Noch  auffallender  aber  ist  diese  Erscheinung  in  der 
organischen  Welt.  Die  Materialien,  aus  denen  die  ein- 
fachsten Zellen  und  Gefässe  der  Pflanzen  und  Tiere 
aufgebaut  sind,  die  Zellulose,  die  Eiweisstoffe,  etc.  sind 
ungefärbt,  und  deshalb  finden  wir  bei  den  niedrigen  Or- 
ganismen die  Färbung  nur  ausnahmsweise,  bei  den 
höheren  aber  wird  sie  zur  Regel  und  ist  dort  durch  das 
Vorhandensein  ganz  charakteristischer  Farbstoffe  bedingt. 
Es  kommen  hier  namentlich  zwei   solcher  Farbstoffe    in 


300      — 

Betracht:  der  Blutfarbstoff,  der  in  allen  warmblütigen 
Tieren,  und  das  Chlorophyll,  welches  in  allen  höheren 
Pflanzen  eine  wichtige  Rolle  spielt. 

Beide  gehören  den  organischen  Farbstoffen  an,  sie 
bestehen  aus  Kohlenstoff,  Wasserstoff,  Sauerstoff  und 
Stickstoff,  denen  sich  in  beiden  Fällen  noch  das  Eisen 
hinzugesellt. 

Wenn  auch  in  den  letzten  25  Jahren  die  For- 
schungen in  der  organischen  Chemie  die  Konstitution 
der  künstlichen  Farbstoffe  und  eines  grossen  Teils  der 
natürlichen,  aufgeklärt  haben,  so  müssen  wir  doch  ein- 
gestehen, dass  unsere  Kenntnisse  über  diese  beiden  wich- 
tigsten Farbstoffe  fast  auf  dem  Nullpunkt  stehen.  Die 
wichtigsten  sind  sie  jedenfalls,  denn  der  Blutfarbstoff 
unterhält  den  Atmungsprozess  der  Tiere,  das  Chloro- 
phyll vermittelt  die  Kohlenstoffassimilation  in  der  Pflanze, 
ohne  die  Beiden  ist  daher  ein  höheres  Tier-  und  Pflan- 
zenleben undenkbar. 

Es  drängt  sich  uns  nun  die  Frage  auf:  Waruni  sind 
diese  Körper  Farbstoffe?  Ist  die  Färbung  hier  eine 
ganz  zufällige  Beigabe,  oder  steht  sie  in  einem  gewissen 
Zusammenhang  mit  der  Eigenschaft  der  Substanzen  und 
ihren  Funktionen?  Die  Erfahrung  scheint  diese  Frage 
im  letzteren  Sinne  zu  beantworten. 

Das  Chlorophyll  wird  in  verschiedenen  Algen, 
Diatomeen  und  Flagellaten  durch  andere  Farbstoffe 
ersetzt,  und  trotzdem  findet  Kohlenstoffassimilation  statt. 
Farbstoffe  aber  müssen  es  sein,  darüber  scheinen  die  Bo- 
taniker einig  zu  sein,  ja,  sie  ziehen  sogar  aus  der  Ge- 
genwart von  Farbstoffen  den  Schluss  auf  das  Vorhan- 
densein von  Assimilation.  Erklärungen  für  diese  That- 
sache  sind  von  botanischer  Seite  versucht  worden.  Man 
betrachtet  die  Wirkung  der  Farbstoffe  als  eine  rein  phy- 
sikalische und    nimmt  an,  dass    sie    gewissermassen   als 


—     301 

Lichtfilter  wirken  und  nur  diejenige  Lichtgattung  absor- 
bieren, welche  gerade  für  den  Assimilationsprozess  am 
wirksamsten  ist.  Ich  muss  sagen,  dass  mich  diese  Erklä- 
rung niemals  befriedigt  hat,  und  dass  ich  mich  deshalb 
bemühte  eine  Erklärung  zu  suchen,  welche  die  chemischen 
Eigenschaften  der  Farbstoffe  in  Rechnung  zieht  und 
ihnen  eine  chemische  Rolle  in  diesem  Prozess    anweist. 

Zum  Verständnis  des  nachfolgenden  wird  es  nötig 
sein,  dass  wir  auf  die  chemischen  Eigenschaften  der  grossen 
Körpergruppe,  die  wir  als  organische  Farbstoffe  betrach- 
ten, etwas  näher  eingehen.  Dass  die  Färbung  keine 
zufällige  Eigenschaft  organischer  Kohlenstoffverbindungen 
ist,  sondern  mit  der  chemischen  Konstitution  im  engen 
Zusammenhang  steht,  ist  schon  lange  erkannt  worden, 
und  zwar  war  es  eine  allen  Farbstoffen  gemeinsame 
Reaktion,  welche  zuerst  zu  der  i^nsicht  führte. 

Alle  Farbstoffe  gehen  durch  nascenten  Wasserstoff, 
also  durch  Behandlung  mit  Reduktionsmitteln  bei  Ge- 
genwart von  "Wasser,  in  farblose  Substanzen  über,  aus 
denen  sie  durch  Oxydation,  also  durch  Entziehung  von 
Wasserstoff,  wieder  hergestellt  werden  können. 

Als  klassisches  Beispiel  kann  hier  die  schon  seit 
Jahrhunderten  bekannte  Indigoküpe  angeführt  werden. 
Das  Indigoblau,  ein  aus  Kohlenstoff,  Stickstoff,  Sauer- 
stoff und  Wasserstoff  bestehender  Farbstoff  ist  in  den 
meisten  indifferenten  Lösungsmitteln  unlöslich.  Setzt 
man  es  jedoch  in  irgend  einer  Weise  der  Wirkung  des 
nascierenden  Wasserstoffs  aus.  indem  man  es  mit  re- 
duzierenden Mitteln,  wie  Zucker,  arseniger  Säure,  Eisen- 
oxydul, Zinkstaub  etc.  bei  Gegenwart  von  Alkalien  behan- 
delt, so  geht  es  in  eine  farblose  alkalilösliche  Substanz 
über,  „das  Indigweiss,"  welches  sich,  der  Luft  ausge- 
setzt, leicht  wieder  in  unlösliches  Indigoblau  verwandelt. 
Unter  dem  Namen    Indigoküpe  ist  die  Indigweisslösung 


802 


ein  uraltes  und  noch  heute  wichtiges  Färbemittel,  denn 
auf  'der  damit  getränkten  Zeugfaser  schlägt  sich  durch 
oxydierenden  Einfluss  der  Luft  unlösliches  Indigoblau 
nieder,  und  diese  wird  gleichmässig  und  echt  blau  gefärbt. 

Die  chemische  Untersuchung  hat  gelehrt,  dass  In- 
digweiss  sich  von  Indigblau  nur  durch  den  Mehrgehalt 
zweier  Wasserstoffatome  unterscheidet,  welche  ihm  bei 
der  Oxydation  wieder  entzogen  werden. 

Bei  seinen  klassischen  Untersuchungen  der  ersten 
künstlichen  Farbstoffe  fand  A.  W.  Hofmann,  dass  alle 
Farbstoffe  der  Rosanilinreihe  sich  dem  Indigo  durchaus 
analog  verhalten.  Mit  dem  Namen  „Leukanilin",  welchen 
Hofmann  der  aus  Rosanilin  dargestellten  farblosen  Sub- 
stanz gab,  führte  er  den  Namen  Leukokörper  oder  Leu- 
koverbindungen  in  die  organische  Chemie  ein. 

Heutzutage  betrachtet  man  es  als  ganz  selbstverständ- 
lich, dass  zu  jedem  Farbstoff  der  entsprechende  Leuko- 
körper gehört,  und  wenn  es  nicht  gelingt  denselben  darzu- 
stellen, suchen  wir  die  Ursache  nur  in  unseren  ungenügen- 
den experimentellen  Mitteln.  Grabe  und  Liebermann 
haben  zuerst  den  Satz  aufgestellt,  dass  die  Reduktions- 
fähigkeit eine  integrierende  Eigenschaft  aller  organischen 
Farbstoffe  sei.  Zum  ersten  Mal  wiesen  sie  auf  die  Analogie 
mit  dem  lange  bekannten  Chinon  hin,  welches,  lebhaft  gelb 
gefärbt,  durch  Reduktion  unter  Aufnahme  von  2  Wasser- 
stoffatomen in  das  farblose  Hydrochinon  übergeht. 

Grabe  und  Liebermann  waren  daraufhin  geneigt 
im  Chinon  den  Prototyp  sämmtlicher  Farbstoffe  zu  er- 
blicken. Später  trat  0.  N.  Witt  mit  seiner  ausführ- 
lichen Farbstofftheorie  an  die  Öffentlichkeit,  und  wies 
darauf  hin,  dass  in  allen  Farbstoffen  bestimmte  Atom- 
gruppen vorhanden  seien,  die  er  als  Chromophore  be- 
zeichnet, und  deren  Wirkung  durch  andre  Radikale, 
die  Auxoehrome,    gesteigert    würde.     Bei    der    weiteren 


303 


Durchführung'  dieser  Theorie  hat  sich  gezeigt,  dass  aller- 
dings ein  grosser  Teil  der  Chromophore  (wenn  auch 
nicht  alle)  anolog  der  Chinongruppe  konstituiert  ist,  dass 
aber  alle  als  ungesättigte  Radikale  anzusehen  sind.  Sie 
haben  alle  das  Bestreben  sich  durch  Addition  von  Was- 
serstoff zu  sättigen.  Durch  diese  Sättigung  aber  wird 
die  Färbung  aufgehoben,  und  der  Farbstoff  geht  in  den 
Leukokörper  über. 

Nicht  alle  Leukokörper  sind  so  leicht  oxydierbar,  dass 
sie  schon  durch  den  Luftsauerstoff  in  Farbstoffe  verwandelt 
werden,  es  müssen  vielmehr  zur  Erreichung  dieses  Zweckes 
Oxydationsmittel  angewandt  werden  ;  andre  dagegen  oxy- 
dieren sich  so  leicht,  dass  die  Leukoverbindungen  über- 
haupt nicht  fassbar  sind.  Andrerseits  sind  unsere  Farb- 
stoffe ausserordentlich  widerstandsfähig  gegen  Reduktions- 
mittel, während  viele  andre  durch  die  Reduktion  völlig 
zersetzt  werden.  Leukokörper  können  gleichzeitig  noch 
Farbstoffe  sein,  wenn  ursprünglich  mehrere  Chromophore 
vorhanden    und    nur    ein    Teil   davon  reduziert  war. 

Aus  dem  hier  gesagten  aber  geht  hervor,  dass  Farb- 
stoffe als  Oxydationsmittel,  und  da  sie  immer  wieder  re- 
generiert werden,  als  Sauerstoffüberträger  dienen  können. 
In  umgekehrter  Weise  aber  fungieren  die  Leukokörper 
als   Wasserstoffüberträger. 

Die  sauerstoffübertragende  Wirkung  lässt  sich 
leicht  durch  einen  Versuch  zeigen,  der  zuerst,  in  etwas 
andrer  Form,  von  A.  W.  Hofmann1)  angestellt  wurde. 
Bringt  man  in  eine  Kochflasche  eine  nicht  zu  konzen- 
trierte Lösung  von  Safranin  in  verdünntem  Alkohol,  fügt 
einige  Tropfen  Ammoniak  und  etwas  Zinkstaub  hinzu,  so 
wird  nach  einigem  Erwärmen  und  Schütteln  die  intensiv 
rote  Lösung  entfärbt  und  bleibt  farblos,  wenn  die  Flasche 

!)  Hofmann  bediente  sich  statt  des  hier  verwandten  Sat'ranins, 
des  Naphtaünrots,  eines  dem  ersteren  in  seiner  Konstitution  ver- 
wandten Farbstoffes. 


-      304     — 

nach  dem  Austreiben  der  Luft  mit  einem  gut  schliesseuden 
Stöpsel  verschlossen  wird.  Ein  blosses  Lüften  des  Stop- 
fens und  Einlassen  von  Luft  bewirkt  momentane  Rotfär- 
bung, erneutes  Schliessen  und  Schütteln  aber  Entfärbung. 

Man  kann  nun  diese  Oxydation  und  Reduktion  so 
lange  wiederholen,  bis  alles  vorhandene  Zink  zu  Zink- 
oxyd oxydiert  ist  Da  Zinkstaub  durch  verdünntes  Am- 
moniak nicht  angegriffen  wird,  so  ist  die  Oxydation  durch 
die  übertragende  Wirkung  des  Farbstoffes  bewirkt  wor- 
den. Letzterer  hat  das  Wasser  zersetzt,  sich  des  Was- 
serstoffs bemächtigt  und  den  Sauerstoff  für  das  Zink 
disponibel  gemacht.  Bei  der  Oxydation  des  Leukokörpers 
aber  hat  dieser  seinen  Wasserstoff  an  den  Luftsauerstoff 
abgegeben,  ersterem  kommt  hier  also  die  Rolle  eines 
Wasserstoffüberträgers  zu. 

Im  Grunde  aber  hat  das  beschriebene  Experiment 
eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit  dem  tierischen  Atmungs- 
prozess.  Es  unterliegt  wohl  kaum  einem  Zweifel,  das:-. 
das  Venenblut  zum  Arterienblut  in  derselben  Beziehung 
steht,  wie  der  Leukokörper  zum  Farbstoffe. 

Die  blaue  Farbe  des  Venenblutes  kann  vom  Vor- 
handensein eines  zweiten  Chromophors  oder  von  einem 
beigemengten  nicht  reduzierbaren  Farbstoff  herrühren. 
Wir  haben  in  den  Lungen  die  Oxydation  des  Leuko- 
körpers zum  Farbstoff,  des  Venenblutes  zum  Arterien- 
blut, die  Rolle  des  Zinkstaubes  aber  spielen  alle  koh- 
lenstoffhaltigen Substanzen,  welche  vom  Arterienblut  oxy- 
diert und  schliesslich  zu  Kohlensäure  verbrannt  werden. 
Beiläufig  unterscheidet  sich  diese  Auffassung  fast  gar 
nicht  von  der  bisher  üblichen,  der  Chemiker  ist  so  sehr 
daran  gewöhnt  Wasserstoffabspaltung  und  Oxydation 
einerseits,  Wasserstoffaddition  und  Reduktion  anderseits 
in  eine  Kategorie  zu  stellen,  dass  er  kaum  zwischen  die- 
sen Reaktionen  unterscheidet.     So  ist   es  in  vielen  Fäl- 


—     305     — 

len  ganz  gleichgültig,  ob  wir  eine  Reaktion  mit  dem 
wasserstoffentzielienden  Chlor  oder  mit  der  sauerstoff- 
abgebenden Chromsäure  ausführen.  Mehr  Schwierig- 
keiten macht  die  Anwendung  dieser  Hypothese  zur  Er- 
klärung der  Kohlenstoff-Assimilation  in  den  Pflanzen. 

Die  Pflanze  atmet  Kohlensäure  ein  und  scheidet 
Sauerstoff  aus.  Da  der  ganze  Prozess  bei  Gegenwart 
von  Wasser  vor  sich  geht,  so  kann  er  in  verschiedener 
Weise  aufgefasst  werden.  Nach  der  meist  üblichen  An- 
sicht wird  dem  Kohlendioxyd  direkt  der  Sauerstoff  ent- 
zogen und  durch  Einwirkung  von  Wasser  auf  den  nas- 
centen  Kohlenstoff  entstehen  dann  die  sogenannten  Koh- 
lenhydrate wie  Zucker,  Stärke  etc.  Dem  Chemiker 
scheint  der  Sprung  von  der  Kohlensäure  zum  Kohlen- 
hydrat etwas  zu  gross,  als  dass  er  sich  mit  dieser  An- 
nahme befreunden  könnte,  und  es  ist  denn  auch  von 
chemischer  Seite  eine  andre  Hypothese  aufgestellt  worden. 

A.  v.  ßaeyer  spricht  die  Ansicht  aus,  dass  zunächst 
Wasser  zersetzt  wird,  und  durch  Einwirkung  des  nas- 
centen  Wasserstoffs  auf  die  Kohlensäure  Formaldehyd 
entstehe,  welcher  sich  in  der  ihm  eignen  Weise  weiter  po- 
lymerisiert  und  kondensiert.  Es  wird  dieser  Ansicht  entge- 
gengehalten, dass  Formaldehyd  eine  eiweissfällende,  daher 
für  alles  Pflanzenleben  giftige  Substanz  sei,  deren  Existenz 
im  lebenden  Organismus  problematisch  erscheinen  muss. 

Der  Kernpunkt  der  Baeyerschen  Hypothese  liegt 
aber  nicht  in  der  Formaldehydbildung,  sondern  in  der  An- 
nahme des  nascenten  Wasserstoffs  als  Reduktionsmittel 
für  die  Kohlensäure.  Auch  für  diesen  Prozess  ist  ein 
Farbstoff,    das  Chlorophyll,  das  unentbehrliche  Reagenz. 

Versuchen  wir,  uns  die  Wirkung  desselben,  mit 
Hilfe  der  bekannten  Reaktionen  der  Farbstoffe  klar 
zu  machen,  und  kehren  wir  wieder  zu  dem  Hofmannschen 
Versuch  zurück.   Bei  der  Reduktion  des  Farbstoffs  mit 

»  20 


306 


Zinkstaub  wird  ebenfalls  Wasser  zersetzt,  der  Wasser- 
stoff tritt  zu  ersterem,  während  sich  das  Zink  des  Sauer- 
stoffs bemächtigt.  Der  Farbstoff  allein  kann  das  Was- 
ser nicht  zersetzen,  denn  dieser  Prozess  erfordert  die 
Zufuhr  einer  Energiemenge,  welche  der  Verbrennungs- 
wärme  des  Wasserstoffs  gleich  ist,  und  wenn  vielleicht 
die  Reduktion  des  Farbstoffs  Wärme  erzeugt,  so  würde  diese 
doch  nicht  ausreichen,  wenn  nicht  gleichzeitig  eine  zweite 
Reaktion  daneben  herliefe,  welche  die  für  den  Prozess 
nötige  Energiemenge  erzeugt:  Die  Verbrennung  des 
Zinks  zu  Zinkoxyd. 

Eine  ähnliche  Wirkung,  wie  sie  hier  dem  Zink  zu- 
kommt, müssen  wir  im  Atmungsprozess  der  Tiere 
den  verbrennenden  Kohlenstoffverbindungen  zuschreiben, 
diese  unterhalten  aber  nicht  allein  die  chemische  Reak- 
tion, sie  liefern  auch  den  nötigen  Wärmeüberschuss 
für  den  Lebensprozess. 

Betrachten  wir  nun  die  Kohlenstoffassimilation  der 
Pflanze  von  diesem  Standpunkte  und  nehmen  an,  dass 
das  Chlorophyll  Wasser  zersetzt,  sich  mit  dem  Wasser- 
stoff zum  Leukokörper  vereinigt  und  der  Sauerstoff'  in 
Freiheit  gesetzt  wird,  so  sehen  wir,  dass  in  dieser  Re- 
aktion ein  wichtiger  Faktor  fehlt:  Die  durch  die  Ne- 
benreaktion gelieferte  Verbrennungswärme  beziehungs- 
weise Energiezufuhr.  Für  diese  muss  ein  Ersatz  vor- 
handen sein  und  ihn  schafft  das  Sonnenlicht,  ohne  wel- 
ches jede  Kohlenstoffassimilation  unmöglich  ist. 

Im  weiteren  Verlauf  des  Prozesses  können  wir  an- 
nehmen, dass  der  Leukokörper  seinen  Wasserstoff  auf 
die  Kohlensäure  übertrügt,  und  damit  sind  die  Beding- 
ungen zum  Aufbau  der  komplizierteren  Kohlenstoffver- 
bindungen gegeben,  gleichgiltig  ob  wir  den  etwas  bissigen 
Formaldehyd,  die  harmlosere  Ameisensäure,  oder  etwas 
anderes  als  erstes  Durchgangsprodukt  annehmen  wollen. 


—     807 

Jedenfalls  aber  wird  das  Chlorophyll  regeneriert  und 
der  Prozess  kann  sich  ad  infinitum  wiederholen.  Über 
die  Einwirkung  des  Sonnenlichtes  auf  organische  Kör- 
per, speziell  auf  Farbstoffe,  ist  bis  jetzt  nicht  viel  bekannt, 
und  es  hätte  seine  Bedenken,  wenn  man  aus  dem  Verhal- 
ten der  toten  Materie  einen  Schluss  auf  den  Vorgang 
in  der  lebenden  Pflanze  ziehen  wollte. 

Die  bisher  vorliegenden  Thatsachen  aber  stehen 
mit  unsrer  Auffassung  in  gutem  Einklang.  So  ist 
Chlorwasser  im  Dunkeln  haltbar,  am  Sonnenlicht  wird 
Sauerstoff  entwickelt,  und  das  Chlor  verbindet  sich  mit 
dem  Wasserstoff  zu  Salzsäure.  Organische  Farbstoffe 
werden  teilweise  reduziert,  und  es  lassen  sich  in  vielen 
Fällen  die  Leukokörper  unter  dem  Umwandluhgspro- 
dukte  nachweisen.  So  bildet  Chinon,  in  wässeriger  Lö- 
sung dem  Sonnenlicht  ausgesetzt,  stets  Hydrochinon.  Die 
Reaktion  wird  hier  aber  dadurch  kompliziert,  dass  der 
abgeschiedene  Sauerstoff,  welcher  stark  aktiviert  ist,  sei- 
nen oxydierenden  Einfluss  auf  einen  Teil  der  Substanz 
ausübt  und  dadurch  tiefer  greifende  Zersetzung  eintritt. 
Wie  Ciamician  gezeigt  hat,  lindet  beim  Belichten  orga- 
nischer Körper  in  alkoholischer  Lösung  eine  Reduktion 
derselben  statt,  während  gleichzeitig  der  Alkohol  zu 
Aldehyd  oxydiert  wird. 

Ich  will  hier  nur  noch  an  die  photographische  Re- 
duktion des  Ferrioxalats  und  an  das  Bleichen  einer  al- 
koholischen Eisenchloridlösung  am  Sonnenlicht  erinnern  ! 

Ich  nehme  es  als  selbstverständlich  an,  dass  die 
Herren  Botaniker  zu  meiner  Hypothese  die  Köpfe  be- 
denklich schütteln  werden  und  bin  darauf  gefasst,  dass 
man  mir  eine  Anzahl  von  mehr  oder  weniger  richtigen 
Beobachtungen  zitiert,  die  ich  bis  dahin  übersehen  hatte, 
und  welche  mit  der  Theorie  nicht  in  Einklang  stehen! 
Ich  bin  jedoch   der  Ansicht,   dass   die  Wissenschaft  als 


—     308     — 

solche  durch  derartige  Übergriffe  nur  gefördert  werden 
kann  und  es  im  Interesse  der  Chemie  nur  zu  wünschen 
wäre,  dass  sie  ihrerseits  öfters  damit  behelligt  würde. 
Die  langen  Namen  und  Formeln,  welche  in  der  orga- 
nischen Chemie  üblich  sind,  scheinen  besonders  geeig- 
net, unberufene  Eindringlinge  fern  zu  halten,  und  doch 
wäre  der  Fachchemiker  jedem  dankbar,  dem  es  gelänge, 
diese  Formeln  entbehrlich  zu  machen  und  eine  kürzere 
und  geschmackvollere  Nomenklatur  zu  schaffen.  Da 
sich  die  organische  Chemie  bis  jetzt  nur  mit  relativ  sehr 
einfachen  Verbindungen  beschäftigt,  während  gerade  die  im 
Haushalte  der  Natur  so  wichtigen  Eiweissstoffe  wegen  ihrer 
komplizierten  Beschaffenheit  eine  terra  incognita  sind, 
so  ist  begründete  Aussicht  vorhanden,  dass  Formeln  und 
Nomenklatur  im  Lauf  der  Zeit  eher  komplizierter,  als 
einfacher  werden  müssen. 

Die  organischen  Chemiker  haben  sich  bemüht  die 
natürlichen  Farbstoffe  zu  untersuchen  und  dieselben, 
sowie  neue,  synthetisch  darzustellen.  Sie  haben  den  Zu- 
sammenhang zwischen  Färbung  und  chemischer  Konsti- 
tution zu  ermitteln  gesucht  und  sind  dabei  so  weit  gekom- 
men, dass  man  bei  einer  Synthese  die  Nuance  des 
darzustellenden  Farbstoffs  mit  ziemlicher  Sicherheit  vor- 
aussagen kann. 

Auch  im  übrigen  gehören  gegenwärtig  die  organi- 
schen Farbstoffe  zu  den  am  besten  studierten  organi- 
schen Verbindungen,  damit  ist  aber  die  Aufgabe  der 
Chemiker  beendigt.  Die  eigentliche  Ursache  der  Fär- 
bung ist  immer  noch  ein  ungelöstes  Rätsel  und  die 
Lösung  desselben  muss  dem  Physiker,  beziehungsweise 
einer  physikalischen  Chemie  der  Zukunft,  vorbehalten 
bleiben. 


Zur   Gammafunktion. 


Von 
H.  Kinkelin. 


Den  Hauptgegenstand  der  vorliegenden  Abhandlung 
bildet  die  Ableitung  der  Eigenschaften  der  Gamma- 
funktion aus  dem  für  alle  reellen  und  komplexen  Werte 
ihres  Argumentes  geltenden  Gauss'schen  Ausdruck  dieser 
Funktion  auf  direktem  Wege  und  ohne  Zuziehung  anderer 
Hilfsmittel. 

Angeschlossen  sind  von  der  herkömmlichen  Weise 
abweichende  Bestimmungen  zweier  bekannten  Integrale. 


I.  Die  Grundgleichungen. 

Als  Definition  der  Gammafunktion  gilt  der  Aus- 
druck 

r,       lim.    k     *k! 

k  =  oo  x(x  +  l)(x  +  2)...-(x+k-l) 

Wird  k  ein  für  allemal  als  unendlich  wachsende 
Zahl  gedacht,  so  kann  für  die  Folge  die  Bezeichnung 
lim.  in  der  Regel  weggelassen  werden. 

Die   erste  Grundgleichung 

/T(x~f-i)    x-rx  (2) 

ergibt    sich    sofort,    wenn  man  beachtet,  dass  k  :  (x  +  k) 
die  Einheit  zur  Grenze  hat. 


—     310     - 
Die  zweite  Grundgleichung 

beweist  sich  durch  Auflösung  von  Sin  ttx  in  Faktoren. 
Man  bestimme  zunächst  die  Wurzeln  der  Gleichung 

Sin  z  =  o, 

die  mit 

7.1      -  zi 
e    -  e       =o 

gleichbedeutend  ist.  Es  sei  z  =  a  +  bi.  wobei  a  und  b 
als  reell  gedacht  sind,  so  geht  dieselbe  über  in 

- 1,  b 

e      (Cos  a  -f  i  Sin  a)  -  e  (Cos  a  -  i  Sin  a)  =  o 

und  teilt  sich  in  die  zwei  Gleichungen 

/  -b     h\ 
Cos  a  \e      -  e  /  =  o  , 

/  -  b      h\ 

Sin  a  \e      +e  /  -  o  . 

Da    der   zweite  Faktor    in    der    zweiten    Gleichung 
für  reelle  b  nicht  null  sein  kann,  so  muss 

Sin  a  =  o  . 

woraus  die  Werte  a  =  o,  +  rc,  ±  2/r,  •  •  •  +  k?r  folgen.  Für 
diese  wird  aber  in  der  ersten  Gleichung  der  erste  Faktor 
Cos  a  nicht  null,  daher  muss 

-b     b 
e      -e  =o, 

was  nur  für  b  =  o  stattfindet.  Die  Gleichung  Sin  z  -=  o 
liefert  somit  nur  die  Wurzeln  z  =  o,  +  rr,  +  2.t,  ■  •  •  +  k.T, 
und  die  Gleichung 

Sin  ttx     o 

die  Wurzeln  x  =  o,  +  1,  +  2,  •  •  •  +  k,  so  dass  Sin  7tx  ausser 
den   Faktoren  x,  x  +  1,  x  +  2.  ---x  +  k  keine  andern  von 


—     311     — 

x  abhängigen  Faktoren  besitzt.     Demnach  ist,  unter  A 
eine  Konstante  verstanden, 

Sin  .7\     A  •  x  (x  +  ]  )  (x  J   2)  •  •  •  (x  -|-  k) 

(1  -x)  (2  -x)  ...(k-x) 

,        Sin  7ix  , 

oder-  =  A(x+l)(x  +  2)- • -(x  +  k) 

(l-x)(2-x)...(k-x). 

Lässt  man  x  gegen  null  konvergieren,  so  kommt 

n     A-k!k!, 
so  dass  nun 

Sin  ffx 

— —  =  x  (x  + 1)  (x  +  2)  •  •  •  (x  +  k) 

(l-x)(2-x)..-(k-x):k!k! 

Andrerseits  gibt  die  Definition  von  _Tx: 

- 1 

k       k  '  k  ' 

rx.r(i-x) 


x(x  +  l)(x  +  2)---(x  +  k-l) 
(i-x)(2-x).-.(k-x) 


oder,  wenn  man  Zähler  und  Nenner  mit  x  +  k  multipli- 
ziert und  im  Zähler  für  (x  4-  k)  :  k  die  Einheit  setzt  : 

k'  k' 
/'x./'(l-x) 


x  (x  + 1)  (x  +  2)  ■  •  •  (x  +  k) 
(t  -  x)  (2  -  x)  •  ■  •  (k  -  x) 


woraus  sofort  die  Richtigkeit  der  zweiten  Grundgleichung 
erhellt.  Dass  diese  auch  für  komplexe  Werte  von  x 
Geltung  hat,  geht  aus  ihrer  Herleitung  ohne  weiteres 
hervor. 

II.  Das  Multiplikationstheoren». 

Setzt  man  in  der  Definitionsgleichung 

X  - 1 

k         k! 
/  x 


x  (x  +  1)  (x  +  2)  •  •  •  (x  +  k  -  1) 


312 
der  Reihe  nach  für  x  die  Werte 


nx  1      ux  +  1  n-lnx  +  n-1 

x     — ,    x  +  — '=-— — ,  •••x-l- 


und  multipliziert  die  Ergebnisse  mit  einander,  so  kommt 

nx  -  .',  u  -  !        n  n  k 
^x.r(x  +  l)...r(x  +  ^V  (k!)D 


n  qx  (nx  +!)•••  (nx  +  nk  -  1) 


Andrerseits   ist,   wenn   nk  für  k  gesetzt    wird,    was 
gestattet  ist, 

nx  -  l    nx  -  l 
_,-  '  k  d  (nk)! 

I  (nx)  - 


nx  (nx  +  1)  •  •  ■  (nx  +  nk  -  1) 
Aus  der  Vergleichung  beider  Ausdrücke  folgt 

/'X.r(x+l)...r(x  +  1izi)        y -]n   nk+1       n 
n  '  N  n         k  n  (k!) 

/  (nx) • n 

Da  die  linke  Seite  dieser  Gleichung  k  nicht  ent- 
hält, so  muss  auch  die  rechte  Seite  eine  von  k  unab- 
hängige Funktion  von  n  sein,  die  mit  <f  (n)  bezeichnet 
werde,  so  dass 

I  -  i  n    nk  +  1        n 
k"  n  (k!) 

<p(p)  =  - —  ■ 

(nk)! 

dann  ist 

rx  r(x  +  —)•••  r(x  +  — )  =  r(nx)  n  "  UX<f  (n), 
n  n 

und  es  bleibt  die  Aufgabe,   den  Wert  von  <f  (n)  zu  be- 
stimmen. 

Setzt  man  hier  -  x  für  x,  so  kommt,  unter  An- 
wendung der  aus  der   ersten  Grundgleichung  folgenden 

Beziehung 

-z-  /•(  -z)    r(i-z), 


—     313     — 

auf  r  (-  x)  und  r  (-  nx)  und  nach  Umkehrung  der  Fak- 
torenfolge vom  zweiten  Faktor  an  : 

T(l-x)  r(l-x--)...7Ttl-x-5^1)  =  ^(l-nx)nnX"1çJ(n)  . 

Unter  Anwendung  der  Beziehung 
rz.r(i-z)  =  5A- 

Sm  7iz 

ergibt  die  Multiplikation  der  letzten  Gleichung  mit  der 
vorhergehenden  : 

Sin  ,tx  •  Sin  n  (x  H )  •  •  •  Sin  n  (x  H )  =  Sin  nnx  •  n    ~    ncp  (n)~  ' 

woraus  für  ein  gegen  null  konvergierendes  x: 

a.    n     _.     2.t  (u-I).t        n-i    2         -2 

Sin Sm --Sm- — -n         nœ(n) 

n  n  n  T  v 

Der  Wert  dieses  Produktes  wird  aber  bekanntlich 
gefunden,  indem  man  x  n-  1  in  seine  reellen  Faktoren 
von  der  Form  x"'-2xCos—  +  1  zerlegt,  sodann  x=l 
und  =  —  1  setzt,  die  beiden  Ergebnisse  mit  einander 
multipliziert  und  aus  dem  Produkt  die  Quadratwurzel 
zieht,  welche  positiv  sein  muss.     Man  erhält 

Sin Sin Sin —  =  n  ■  2 

n  n  n 

so    dass   nun   aus   der  Vergleichung    der   beiden  Werte 
des  Produktes  folgt: 

'.  \  n  -  ', 

9(n)  =  n"(27r)_ 

wodurch  endlich  als  Multiplikationstheorem  sich  heraus- 
stellt : 

rx .  r(%  +  l) . .  •  r(x  +  — )  =  r(nx)J  ~  dx(2.t)  ' n  " k        (4) 


—     314 

Bemerkung.  Die  Einführung  des  gefundenen  Wertes 
von  cp  (n)  in  die  Definitionsgleichung  dieser  Funktion 
gibt  noch  zu  einer  weitern  Bestimmung  Anlass.  Es 
wird  nämlich 

(nk)!  =  k~     "     n  ?(2»)  (k!) 

für  ein  unendlich  wachsendes  k.    Diese  Eigenschaft  der 

Funktion  k!  kann  zur  Aufstellung  eines  Grenzausdruckes 

für  sie  selbst  benützt  werden. 

Es    sei    allgemein    f  (m)    eine    Funktion,    die    der 

Eigenschaft 

|-|n  nm  +  ]         \ - ■§- n         u 
f'(nm)=m        '    n  "(2^)"  f(m) 

genügt,  so  wird  f(m)  bei  unendlich  wachsendem  m  =  k 
mit  k!  übereinstimmen.  Aus  dieser  Gleichung  folgt  nun 
für  m  =  1  : 


n  +  i         1  -  \  n        n 
f(n)  =  n        -(2^)"      '     f(l)    , 


daher  ist  auch 

m  +  A        \-  -  i  m        in 
f(m)-m  -(Ott)-  f(l) 

Da  beim  Übergang  von  m  in  k  die  Funktion  f  (m) 
in  k!  übergeht,  so  hat  auch  k!  diese  Form,  nämlich 

k  +  >  >  -  ',  k       k 

k!  =  k  (2tc)'  -A  , 

wo  nun  noch  die  Konstante  A  zu  bestimmen  übrig  bleibt. 
Man  setze  kl  1   für  k: 

k  +  1  -|- 1        -4k    k  +  1 
(k  +  l)!  =  (k+l)  '(2*)    "   A 

und  dividiere  diese  Gleichung  durch  die  vorige,  so  wird 

1 


i     k-i-i 


(2*)2 


315     — 

und  beim  Übergang  zur  Grenze  k  =  ~>c  : 

A  =  i-.(2*)*, 

wodurch  endlich 

k!=kVe~     IM;  (5) 

die  bekannte  Laplace'sche  Grenzbestimmung  sich  ergibt. 

III.  Die  periodische  Reihe. 

Innerhalb  der  Grenzen  x  =  o  und  1,  diese  selbst 
im  allgemeinen  ausgeschlossen,  gilt  für  jede  zwischen 
diesen  Grenzen  stetige  Funktion  f(x)  die  Gleichung 

f  (x)  =  Ao  +  21  (2  An  Cos  2mrx  +  2  Bn  Sin  2mrx) , 
wobei  die  Summe  von  n  =  1  bis  c>c  zu  nehmen  ist,  und 

l 
A0=  !  f(x).dx, 

o 

i  i 

A„  =  I  f  (x)  Cos  2n/rx  •  dx  ,         B„  =   I  f  (x)  Sin  2d.tx  •  dx  . 
0  0 

Die  Funktion  log  Tx  genügt  der  Bedingung  der 
Stetigkeit  und  kann  daher  in  eine  Reihe  von  der  an- 
gegebenen Form  entwickelt  werden.  Sie  ist  definiert 
durch  den  Ausdruck 

k-i 

log  r  x  =  log  k  !  -  log  k  +  x  log  k  -    y  log  (x  +  r)  . 

r  =  o 

Bei  der  Ausführung  der  Integrale  setze  man  iu  den 
Summengliedern  am  Ende  dieses  Ausdruckes  x  +  r  in  y 
um,  wodurch  die  Integrationsgrenzen  o  und  1  bezw.  in 
r  und  r  +  1    verwandelt    werden    und    die    Summe    der 


—     316     — 

Integrale  in  ein  einziges  Integral  zwischen  den  Grenzen 
o  und  k  zusammengezogen  werden  kann.    Man  erhält  so 

l 

/'  k 

Ao  =   I  logr-x-dx  =  logk! -logk  + J  logk-[y  logy-y] 

J  ,J 

O  =logk!- Jrlogk-klogk  +  k 

Da  aber  vorhin  in  Gleichung  (5) 

log  k  !  =  k  log  k  -  k  +  i-  log  k  +  -\  log  2.t 
gefunden  wurde,  so  wird  einfach 

Ao  =  |  log  2n  .  (a) 

Ferner  wird,  unter  Anwendung  partialer  Integration 
leicht  erhalten: 

i  k 

An  =   !  log  7Tx  •  Cos  2njix  •  dx  =  -   I  log  y  •  Cos  2nrcy  •  dy 

o  o 

k  K 


1       /    Sm  2njiy  ,  1       /    hm  v  , 

=  -—         lày  =  - —    \         —dw 

2n.r    J  y  2ri7i    J        v 


wo  zur  Abkürzung  2n^tk  =  K  gesetzt  ist. 

Um  den  Wert  dieses  Integrals  zu  finden,  lasse  man 
in  dem  geschlossenen  Integral 


JL 


-  z 

e      -I 

dz      u 


die  komplexe  Veränderliche  z  den  Umfang  des  ersten 
Quadranten  im  Kreise  vom  Radius  K  um  den  Koordi- 
natenanfang als  Mittelpunkt  durchlaufen,  wodurch  sich 
für  ein  unendlich  wachsendes  K  durch  Trennung  des 
reellen  vom  imaginären  Teile  sofort  die  Bestimmungen 
ergeben  : 


—     317 


K 


Sin  v  ,         n 
v  2. 


0 

K  K 


und  I  dw=      i du, 

o  o 

deren  erste  für  A„  den  Wert  liefert: 


A    -1 

An  —  -, — 

4n 

0- 

Endlich 

erhält  man  auf  gleiche  Weise 

1 

Bn 

=    1  log^Tx 

•  Sin  2n;rx  ■ 

dx 

» 
0 

log  k 

k 
1        f1 

-  Cos  2ii7ry 

y 

dy 

2n^    ' 

2X171  J 

0 

K 

logk 

:      fi- 

-  Cos  w  , 
av 

2n^        2n7r     F  v 

c 
O 

oder  zufolge  der  zweiten  der  obigen  Integralbestimmungen 

K 

B„=-!§Li+     1       /W^d.. 

2n?r        2n/r     / 

O 

Der  Wert  dieses  Integrals  berechnet  sich  wie  folgt. 
Zunächst  kann  die  obere  Grenze  K  ==  2n7rk  durch  die 
zunächst  grössere  ganze  Zahl  y.  =  K  +  &  ersetzt  werden, 
indem    der    hinzugefügte    Teil    zwischen    den    Grenzen 


—     318 

K  und  x  bei  wachsendem  k  die  Null  zur  Grenze  hat. 
Sodann  kann  für  e       der  Grenzausdruck 

-  V  V     in 

e      =lim.  (1 ) 

gesetzt  werden,  wobei  für  m  eine  beliebige  unendlich 
wachsende  Zahl  genommen  werden  darf.  Nimmt  man 
der  Einfachheit  wegen  m  -  x  an,  so  geht  das  Integral 
über  in 

X  1 


J 


v  /      1  —  11 


du 
1  -u 

o  o 

und  wird  nach  Auflösung  des  Bruches  gleich 

1 
■/. 

dessen  Wert  durch  Differenziation  von  log  T  x  und  die 
Annahme  x  =  1   gleich 

log  x  +  C 

erhalten   wird,    wo  C  =  -  T'  1  :  T\    die    Mascheronische 
Konstante  0,577  ••  •  bedeutet.     Es  ist  aber 

log  x  =  log  (K  +  d)  =  log  K  +  log  (1  +  ^) 

und  geht  bei  unendlich  wachsendem  k  in  log  2n?rk  über, 
so  dass  nun 

K 

» 

j    1~e~v  du  =  log  K  -!-  C  =  log  2n;rk  +  C 

J  ° 

o 

wird,  wodurch  sich  für  Bn  der  AVert  ergibt: 

Bn  =  ^  log  2n,T  +  — -  .  (c) 

2n.T  2n.T 


—     319     — 

Die  in  den  Gleichungen  (a),  (b),  (c)  gefundenen 
Werte  von  A0,  A„,  Bn  geben  schliesslich  die  Bestimmung 

Cos  2n?rx      C  4-  log  In    _,  Sin  2n7rx 

log  r  x  =  '  log  2.T  -(-  .    2' +  — - — - —  1  — — 

b  -  -    —  n  -T  n 

1     v  logn  Siu  2q^x  (o  <  x  <  1}  ^  (6) 

^   —       n 

die  Summen  von  n  =  1  bis  oo  genommen. 

Aus  dieser  Gleichung  lässt  sich  das  Multiplikations- 
theorem ebenfalls  leicht  ableiten,  wie  schon  Kummer 
bemerkt  hat  (Grelle  J.,  Bd.  35). 

IV.  Die  Potenzreihen. 

Setzt  man  zur  Abkürzung 

log7T(l+x)  =  », 

so  folgt  aus  der  Definitionsgleichung 

kx-k! 
/(1  +  x)-(x-!-l)(x  +  2)--(x  +  k)- 

ü  =  x  log  k  +  k!  -  log  (x  +  1)  -  log  (x  +  2) log  (x  +  k) 

und  die  Ableitungen 

1  1  1 


v'  -  losr  k  - 


x  +  1     x  +  2  x  +  k 


1  s+^+^ 


(x  +  l)2  '  (x  +  2)2  '  (x+-3)2 

V(x  +  1)3  '  |x   !-  2)»  ^  (x  +  3):!  T       / 


(n)             n   ,  /        1                   1  1 

t/'  =  (-l     n!(-  -  +  -      +  -      — -+■ 

\  n  n  n 

\(x  +  1  )         (x  -I-  2)         (x  +  3) 

Man  erkennt,  dass  zwischen  den  Grenzen  o  und  1 
für  |x|  weder  v  noch  dessen  Ableitungen  unstetig  sind,  so 
dass   v  sich  zwischen  diesen  Grenzen  nach  dem  Maclau- 


—     320     — 

rinschen  Satz  in  eine  nach  Potenzen  von  x  fort- 
schreitende konvergente  Reihe  entwickeln  lässt.  Für 
x  =  o  wird 

v   =  o,  v  -  -  C,  v"  =  s„,  v"  —  -  2!  s9 ,  •  •  • 
o       '     o  o       2'      o  8 


(n 
( 

worin  allgemein 


(-D  (n-l)!.n, 


1        1        1 
n        ^  2n      3n      4n 


so  dass  nun 


log  r (1  +  x)  =  -  Cx  +  \  s2  x2  -  l  s3  X3  +  •  ■  •  1  (-  if  SQ  xU  +  •  •  ■    I  7) 

Mit  dieser  Formel,  zweckmässig  umgeformt,  hat 
Legendre  seine  Tafel  der  Logarithmen  der  Gamma- 
funktion  berechnet. 

Eine  andere  zur  Berechnung  von  log  T  x  bequeme 
Formel  erhält  man  durch  Verwendung  der  allgemeinen 
Gleichung 

x  +  k 

fx  +  f  (x  +  1)  +  ■  •  •  f  (x  +  k)  =   I     fz  •  dz  +  \  (fx  +  f  (x  +  k)) 

%J 
X 

-|f(f'x-f'(x  +  k))  +  |l(f-x-f-(x  +  k))-...    _ 

wo  die  B2,  B4,  •  •  •  die  Bernoullischen  Zahlen  bedeuten. 
Für  fz  =  log  z  ergibt  sich  hieraus  bei  unendlich  wach- 
sendem k: 

logx(x+l)(x-|-2)--(x  +  k)  =  (x-!-k)lüg(x  +  k)-k-xlogx  +  |logx 

'  '  B»  1       Bj    1      JBe   1 

+  Mog(x  +  k)-  —  _  +  __-_  -+... 

Demnach  geht  die  Gleichung 
log  /'x  =  (x  -  1)  log  k  +  log  k  !  -  log  x  (x  +  1  )  •  •  •  (x  +  k)  +  log  (x  +  k) 


—     321 

unter  Berücksichtigung  der  Bestimmungen 

log  k  !  =  k  log  k  -  k  -  -i-  log  k  +  \  log  2ti  , 

lim.  log  (x  +  k)  =  log  k 

lim.  k  log  (x  +  k)  =  k  log  k  +  k  log  M  +  -^  j  =  k  log  k  +  x 

über  in 

log  fx-  .V  log  2ji  -  x  +  (x  -  \)  log  x 


1  •  2  x     3-4x3  +  5-6x 


i=i+r-=5n—      <8> 


wo  beim  Abbrechen  der  Reihe  der  Best  jeweilen  kleiner 
ist  als  das  zuletzt  berechnete  Glied. 

Die  Gammafunktion  selbst  und  ihr  reziproker  Wert 
lassen  sich  ebenfalls  in  Potenzreihen  auflösen.  Denn 
ebenso  wie  log  r  (1  +  x)  =  v  und  seine  Ableitungen,  so 
sind  auch  r  (1  +  x)  =  u  und  seine  Ableitungen  zwischen 
den  Grenzen  o  und  1   für  |x|  stetig. 

Aus  v'   =  — 

u 
folgt  u'    =  uv'  , 

u"  =  uv"  +  u'  v' 

u"'  =  uw"'  +  2u'  v"  -\-  u"  v' 

(u)         (n)  ,    /n-l\    ,     (v-1)      /n-l\    „     (d-->) 
u       =  ui;       +^    1     Ju'i)  +(     2    )U   V  +'" 

.   /n-l\     fn-1)   , 

••■  +  U   ljU 

und  hieraus  für  x  =  o,  da  u   =  1  : 

o 

uö  =  VuoC 
u-  =  s-2!s3-2u;sa-u;'C 


21 


—     322     — 

(n)  ii  n  - 1  /n  _  i  \ 

a^J=(-l)    (n-l)!.n+(-l)        (n11)(n-2)!u;8n_1 

+  (-1)  (   2   )i*-W\*n-2  +  ---(n.-l)%  °' 

daher    die    Koeffizienten    der    Potenzen    von   x   in    der 
Reihenentwicklung  : 

2Tuo=if82-uoC) 

1        ,„  ,   ,  ,  1        ,.n 

7TT  U       =  -  -.V  (S     -U      S.+-7II      U 

3!     0         j  v  3       o    2  '  2!    0 


— ;  U        =  (-  1)    1    S      -  U      S  ,  +—P  U     S  , + — -;  U  L    I. 

n!    o       v      '    n^n       on-i'2!     on-i        —  (n-1)!    0  J 


Schreibt  man  der  Analogie  wegen  st  für  C  und  setzt 

r  (  1  +  x)  =  1  -  &1  x  +  a2  x2  -  a3  x3  +  .  .  .  (_  1  )"  aQ  x"  +  •  •  ■ 
so  gibt  dies  die  Rekursionsgleichungen: 


l2  =  i(S2  +  Vl) 
i8=i(83  +  ai82  +  a28l) 


1 
a    = 


=  —  /s    +  a  s       ,  +  a„  s       .  +  ■  •  •  a         s  \ 
n      n  In1     in-1        2  n-2    '  n-i  îj 

Eine  für  die  Ausrechnung   geeignetere  Formel    er- 
hält man  durch  Subtraktion  der  vorigen  von 

1  n    n 

1_X  +  X2_X3+...(_1)     x     _|_... 


1+x 


Setzt  man  abkürzend  b    =  1  —  a  ,  so  kommt 
n  n' 

fT(l  +  x)  =  r^i  +  b1X-b2X2  +  b3X3_...(_])n-1biiXn+...(9) 


—     323     — 

wo  die  Koeffizienten  folgende  Zahlenwerte  haben: 

bj  =  0,4227  8434  b8   =  0,0018  9431 

b2  =  0,0109  4400  b9   ^0,0009  7474 

b3  =  0,0925  2093  b,  0  =  0,0004  8435 

b4  =  0,0182  7192  bn  =  0,0002  4341 

b5  =  0,0180  0494  b12  =  0,0001  2173 

b6  =  0,0068  5089  bt  3  =  0,0000  6094 

b7  =  0,0039  9824  bt  4  =  0,0000  3048 . 

Von  hier   an   ist  jeder   folgende  Koeffizient    die  Hälfte 

des  vorhergehenden. 

Setzt  man  endlich 

1 

w-.T(t  +  x)' 
so  folgt 

log  w  =  -  log  r  (l  +  x)  =  -  v , 

woraus  durch  Differentiation 

w'    =  -  w  v' 

\v"  =  -  wi>"  -  \\'  v' 

W'"  =  -  W!)"'  -  2\v'  v"  -  w"  v' 


In  den  vorhin  aufgestellten  Gleichungen  für  die 
Ableitungen  von  u  hat  man  somit  nur  den  Buchstaben 
u  durch  w  zu  ersetzen  und  auf  der  rechten  Seite  das 
Vorzeichen  zu  ändern.     Man  erhält  so  die  Reihe 

__L:_=l  +  C1X+C2x2  +  C3xB  +  ...CnXI1  +  ...  (10) 

und  für  die  Koeffizienten  c  die  Rekursionen«: 


-*(■•- Vi) 

HS3~V2  +  Vl) 


n  -  l  1  /  n  - 1  \ 

3     =(-1)  —  I  9      -  C.  S  .  +   C    S  „-•••(-1)  C  ,  S     1, 

n  n\Q       in-ian-2  n -  l  iy  ' 


—     324     — 

welche  folgende  Zahlenwerte  ergeben: 

Ci=    0,57721566  c9  =-0,00021524 

es  =- 0,6558  7807  c10  =    0,00012805 

c3  =  -  0,0420  0268  c^  =  -  0,0000  2014 

c4  =    0,1665  386  L  l-12  =  -  0,0000  0125 

c5  =  -  0,0421  9773  c13  =    0,0000  0113 

c6  =  -  0,0096  2197  cl4  =  -  0,0000  0021 

c7=    0,0072  1894  c15  =    0,0000  0001 
c8  =  -  0,0011  6517 

Mit  x  multipliziert,  gibt  die  Reihe  den  Wert  von  —  • 
Für  Werte  von  x,  deren  Modul  ^  \,  nehmen  die 
Glieder  der  beiden  Reihen  (9)  und  (10)  rasch  ab,  so  dass 
sich  die  Berechnung  der  Gammafunktion  sowie  die 
ihres  reziproken  Wertes  auf  das  einfachste  gestaltet. 
Man  kann  aber  jede  Gammafunktion  auf  solche  zurück- 
führen, in  denen  x  diese  Bedingung  erfüllt,  Ist  x  reell, 
so  genügt  hiezu  die  Verwendung  der  Grundgleichungen 
(1)  und  (2).  Ist  x  komplex  =  a  +  ß\,  so  verwende  man 
zunächst  für  die  Reduktion  des  imaginären  Teils  das 
Multiplikationstheorem  (3),  indem  man  für  n  eine  ganze 
Zahl  >  2  \ß\  wählt,  und  reduziere  sodann  in  den  als 
Faktoren  auftretenden  Funktionen  noch  den  reellen 
Teil  des  Argumentes  mittelst  der  Grundgleichungen 
(1)  und  (2). 


Das  Integral     |  » <™ 

J     l  +  v 


Für  reelle  positive  Werte  von  x  <  1  beweist  man 
gewöhnlich  die  Grundgleichung  (3)  vermittelst  des  Euler- 
schen  Integrals  der  ersten  Art 


325     — 


abgeleitet  wird.  Dieses  kann  ohne  Integrationsverrich- 
tung gefunden  werden.  Für  ein  geschlossenes  Integral 
mit  komplexer  Veränderlichen  gilt  die  Bestimmung 


Az  ,                       f« 
I  —  dz  =  2/n  •  hm. 


falls   für  nur  einen  Wert  a  von  z  innerhalb    des  von  z 
umlaufenen  Gebietes  tpz  =  o  wird.     Daher  ist 


»    2m  -  i 
z  dz     „    . 


2n 
*-         1  +  z 

Lässt  man  z  den  Umfang  eines  Kreissektors  durch- 
laufen vom  Radius  k  und  dem  Zentriwinkel  -  im  Koor- 
dinatenanfang, von  welchem  der  eine  Schenkel  in  die 
Abszissenaxe  fällt,  so  liegt  innerhalb  des  Sektors  der 
Punkt 


ja 

z     c  a  , 

in  dem  1  |  z    =  o  ist.     Der  Wert  des  Integrals  ist  da- 


her gleich 


.     —  (an-rn)         .     ^  -  ni  5f 

711  .  -n  n\       n  m       n 

V  =  — e  = e 

11  n  n 


—     326     — 

Das  Integral  selbst  teilt  sich  in  drei  Teile,  in  denen 
beziehungsweise 

z  =  v,  dz  =  di>,  v  von  o  bis  k  , 

z  -  ke     ,  dz  =  kie     dq>,  (p  von  o  bis  —  , 

in  in 

z~ve       ,  dz  =  e      dv,      v  von  k  bis  o  . 

Der  erste  Teil  wird  =  J,  der  zweite  =  o  für  m  <  n, 

2111771 


der  dritte  =  Je        ,  so  dass  nun 


J-Je 

n 

ni 

= e 

n 

n 

? 

woraus 

mni 

J  =  ^. 

n 

e 

ni 

1 

n 

e 

>.mni 

n 

mm 

mm 

n    -1 

n 

oder  endlich 

k 

r 

2in  -  l 

dz 

L'll 

1  -4-z 

n 

» 

„    ~.     mn 
2n  Sin 

2n 

Die    Substitution    von  z    =  v  gibt     bei     Ersetzung 

2a 
von  k     durch  k, 

i-  m 
r*    n 


l  v  dv 

j  "TT"«--, 


Q.    mar 

Sm 

n 


oder,  wenn  —  =  x  gesetzt  wird, 


k 

»    x  -  1 


dv 


I 

|  1  -|-  V  Sil!  7TX 

(1 


327     — 


übei 


VI.  Das  Integral     I  e      ùv. 

o 
Durch  Umsetzung  vou  v-  in  u  geht  dieses  Integral 


3 

,    /     -u  -i 

•_>    |   e      u       du 

«7 


0 

und  wird  als  besonderer  Fall  von 


-u  x  - 1 
i   |   e       u         du  =  |  /'  x 


O 

für  x  =  \  erkannt,  so  dass  sein  Wert  =  \  '\Jn,  wie  sich 
sowohl  aus  der  zweiten  Grundgleichung  (3)  für  x  =  l,  als 
aus  dem  Multiplikationstheorem  (4)  für  x  =  1  und  n  =  2 
ergibt. 

Der  Wert  des  Integrals  kann  direkt  gefunden  werden, 
wie  folgt.     Durch  partielle  Integration  kommt 
i  i 

/,„        „  m  2m         /  *  m-i 

J(1-U2)     dn=to+ïJ  (1""^  d" 

o  o 

Nimmt  man  einmal  m  =  k,  das  andere  Mal  m  ==  k  - 1 
an,  so  erhält  man  bei  wiederholter  Anwendung  dieser 
Formel 


k         2-4-6  ■■•(2k) 

(1  -  u-)    du  = 


J 


t 

J  y±  3 -5- 7-  --(2k-M)  ' 

0 

1 


;.       .,k->         1-3-5- ••  (2k -1)     ;r 

1-u-)  du  =  - — ^ L.  _ 

;  2  ■  4  ■  6  •  ■  ■  (2k)  2 


—     328     — 
Die  Umsetzung  u2  -  -r-  ergibt 

1*     /«     <,2\k  ,      2-4-6- ••  (2k) 
J       0-k)    d^3.5-7-.(2kiTl)'^ 

o 

/k 
T     /i     ^Y*^       l-3-5-(2k-l)    .r 

o 
woraus  das  Produkt 

V  k  1  k 

O  0 

Mit    unendlich     wachsendem    k    nähern     sich     die 
Potenzen  in  beiden  Integralen  dem  gemeinsamen  Grenz- 

wert   e~    ,    so    dass   schliesslich    nach    Ausziehung    der 
Quadratwurzel  folgt  : 


oc 


-  v-       yn 


j 

0 

Der  Quotient  der  beiden  Integrale  aber  gibt 

n  _22-4-4-6-6--  (2k)  ■  (2k) 

2  "  1  ■  3  -  3  ■  5  •  5  •  7  ■  •  •  (2k  - 1)  (2k  + 1)  ' 

Basel,  24.  November  1902. 


Einige  Grundversuche  über  elektrische  Schwingungen. 

Von  H.  Veillon. 


Nach  den  von  den  meisten  heutigen  Physikern  ge- 
teilten Anschauungen  hat  man  die  elektrischen  Erschei- 
nungen als  Veränderungen  aufzufassen,  welche  sich  im 
Dielektrikum  abspielen.  Die  genialen  Konzeptionen 
Faraday's  und  Maxwell's  im  Verein  mit  den  berühmten 
Versuchen  von  Hertz  haben  diese ,  der  klassischen 
Elektricitätslehre  so  fremdartige,  Vorstelluugswelt  mit 
einem  Schlage  eröffnet.  Geleitet  durch  den  Gedanken 
an  die  wunderbare  Präzision  der  mathematischen  Optik, 
welche  in  den  Werken  Fresnel's  und  seiner  Nachfolger 
eine  erstaunliche  Höhe  erreichte,  erkannte  man  bald  in 
der  neuen  Elektricitätstheorie  den  Keim  einer  sich  eng 
an  die  Lehre  des  Lichtes  anschliessenden  Behandlung 
der  elektrischen  Phänomene.  Mit  Eifer  wurde  überall, 
theoretisch  sowohl  als  auch  experimentell,  in  diesem  Sinne 
gearbeitet,  und  manche  hervorragende  Entdeckung  oder 
Erfindung  würde  ohne  diesen  Anstoss  der  Menschheit 
noch  vorbehalten  geblieben  sein.  Mit  immer  steigender 
Zuversicht  suchte  man  nach  Analogien,  ja  selbst  nach 
einer  Identität,  zwischen  den  elektrischen  und  optischen 
Erscheinungen,  und  viele  mögen  die  Partie  heute  schon 
als  gewonnen  betrachten. 

Wie  dem  nun  auch  sei,  so  ist  gewiss,  dass  alle  Be- 
strebungen, die  Optik  und  die  Elektricitätslehre  von 
einem   gemeinsamen,    der  erstem  dieser  Wissenschaften 


330 


entlehnten  Standpunkte  aus  zu  behandeln,  so  neu  sind, 
dass  es  nicht  als  Anmassung  hochverdienten  Forschern 
gegenüber  erscheinen  kann,  wenn  bereits  bekannte  Ex- 
perimente immer  wieder  aufs  neue  angestellt  werden, 
unbekümmert  jeder  vorgefassten  Meinung  und  jedes  früher 
gewonnenen  Resultates. 

In  diesem  Sinne  möchten  wir  die  wenigen  folgenden 
Experimente  aufgefasst  wissen,  welche,  obwohl  von  andern 
bereits  angestellt,  doch  noch  nicht  als  ganz  geklärt  zu 
betrachten  sind  und  welche  wegen  ihrer  prinzipiellen 
Bedeutung  für  die  Theorie  immer  noch  der  Aufmerksam- 
keit wert  sind. 


Transversalität  der  elektrischen  Schwingungen. 

Bei  den  experimentellen  Untersuchungen  über  die 
genannten  Analogien  war  eine  der  wichtigsten  Fragen 
diejenige  nach  der  Natur  der  Schwingungen.  In  der 
Theorie  gelangt  man  auf  Grund  der  Maxwell'schen 
Gleichungssysteme,  indem  man  den  Erreger  elektrischer 
Wellen  weit  weg  annimmt  und  die  Wirkung  auf  einem 
sehr  kleinen  Teil  der  Wellenfläche  betrachtet,  zu  den 
sogenannten  Strahlgleichungen.  Aus  diesen  folgert  man 
dann  wieder,  dass  die  in  der  Strahlrichtung  selbst  liegen- 
den Komponenten  verschwinden,  und  dass  nur  die  senk- 
recht zu  ihr  gerichteten  Komponenten  für  die  Schwingung 
in  Betracht  kommen.  Mit  andern  Worten,  es  wird  für 
die  elektromagnetische  Strahlung  die  Transversalität  der 
Schwingungen  gefolgert,  wie  für  das  Licht.  Dieses  höchst 
wichtige  Ergebnis  der  Theorie  prüfte  und  bestätigte  Hertz 
mit  Hilfe  seines  kreisförmigen  Resonators.  Seit  diesen 
denkwürdigen  Arbeiten  sind  nun  eine  ganze  Anzahl 
anderer  wertvoller  Hilfsmittel  zur  experimentellen  Er- 
forschung des  elektromagnetischen  Feldes  dem  Resonator 


3;n 


an  die  Seite  getreten.  Das  Instrumentarium  des  Phy- 
sikers ist  dadurch  erheblich  bereichert  worden,  und  in 
einer  für  den  ersten  internationalen  Physikerkohgress  zu 
Paris  von  Righi  verfassten  sehr  interessanten  Abhandlung 
werden  nicht  weniger  als  einundzwanzig  verschiedene 
diesbezügliche  Methoden  aufgezählt1).  Viele  derselben 
sind  bloss  auf  die  Demonstration  oder  Konstatation 
elektrischer  Schwingungen  abgerichtet,  während  andere 
möglichst  genaue  Bestimmung  der  quantitativen  Ver- 
hältnisse in  den  einzelnen  Punkten  des  Feldes  erstreben. 
Von  vornherein  verdienen  diejenigen  Instrumente,  welche 
dieser  zweiten  Forderung  genügen,  unbedingt  den  ersten 
Platz,  allein  sie  leiden  nur  zu  oft  an  dem  Nachteil  einer 
schwierigen  und  umständlichen  Manipulation,  die  schwer 
von  störenden  Einflüssen  zu  befreien  ist.  Man  wird  daher 
trachten,  wenn  es  sich  um  Messungen  handelt,  eine  solche 
Methode  zu  wählen,  welche  auch  in  ihrer  Handhabung 
nicht  allzuviel  Schwierigkeiten  verursacht,  und  wird  suchen, 
dieselbe  in  möglichst  einfacher  Weise  den  Anforderungen 
an  eine  brauchbare  Messmethode  anzupassen.  Dasjenige 
Instrument,  welches  sich  hiezu  wohl  eignet,  ist  der  Ko- 
härer.  In  erster  Linie  ist  derselbe  allerdings  bloss  zum 
qualitativen  Nachweis  von  Schwingungen  geeignet,  und 
bei  den  meisten  Arbeiten,  in  welchen  er  als  Reagens 
benützt  wurde,  hat  er  nur  diese  Bedeutung.  Seine  be- 
kannte grosse  Launenhaftigkeit  scheint  ihn  als  Organ 
einer  Messvorrichtung  auszuschliessen.  Allein,  wenn  man 
sich  lange  mit  der  Handhabung  dieses  Instrumentes  ab- 
gibt, so  findet  man,  dass  bei  Beobachtung  gewisser  Vor- 
sichtsmassregeln die  Inkonstanz  im  Reagieren  zwar  nicht 
aufgehoben,  aber  doch  auf  ein  verhältnismässig  kleines 
Mass  reduziert  werden  kann.    So  wird  dann  der  Kohärer 


')   A.  Righi.  Les    ondes  hertziennes.     Congrès  international   de 
physique,  rapports  t.  II  p.  301. 


—     332     — 

ein  für  Messungen  brauchbares  Mittel,  das  für  erste  An- 
näherungen recht  gute  Dienste  leisten  kann.  Die  folgen- 
den Versuche,  welche  eine  Prüfung  der  Transversalität 
der  elektrischen  Schwingungen  bezwecken,  sind  mit  diesem 
Hilfsmittel  angestellt  worden. 

Als  gut  geeignet  erwies  sich  ein  Kohärer,  bestehend 
aus  einem  7  cm  langen,  etwa  1  cm  weiten  Glasrohr,  durch 
Korke  verschlossen  und  mit  einem  Gemisch  von  nicht 
zu  feinen  Kupferdrehspähnen  gefüllt,  denen  ein  wenig 
Nickelfeilicht  beigemengt  war.  Durch  die  Korke  ragten 
ins  Innere  zwei  gerade  Kupferdrähte  von  3  mm  Dicke, 
so  weit  eingesteckt,  dass  die  einander  zugekehrten  Enden 
1  bis  2  cm  von  einander  abstanden.  Die  äussern  Enden 
waren  so  ca.  40  cm  von  einander  entfernt.  Über  dem 
ganzen  Glasrohr  war  als  metallische  Hülle  ein  7  cm 
langes  dickwandiges  Messingrohr  geschoben,  welches  das 
Glasrohr  dicht  umschloss.  Die  beiden  Elektroden  des 
Kohärers  trugen  je  ein  Quecksilbernäpfchen,  um  die 
Einschaltung  des  Kohärers  in  einen  geeigneten  Strom- 
kreis ohne  Erschütterung  nach  stattgehabter  Einwirkung 
bewerkstelligen  zu  können.  Dieser  Stromkreis  war  der 
Nebenschluss  eines  auf  einem  Widerstand  von  100  Ohm 
geschlossenen  Trockenelementes,  und  enthielt  ausser  dem 
Kohärer  noch  eine  Galvanometerrolle.  Die  durch  diese 
Schaltung  den  Kohärerelektroden  applizierte  elektromoto- 
rische Kraft  betrug  0,1  Volt.  Die  Entfernung  der  Galvano- 
meterrolle von  der  beweglichen  Nadel  war  so  herauspro- 
biert, dass,  wenn  der  Kohärerwiderstand  auf  Null  sinken 
würde,  genau  der  letzte  Teilstrich  der  Skala  im  Fernrohr 
erscheinen  sollte.  Durch  Vorversuche  mit  einem  Rheostaten 
war  eine  Skala  hergestellt  worden,  welche  die  jeweiligen 
Kohärerwiderstände  direkt  abzulesen  gestattete. 

Um  nun  den  Kohärer  für  die  Messungen  geeignet 
zu  machen,  musste,  wie  viele  vorhergegangene  Versuche 
es  hatten  erkennen  lassen,  sein  normaler  Widerstand  so 


333 


sein,  dass  er  bei  der  stärksten  Einwirkung  des  Oscilla- 
tors,  die  benützt  wurde,  nicht  tiefer  als  etwa  40  Ohm 
sank,  aber  auch  nicht  höher  blieb  als  ca.  70  Ohm. 
Durch  Regulierung  der  Distanz  der  einander  zugekehrten 
Elektrodenenden  im  Kohärer,  sowie  der  Masse  der  ein- 
gefüllten Metallspäne  war  dies  leicht  zu  erreichen.  Nach 
so  regulierter  Empfindlichkeit  zeigten  die  einzelnen  Ver- 
suche, bei  anscheinend  gleichen  Versuchsbedingungen, 
immer  noch  unter  sich  Abweichungen,  die  nicht  mehr 
zu  vermeiden  waren,  aber  dieselben  waren  doch  so  be- 
deutend reduziert,  dass  bei  sehr  zahlreich  wiederholten 
Beobachtungen  vollkommen  brauchbare  und  sichere  Mittel- 
werte zu  bekommen  waren. 

Als  Oscillator  dienten  zwei  Messingstangen  von  je 
40  cm  Länge  und  1  cm  Durchmesser,  in  gerader  Linie 
angeordnet.  Die  einander  zugekehrten  Enden  trugen 
Kugeln  von  Messing,  2  cm  Durchmesser,  die  mit  Kappen 
aus  Platin  versehen  waren.  Dicht  hinter  den  Kugeln 
waren  Drähte  angesetzt,  welche  zu  einem  Induktorium 
führten.  Als  solches  wurde  ein  gewöhnliches  Carpen- 
tier'sches  (grosses  Modell)  oder  ein  Klingelfuss'sches  mit 
geschlossenem  Eisenkern  verwendet.  An  dieser  Stelle 
möchten  wir  nicht  versäumen,  Herrn  Ingenieur  Klingel- 
fuss  für  die  freundliche  Überlassung  eines  seiner  durch 
so  grossen  Nutzeffekt  ausgezeichneten  Instrumente  unsern 
besten  Dank  auszusprechen. 

Oscillator  und  Kohärer  waren  in  einer  Höhe  von 
1,5  m  über  dem  Fussboden  und  in  4  m  Entfernung  von 
einander  aufgestellt.  Die  Einwirkung  wird  nun  stark 
abhängen  von  der  Zahl  der  benützten  Funken,  resp. 
von  der  Dauer  des  Funkenspieles.  Deshalb  wurden  ver- 
schiedene Versuchsreihen  vorgenommen.  Zuerst  wurden 
nur  drei  Funken  hintereinander  erzeugt,  indem  der  pri- 
märe Stromkreis  des  Induktoriums  durch  eine  geeignete 


—     334 

Vorrichtung  dreimal  hintereinander  gleichmässig  ge- 
schlossen und  geöffnet  wurde.  Die  durch  diese  drei 
Funken  erzeugte  Wirkung  wurde  dann  beobachtet.  Her- 
nach wurde  eine  zweite  Versuchsreihe  unternommen,  bei 
welcher  aber  das  Induktorium  mit  einem  Desprez  ver- 
sehen war  und  jeweilen  dreimal  hintereinander  ein  Fun- 
kenspiel von  zirka  einer  halben  Sekunde  ausgelöst  wurde. 
Beide  Arten  zu  „geben"  führten  zu  qualitativ  verschie- 
denen Resultaten,  aber  der  Charakter  der  Erscheinung 
blieb  durchaus  derselbe. 

Die  Aufgabe  bestand  nun  darin,  die  Grösse  der 
Einwirkung  zu  messen  bei  allen  möglichen  relativen 
Stellungen,  welche  Oscillator  und  Kohärer  gegen  einander 
einnehmen  können. 


Figur  1. 

In  Figur  1  sei  A  die  Mitte  des  Oscillators,  B  die- 
jenige des  Kohärers.  Die  Richtung  des  erstem  bilde 
mit  der  Grundlinie  den  Winkel  0i,  diejenige  des  letztern 
den  Winkel  02.  Ferner  sei  e  der  Neigungswinkel  der 
beiden  Ebenen,  welche  die  Grundlinie  AB  einerseits 
mit  der  Oscillatoraxe,  andererseits  mit  der  Kohäreraxe 
bestimmt.  Alle  möglichen  gegenseitigen  Lagen  werden 
erschöpft,  wenn  man  e,  0i,  &z  von  0  bis  7t  variieren  lässt. 
Wir  haben  uns  beschränkt,  diesen  Winkeln  die  Werte 
zu  erteilen  : 

0°       45°       90°       135° 
indem    wir    jeweilen    um    eine    Viertelsdrehung    fortge- 
schritten sind.     Der    letzte  Wert  180°    war  überflüssig, 


—     335     — 

da  er  wieder  mit  0°  zusammenfällt.  Kombiniert  man 
alle  diese  vier  Werte  für  die  drei  Winkel  mit  einander,  so 
erhält  man  64  mögliche  Zusammenstellungen.  Da  es 
für  uns  nur  auf  gegenseitige  Bichtungen  ankommt,  die 
nicht  mit  einem  bestimmten  Bewegungssinn  behaftet  sind, 
so  reduzieren  sich  diese  hier  auf  20  wirklich  geo- 
metrisch verschiedene.  Diese  werden  am  besten  dadurch 
ermittelt,  dass  man  sich  die  Figur  1  mit  Hilfe  eines  aus 
Stricknadeln  und  Korkstopfen  hergestellten  Modells  räum- 
lich versinnlicht.  Man  eliminiert  dadurch  die  unnötigen 
Stellungen  sehr  leicht  und  die  übrig  bleibenden  sind  die 
in  folgender  Tabelle  zusammengestellten  und  mit  Buch- 
staben bezeichneten: 


e    Gi 

02 

8 

0i 

(-h 

0     0 

0 

A 

45 

45 

45 

L 

45 

B 

90 

M 

90 

C 

135 

N 

45 

0 

D 

90 

45 

O 

45 
90 

E 
F 

90 

P 

90 

45 

45 

Q 

135 

G 

90 

B 

90 

0 

H 

90 

45 

S 

45 

I 

90 

T 

90 

K 

135 

45 

135 

U 

Eine  bessere  Übersicht  über  diese  zu  untersuchen- 
den Stellungen  erhalten  wir  durch  die  Zeichnungen  in 
Figur  2,  in  welchen  immer  links  der  Oscillator  und 
rechts  der  Kohärer  zu  denken  ist.  Wie  man  sieht,  kann 
der  Versuch  immer  so  disponiert  werden,  dass  der  Ko- 
härer horizontal  liegt,  was  für  eine  möglichste  Konstanz 
in  den  einzelnen  Beobachtungen  ein  Haupterfordernis 
ist.      Vertikal    gestellte    Kohärer    sind    nämlich    von    so 


33G 


grosser    Unzuverlässigkeit,     dass    von    ihnen    abgesehen 
werden  muss. 


A  B 


I) 


)r-  ~*  yr~^  ^-^r  ^ 


H 


i  k  l  n 


;-+"Kh^Nf  ^b 


N  0 


U 


^-^-  &—^  ^r^t  ^~k 


K  S 


^r  \ 


Figur  2. 


337 


Die  ganze  Versuchsreihe  wurde  öfters  wiederholt, 
indem  bei  jeder  einzelnen  Stellung  dreissig  Beobachtungen 
gemacht  wurden.  Dem  Charakter  nach  waren  alle  Re- 
sultate gleich,  und  es  möge  hier  eines  unter  ihnen  an- 
gegeben werden,  wobei  die  Zahlen  Ohm  bedeuten: 

A  B  C  D  E 

CO  CO  3C  >C  190 


F 

G 

H 

I 

K 

71 

139 

sc 

87 

34 

L 

M 

N 

0 

P 

310 

144 

430 

165 

57 

Q 

R 

S 

T 

U 

OO  CO  >C  CO'  250 

Das  Maximum  der  Wirkung  findet  also  bei  der 
Stellung  K  statt,  d.  h.  wenn  Kohäreraxe  und  Oscillator- 
axe  zu  einander  parallel  und  senkrecht  zur  Grundlinie 
stehen.  In  neun  Stellungen  blieb  die  Wirkung  völlig 
aus.  Wenn  Oscillator  und  Kohärer  die  Lagen  haben 
wie  in  K,  so  wollen  wir  sagen,  sie  befinden  sich  in  ihren 
Hauptlagen.  Bilden  wir  nun  bei  allen  zwanzig  Stellungen 
das  Produkt  der  Cosinuse  der  Winkel,  welche  Oscillator 
und  Kohärer  mit  ihren  respektiven  Hauptlagen  bilden, 
so  muss,  wenn  das  Gesetz  der  Transversalität  der  Schwin- 
gungen richtig  ist,  dieses  Produkt  jeweilen  proportional 
der  stattfindenden  Einwirkung  sein.  Da  wir  nun  die 
Einwirkung  durch  die  Widerstandsverminderung  im  Ko- 
härer messen,  und  über  den  funktionellen  Zusammenhang 
zwischen  dieser  Widerstandsverminderung  und  der  Grösse 
der  Einwirkung  bis  jetzt  nichts  wissen,  so  müssen  wir 
uns  damit  begnügen,  zu  sehen,  ob  die  beobachteten  Wider- 
stünde abnehmen,  wenn  die  oben  genannten  Produkte 
wachsen,  und  ob  für  diejenigen  Stellungen,  bei  welchen 


—     338     — 

diese  Produkte  gleich  sind,  die  Widerstände  gleich  sind. 
Unter  diesem  Gesichtspunkt  gruppiert,  ergeben  obige 
Resultate  folgende  Tabelle: 


Produkt  der 

Beobachtete 

Stellung 

Cosinuse 

Widerstände 

K 

1 

.'54  Ohm 

F 

71   Ohm 

I 

0,7 

87      „ 

P 

67      „ 

E 

190  Ohm 

G 

0,5 

139      „ 

M 

144      „ 

0 

165      „ 

L 

310  Ohm 

N 

0,4 

420      „ 

U 

301      „ 

ABC 

DHQ 

0 

alle     >c 

RST 

Angesichts  der  Un  Vollkommenheit,  die  dem  Kohärer, 
trotz  aller  Sorgfalt,  anhaftet  und  seine  Anwendung  für 
Messungen  erschwert,  dürfen  diese  Zahlen  doch  als  in 
gutem  Einklang  mit  den  Forderungen  der  Theorie  und 
speziell  mit  dem  Cosinusgesetz  stehend  bezeichnet  werden. 
Man  wird  auch  zugeben,  dass  diese  Methode,  trotz  ver- 
schiedener Einwendungen,  die  man  gegen  sie  erheben 
kann,  Resultate  liefert,  die  ebenso  sicher  sind  als  die, 
welche  man  mit  dem  gewöhnlichen  Resonator  erhält,  bei 
welchem  man  durch  Grösse  und  Zahl  der  ausgelösten  Fünk- 
chen  die  Kräfte  im  Felde  bestimmt.  Wir  möchten  da- 
her obige  Zahlen  als  einen  neuen  Beleg  für  die  Trans- 
versalität  der  elektromagnetischen  Schwingungen  hinstellen . 


—     339     — 

II. 

Einfluss  eines  Drahtgitters  auf  elektrische  Strahlen. 

Ein  für  die  Theorie  ebenfalls  sehr  wichtiger  Ver- 
such, auf  welchen  die  Methode  des  Kohärers  auch  wieder 
mit  Vorteil  angewendet  werden  kann,  ist  der,  bei  welchem 
ein  Drahtgitter  auf  den  Weg  der  Strahlen'  eingeschaltet 
wird.  Diesbezügliche  messende  Versuche  sind  bereits 
vor  zwölf  Jahren  von  Rubens  und  Ritter  unter  Ver- 
wendung des  Bolometerprinzips  ausgeführt  worden  1). 
Wir  haben  dieselben  mit  dem  Kohärer  wiederholt  und 
in  dem  Sinne  erweitert,  dass  wir  die  Gitterebene  nicht 
beständig  senkrecht  zur  Grundlinie  nahmen,  sondern  ihr 
alle  möglichen  Orientationen  erteilten.  Für  diese  Ver- 
suche bedienten  wir  uns  zweier  kleiner  Hertz'scher  Pa- 
rabolspiegel, deren  Axen  horizontal  je  1,5  m  über  dem 
Fussbodeu  waren.  Die  Spiegel  waren  einander  zugekehrt 
mit  4  m  Abstand;  einer  enthielt  in  seiner  Axe  den  Os- 
cillator,  der  andere  den  Kohärer.  Ihre  Masse  waren  : 
Brennweite  4  c,  Öffnung  40  c,  Axenlänge  57  c.  Es 
waren  solche,  wie  sie  von  der  Firma  Leybold  zu  Demon- 
strationszwecken hergestellt  werden.  Das  Gitter  aus 
Kupferdrähten  von  1,5  mm  Dicke  in  Abständen  von 
1,5  c  war  auf  hölzernem  Rahmen  montiert  und  hatte 
80  c  Breite.  Die  Mitte  des  Gitters  war  immer  in  der 
Mitte  der  Grundlinie,  also  2  m  von  jeder  Spiegelaxe 
entfernt.  Über  die  möglichen  Stellungen  des  Gitters 
gewinnen  wir  am  besten  durch  beistehende  Figur  3  einen 
Überblick,  wobei  nur  die  extremen  Lagen  angegeben 
und  die  durch  45°  gehenden  Übergangslagen  weggelassen 
sind. 

'l  Rubens  u.  Ritter,  Über  das  Verhalten  von  Drahtgitteru  gegen 
elektrische  Schwingungen,  Wied.  Ann.  Bd.  XL,  p.  55,  (1890). 


340 
B 


S 


I) 


E 


C 


F 


,e. 


Figur  3. 

Bei  diesen  Zeichnungen  denke  man  sich  das  Auge 
von  der  Mitte  des  Kohärers  nach  der  Mitte  des  Oscil- 
lateur, also  in  der  Richtung  der  Grundlinie,  blickend. 
Die  Kugeln  des  Oscillators  sind  durch  Kreise  angegeben. 
Bei  A  und  B  ist  die  Gitterebene  senkrecht  zur  Grund- 
linie, bei  den  übrigen  fällt  sie  mit  ihr  zusammen.  Bei 
C  und  F  stehen  die  Gitterdrähte  senkrecht  zur  Grund- 
linie, bei  D  und  E  parallel  zu  ihr.  Ausser  diesen  sechs 
Hauptstellungen  wurden  auch  die  sechs  mittleren  Über- 
gangsstellungen  untersucht,  die  man  bei  jeweiligem  Drehen 
um  45°  erhält.  Das  Resultat  dieser  Messungen,  welche 
für  jede  Haupt-  und  Zwischenstellung  hundert  mal  wieder- 
holt wurden,  ergab  folgendes  Resultat  für  die  Wider- 
stände in  Ohm: 


Hauptstellung 

Zwischenstellung 

A     .     . 

.      .      .     433 

.      .      222 

B 

...        94 

.     .       86 

34 1 


Hauptstellung 

Zwischenstellung 

c 

.     .        77 

D 

...       76 

,     .      .        75 

E 

.     .     .       77 

.     .     264 

F 

.     .     .     471 

.     .     463 

A     .     . 

.     .     .     433 

Wie  man  sieht,  bestätigt  sich  die  Folgerung  der 
Theorie  für  die  Polarisation  der  elektromagnetischen 
Schwingungen  in  den  Versuchen  A  bis  E,  wogegen  aber 
bei  F  erwartet  werden  sollte,  dass  die  Wirkung  fast  un- 
gestört sich  ausbreiten  sollte.  Es  ist  das  ein  Punkt, 
wo  die  Analogie  mit  den  Lichtstrahlen  nicht  mehr  auf- 
recht erhalten  werden  kann,  wie  bereits  die  Herren 
Prof.  Hagenbach-Bischoff  und  Zehnder  bei  ihrer  Wieder- 
holung der  Hertz'schen  Versuche  es  bemerkt  hatten 1). 
Diese  Sache  ist  in  innigem  Zusammenhang  mit  den 
im  nächsten  Abschnitt  zu  besprechenden  Versuchen, 
so  dass  wir  auf  dieselbe  noch  einmal  zurückkommen 
werden. 

TIT. 

Interferenz  direkter  und  an  einer  metallischen  Wand 

reflektierter  elektrischer  Strahlen. 

Beim  Nachforschen  nach  weitern  Analogien  sind  es 
sodann  die  Interferenzerscheinungeu,  welche  Gegenstand 
vielfacher  Untersuchungen  geworden  sind.  Man  hat  sich 
bemüht,    das  Phänomen   der   Fresnel'schen    Spiegel    mit 


})  Hagenbach  >/.  Zehnder,  Die  Natur  der  Funken  bei  den 
Eertz'schen  elektrischen  Schwingungen,  Wied.  Ann.  Bd.  XLIIT 
p.  610,  (1891). 


—      342     — 

elektrischen  Strahlen  zu  reproduzieren  und  insbesondere 
seine  Modifikation  nach  Lloyd,  welche  nur  eines  einzigen 
Spiegels  bedarf.  Die  Einfachheit  dieser  zweiten  Dis- 
position Hess  uns  hoffen,  auch  hier  mit  der  Methode 
des  Kohärers  einen  Beleg  für  die  betreffenden  Folge- 
rungen aus  der  Theorie  zu  erhalten.  Von  Herrn  Righi 
wurde  in  seinem  bekannten  Buche,  unseres  Wissens 
zum  ersten  Male  in  dieser  Absicht,  dieser  Versuch  be- 
schrieben 1).  Wir  haben  uns  an  die  von  diesem  Gelehrten 
angegebenen  Verfahren  zur  Produktion  von  Schwingungen 
gehalten,  indem  wir  nach  seinen  Angaben  einen  Oscil- 
Iator  konstruierten,  der  eine  Wellenlänge  von  10,6  c 
liefern  sollte.  Zwei  messingene  Vollkugeln  von  3,75  c 
Durchmesser  waren  in  isolierenden  Ringen  so  montiert, 
dass  ihr  Abstand  genau  reguliert  werden  konnte.  Durch 
zwei  seitliche  längere  Funken  wurde  dem  System  die 
Ladung  zugeführt.  Die  Axe  dieses  Oscillators  stand 
wieder  parallel  mit  der  des  Kohärers,  und  es  wurde 
immer  zuerst  bewerkstelligt,  dass  nur  der  mittlere  kleine 
Funke  wirksam  war,  während  die  beiden  grossen  Ladungs- 
lünken  wirkungslos  blieben.  Hiezu  verband  man  die 
grossen  Kugeln  metallisch  durch  einen  eingepressten 
Metallkeil  und  vergrösserte  einerseits  die  Ladungsfunken 
während  man  andererseits  die  Empfindlichkeit  des  Ko- 
härers verkleinerte  bis  keine  Wirkung  mehr  bemerklich 
war.  Darauf  wurde  der  Metallkeil  entfernt  und  der 
mittlere  Funke  auf  günstigste  Wirkung  eingestellt.  Die 
Reflexion  geschah  an  einer  ebenen  Zinktafel  von  2  m 
Länge  und  1  m  Breite,  die  mit  der  längern  Seite  pa- 
rallel der  Grundlinie  gestellt  war.  Kohärer-  und  Os- 
cillatoraxe  waren  der  Ebene  parallel,  und  letztere  war 
parallel  verschiebbar.     Es   bedeutet  A   in  Figur   4   der 

]J  A.  Righi,  Die  Optik  der  elektrischen  Schwingungen,  deutsch 
von  B.  Dessau,  p.  91. 


343     — 

Erreger,  B  der  Empfänger,  deren  Axen  senkrecht  zur 
Papierehene  seien  und  T  die  Blechtafel,  deren  Ebene 
auch  senkrecht  zur  Zeichenebene  sei. 


Figur  4. 

Es  sei  d  der  Abstand  des  Kohärers  vom  Oscillator, 
h  der  Abstand  des  Spiegels  von  der  Grundlinie.  Dann 
ist  der  geometrische  Wegunterschied  eines  direkten  und 
eines  reflektierten  Strahles: 


A  =  V  d2    l    4  h*  —  d 


woraus:  h  =  £  \  j-  +  2 dz/ 

Daraus  lassen  sich  die  Distanzen  h  berechnen,  für 
welche  Maxima  oder  Minima  der  Wirkung  eintreten 
sollten.  Unter  Berücksichtigung,  dass  bei  der  Reflexion 
an  der  metallischen  Wand  eine  halbe  Wellenlänge  ver- 
loren geht,  sollten  wir  haben  : 

Maxima  für  A  =  *     3  i     5  j     ... 

Minima  für    J  =      *        2  A      Sä     ... 

Berechnet  man  diese  Distanzen  h  bei  Zugrunde- 
legung der  Wellenlänge  l  =  10,6  c  und  des  Abstandes 
d  =  400  c,  so  ergeben  sich  folgende  Werte  in  c  : 

Maxima  für  h  =    83     57     74     88     101   ..  . 

Minima  für   h  =        46     68     81     94  .  .  . 

Bei  der  Anstellung  der  Versuche  haben  wir  die 
Distanz  h  von  10  zu  10  c  wachsen  lassen.  Trotz  einer 
sehr  grossen  Anzahl  von  Wiederholungen  konnten  wir 
das  erhoffte  Interferenzphänomen  nicht  wiederfinden. 
Alle  Versuche  ergaben  Resultate  mit  demselben  Cha- 
rakter und  folgende  herausgegriffene  Versuchsreihe  giebt 


344 


Mit  Blechtafel. 

Widerstand 


deren  Typus  wieder.    Die  Distanzen  h  sind  in  c    ange- 
geben, die  Widerstände  in  Ohm. 
Ohne  Blechtafel. 

224  ^_ 

0  953 

10  1860 

20  754 

30  370 

40  290 

50  1 70 

60  131 

70  98 

80  133 

90  134 

100  230 
Die    graphische   Darstellung   dieses   Ergebnisses    in 
Figur    5    giebt    ein    deutliches   Bild    des    Verlaufes    der 
Erscheinung. 

1400 


J2oo 

1000 
XQ6 
600 
M  09 
200 





20 


30 


uo      fo 
Figur  5. 


6o     ?o      8o     so 


100 


345 


Die  horizontale  Gerade  in  der  Höhe  224  giebt  die 
Wirkung  an,  wenn  das  Blech  fortgenommen  ist.  Am 
Anfang,  d  =  0,  schneidet  das  Blech  die  Strahlen  stark 
ah,  oder  ahsorhiert  sie  stark.  Bei  d  =  10  ist  diese  Ab- 
sorption noch  gesteigert  und  nimmt  hernach  wieder  ab 
bis  d  =  40,  wo  die  Wirkung  mit  Blech  gerade  gleich 
derjenigen  ohne  Blech  geworden  ist.  Die  Tafel  ist  dort 
ganz  wirkungslos.  Bei  weiterem  Entfernen  des  Schirmes 
tritt  nunmehr  eine  Verstärkung  ein,  bis  etwa  bei  d  =  70 
ein  Maximum  der  Wirkung  eintritt.  Dann  lässt  diese 
Verstärkung  wieder  nach,  und  bei  d  =  100  ungefähr  ver- 
schwindet wieder  der  Effekt  der  Tafel.  Weiter  hinaus 
zeigte  sich  dann  auch  kein  EinMus-s  derselben  mehr. 
Wie  man  sieht,  trägt  diese  Kurve  durchaus  nicht  den 
Charakter,  den  sie  aufweisen  müsste,  wenn  man  hier 
wirklich  eine  dem  Lloyd'schen  Versuch  der  Optik  ana- 
loge Erscheinung  hätte.  Berücksichtigt  man  nämlich  die 
vorhin  berechneten  Distanzen  h  für  Maxima  oder  Minima, 
so  sollte,  zunächst  ganz  abgesehen  von  der  merkwürdigen 
Schwächung  bei  h  =  0,  die  Kurve  nach  einer  Verstär- 
kung hinsteuern  und  nicht  nach  einer  Schwächung,  also 
hinunter  und  nicht  hinauf  gehen.  Da  ferner  mit  wach- 
sender Entfernung  h  die  Maxima  und  Minima  immer 
näher  zusammenrücken,  so  sollten  die  Schnittpunkte  der 
Kurve  mit  der  horizontalen  224  die  Tendenz  haben,  in 
immer  kleinern  Intervallen  aufeinander  zu  folgen  und 
nicht,  wie  es  hier  zu  sein  scheint,  immer  mehr  ausein- 
ander zu  rücken.  Mit  andern  Worten,  die  Kurve  sollte 
nicht  so  flach  sich  hinausziehen,  wie  sie  es  thut. 

Aus  diesem  den  Forderungen  der  Theorie  nicht 
entsprechenden  Resultat  könnte  man  nun  entweder 
schliessen,  dass  die  Methode  des  Kohärers  im  betrach- 
teten Falle  unzureichend  ist,  oder  aber,  dass  die  zu  den 
Erscheinungen  der  Optik  erhofften  Analogien  bei  den 
elektromagnetischen    Schwingungen     noch    in    gewissen 


346 


Punkten  Lücken  aufweisen,  deren  genaue  Konstatation 
und  Erforschung  von  grosser  Tragweite  sein  kann.  Ohne 
entscheidend  hier  antworten  zu  wollen,  wozu  vorerst  noch 
parallele  Versuche  etwa  mit  der  Methode  des  Bolometers 
notwendig  wären,  möchten  wir  doch  dahin  neigen,  dass 
man  bis  heute  noch  nicht  von  einer  vollständigen  und 
durchgreifenden  Analogie  zwischen  beiden  Arten  von 
Strahlungen  überzeugt  sein  darf.  Avas  uns  hiezu  bewegt, 
ist,  dass  die  Methode  des  Kohärers  in  den  beiden  vor- 
hergehenden Aufgaben  Resultate  ergab,  welche  mit  den 
Versuchsergebnissen  bewanderter,  mit  andern  Methoden 
operierender,  Experimentatoren  in  guter  Übereinstimmung 
stehen.  Dieses  spricht  zu  Gunsten  des  hier  angewendeten 
Verfahrens  und  lässt  es  als  das  Wahrscheinlichste  er- 
kennen, dass  bei  unserem  letzten  Versuche  thatsächlich 
die  Analogie  versagt. 

Um  sich  nun  über  die  hier  vorliegende  Erscheinung 
Rechenschaft  zu  geben,  könnte  man  vielleicht  folgender- 
massen  verfahren,  indem  man  sich  mehr  auf  den  Boden 
der  alten  Elektrizitätslehre  stellt.  Fassen  wir  den  Os- 
cillator  als  Zentrum  einer  Energieaustrahlung  auf,  so  ist 
es  ein  ganz  bestimmtes  Bündel  von  Energiestrahlen, 
welche  die  Wirkung  auf  den  Kohärer  vermittelt,  wenn 
noch  keine  Blechtafel  da  ist.  Wenn  nun  das  Blech  in 
irgend  eine  der  Lagen  des  Versuches  gebracht  wird,  so 
werden  in  elementaren  Streifen,  aus  welchen  das  Blech 
gebildet  gedacht  werden  kann,  Ströme  induziert.  Dieses 
wird  auf  Kosten  auch  eines  gewissen  Kegels  von  Energie- 
strahlen geschehen,  wodurch  immer  eine  gewisse  Ab- 
sorption von  Energie  bedingt  sein  wird.  Die  Elementar- 
streifen des  Bleches  können  nun  ihrerseits  wieder  auf 
den  Kohärer  induzierend  wirken.  Heissen  wir  diese 
Wirkung  die  sekundäre,  während  wir  unter  der  primären 
diejenige  verstehen,  welche  direkt,  ohne  Vermittlung  des 
Bleches,  vom  Oscillator  auf  den  Kohärer  ausgeübt  wird. 


—     :547      — 

Liegt  nun  die  Tafel  so,  dass  li  =  0  ist,  so  schöpft  die 
Tafel  ihre  Energie  direkt  aus  dem  primären  Kegel.  Die 
primäre  Wirkung  ist  schon  ziemlich  stark  vermindert. 
Es  werden  in  der  Tafel  aber  nur  in  den  dem  Oscillât« >r 
zunächst  liegenden  Streifen  Ströme  induziert  und  in  den 
andern  nicht,  weil  diese  letztern  vom  Oscillator  nicht 
„gesehen"  werden.  Die  sekundäre  Wirkung  der  in  den 
erstem  Streifen  induzierten  Ströme  kommt  aber  kaum 
zur  Geltung ,  weil  sie  ihrerseits  den  Kohärer  nicht 
„sehen".  Die  Gesamtwirkung  ist  also  eine  sehr  merklich 
geschwächte.  Bringen  wir  jetzt  die  Tafel  auf  h  =  10, 
dann  absorbiert  sie  immer  noch  aus  dem  primären  Kegel 
Energie,  aber  jetzt  viel  mehr  als  vorhin,  denn  alle 
Elementarstreifen  werden  jetzt  vom  Oscillator  „gesehen", 
und  es  wird  in  allen  induziert.  Die  vermehrte  Absorption 
hat  eine  noch  bedeutendere  Schwächung  der  primären 
Wirkung  zur  Folge.  Die  sekundäre  Wirkung  ist  jetzt 
gegen  vorher  gesteigert,  aber  sie  ist  nicht  imstande,  die 
Schwächungszunahme  ganz  aufzuheben.  Die  Gesamt- 
wirkung sinkt  also  noch  tiefer  als  vorher,  und  das  er- 
klärt, dass  die  Kurve  jetzt  höher  steht  als  vorhin.  Gehen 
wir  mit  dem  Blech  auf  h  =  20,  so  hat  die  Tafel  langsam 
begonnen,  aus  dem  primären  Kegel  herauszutreten  und 
hat  angefangen,  einen  Teil  ihrer  Induktionsströme  aus 
einem  andern  Kegel  zu  schöpfen.  Die  noch  geschwächte 
primäre  Wirkung  ist  im  Wachsen  begriffen  und  die  se- 
kundäre unterstützt  sie,  die  Gesamtwirkung  hat  also 
wieder  zugenommen.  Bei  h  =  40  zieht  die  Tafel  immer 
noch  zum  Teil  den  primären  Kegel  in  Mitleidenschaft 
und  die  primäre  Wirkung  hat  noch  nicht  ihre  volle  Höhe 
wieder  erreicht.  Die  sekundäre  Wirkung  aber,  die  zum 
Teil  aus  einem  neuen  Strahlenkegel  Energie  schöpft,  der 
mit  dem  primären  nichts  gemein  hat.  ist  gerade  hin- 
reichend, um  die  Gesamtwirkung  auf  das  volle  Mass  der 
direkten  Wirkung  zu  bringen,    welche    stattfindet,    wenn 


—     348     — 

gar  kein  Blech  da  ist.  Die  Kurve  schneidet  also  hier 
die  horizontale  Linie,  welche  diese  letztere  Wirkung  dar- 
stellt. Gehen  wir  nun  auf  h  =  50,  so  nimmt  die  Tafel 
immer  noch  etwas  vom  primären  Kegel  in  Anspruch  und 
schwächt  noch  um  etwas  die  primäre  Wirkung.  Hiezu 
kommt  aber  die  immer  noch  sehr  merkliche  sekundäre 
Wirkung  der  Tafel,  die  ihre  Energie  aus  einem  Kegel 
schöpft,  der  nur  noch  sehr  weniges  mit  dem  primären  ge- 
mein hat.  Die  Gesamtwirkung  ist  grösser  als  ohne  Blech. 
Bei  h  =  70  hat  die  additive  sekundäre  Wirkung  ihren 
Höhepunkt  erreicht,  ebenso  die  primäre  und  hiemit  auch 
die  Gesamtwirkung.  Die  Kurve  steht  dort  am  tiefsten. 
Lässt  man  h  noch  mehr  wachsen,  so  bleibt  jetzt  die 
primäre  Wirkung  ungeändert  auf  ihrer  vollen  Höhe, 
während  die  sekundäre  wegen  der  wachsenden  Entfer- 
nung beständig  abnimmt,  bis  sie  schliesslich  sich  der 
Beobachtung  entzieht.  Die  Kurve  wird  sich  wahrschein- 
lich asymptotisch  der  Horizontalen  224  nähern. 

Auf  diese  Weise  lässt  sich  vielleicht  das  eigentüm- 
liche Ergebnis  unseres  letzten  Versuches  erklären.  Die 
dem  Gedankengang  zu  Grunde  liegende  Zerlegung  der 
Blechtafel  in  elementare  Streifen  senkrecht  zur  Grund- 
linie mag  dadurch  gerechtfertigt  sein,  dass  wir  auch 
einen  Versuch  anstellten,  wo  an  Stelle  der  Tafel  das 
früher  benutzte  Gitter  mit  entsprechender  Orientation 
der  Drähte  gebraucht  wurde.  Zum  Schlüsse  mag  noch 
erwähnt  sein  erstens,  dass  die  vollständige  Neutralität 
des  Gitters  festgestellt  wurde,  wenn  dasselbe  als  „reflek- 
tierende Wand"  benützt  wurde,  indem  die  Drähte  parallel 
der  Grundlinie  verliefen,  und  zweitens,  dass  eine  Blechtafel 
ebenfalls  keine  Wirkung  zeigt,  wenn  die  Oscillatoraxe 
auf  ihrer  Ebene  senkrecht  steht. 


Basel,  Physikalisches  Institut  der  Universität.  Nov.  1902. 


Rheticus  und  Paracelsus. 

Von 
Karl  Sudhoff. 


Als  Hohenheim  in  Salzburg  die  Augen  schloss,  war 
eben  zu  Basel  bei  Robert  Winter l)  der  für  den  süddeutschen 
Vertrieb  bestimmte  Abdruck  der  ersten  Schrift  des  da- 
mals 27jährigen  Georg  Joachim  Rheticus  über  des  grossen 
Copemicus  unsterblich  Werk  erschienen,  die  „Narratio 
prima"  .  .  „de  libris  revolutionum  Doetoris  Nicolai  To- 
runnsei  Canonici  Varmiensis,"  in  Form  eines  Send- 
schreibens an  den  Nürnberger  Mathematiker  Johannes 
Schöner,  welches  einen  Schleier  nahm  von  den  Augen 
der  Menschheit  —  als  Hohenheim  schon  zum  ewigen 
Schauen  eingegangen  war.  Das  Lebenswerk  des  Co- 
pernievs  selber  wurde  erst  zwei  Jahre  später  ausge- 
geben ;  sein  sterbend  Auge  hat  das  erste  fertige  Exem- 
plar noch  am  Morgen  des  Todestages  gestreift.  — 

Wohl  wusste  man  schon  seit  einigen  Jahren  in  ein- 
geweihten Kreisen  von  der  grossen  wissenschaftlichen 
That  des  Frauenburger  Domherrn  und  die  staunener- 
weckende Kunde  drang  langsam  in  immer  weitere  Kreise; 
aber  in  die  weltfernen  Alpenthäler,  in  welchen  Hohen- 
heim die  letzten  Jahre  seines  Lebens  verbrachte,  war 
kaum  ein  Laut  von  dieser  grossen  geistigen  Umwälzung 
gekommen,  welche  die  „libriVI  de  revolutionibus"  bringen 
sollten. 


1)  Nicht  Georg  "Winter,  wie  Leopold  Prowe  in  seinem  „Nicolaus 
Coppernicus  1.  Band.  Das  Lehen  II.  Theil,  Berlin  1883,"  S.  427 
Anin.  schreibt;  einen  Basler  Drucker  namens  Georg  Winter  hat  es 
im    16.  Jahrhundert  überhaupt  nicht  gegeben. 


350 


Und  doch,  wer  sich  nachdenkend  in  die  Weltan- 
schauung Hohenheims  zu  versenken  versucht  hat,  wer 
gar  seine  astronomischen  Schriften  trotz  der  Sprödig- 
keit  ihrer  Form  und  des  fliegenden  Geistes  ihrer  Spe- 
kulationen oder  ihrer  mystischen  Seitensprünge  auf  sich 
hat  wirken  lassen,  der  wird  sich  unwillkürlich  die  Frage 
vorgelegt  haben,  wie  hätte  Hohenhcim,  wenn  er  sie  er- 
lebt hätte,  zu  den  Offenbarungen  des  Copernims  sich 
gestellt.  Hätte  der  redliche  Wahrheitssucher  auf  allen 
naturwissenschaftlichen  Gebieten,  dem  beispielsweise  in 
der  Chemie  so  mancher  Blick  hinter  den  Schleier  der 
Maja  glückte,  hätte  er  die  neuen  astronomischen  Wahr- 
heiten sofort  mit  offenen  Armen  aufgenommen,  mit  kon- 
genialem Verständnis  erfasst? 

Wenn  diese  Frage  auch  ewig  ohne  Antwort  bleiben 
muss,  so  wird  doch  das  gleichzeitige  Ringen  der  beiden 
Männer  nach  naturwissenschaftlicher  Erkenntnis  immer 
wieder  den  denkenden  Historiker  der  Natur-  und  Heil- 
kunde fesseln  und  zum  Vergleich  herausfordern. 

Denen  aber  unter  den  heutigen  Historikern  der 
exakten  Naturwissenschaften,  welche  etwa  einen  Coper- 
nicus,  einen  Galilei  nachschaffend  neu  erstehen  lassen 
wollen,  und  die  Lippen  spöttisch  schürzen,  wenn  man 
neben  ihren  Grössen  den  genialen  Einsiedler  auch  nur 
zu  nennen  wagt,  denen  gebe  ich  zur  Erwägung,  dass 
Hohenheim  in  seiner  Auffassung  von  der  Chemie  —  und 
um  diese  Naturwissenschaft  handelt  es  sich  bei  ihm  ja 
vor  allem  —  jeglichem  alchemistischen  Krimskrams  un- 
endlich viel  vorurteilsfreier  gegenüberstand  als  etwa  die 
grossen  Astronomen  neben  und  nach  ihm  den  astro- 
logischen Hirngespinsten!  —  — 

Aber  die  Brandmale  der  Verkennung  und  Ver- 
leumdung haben  sich  im  Laufe  der  Jahrhunderte  zu  tief 
in  das  historische  Antlitz  des  Paracelsus  hineingebrannt, 


—     351     — 

als  dass  auch  die,  welche  sich  frei  von  der  Wirkung 
aller  Schlagworte  glauben,  durch  dieselben  hindurch  oder 
daran  vorbei  sehen  könnten. 

Wer  jedoch  eine  gerechte  Beurteilung  Hohenheims 
anbahnen  will,  darf  sich  daran  nicht  stossen,  darf  sich 
auch  durch  das  Gekläff  der  kleinen  Geister  der  konserva- 
tiven Schulmeute  des  16.  Jahrhunderts  das  geistige  Ohr 
nicht  stumpf  machen  lassen,  sondern  muss  auf  Hohenheim 
selbst  und  auf  die  wenigen  Grossen  nach  ihm  hören,  die 
aus  ihrem  eigenen  Geistesringen  heraus  für  die  ver- 
wandten Stimmen  anderer  Wahrheitskämpfer  im  wirren 
Marktgeschrei  der  Tagesgrössen,  der  Zeit-  und  Schul- 
gemässen  selber  feinhörig  geworden  waren,  die  gleich 
einem  Tycho  Brake,  oder  Giordano  Bruno  Verständnis 
gewonnen  hatten  für  das  weltumspannende  Neue,  das 
Paracelsus  geschaut  und  gedacht  hat.  —  —  — 

Heute  will  ich  nur  den  Einfluss,  welchen  Hohen- 
heim auf  Einen  von  ihnen  ausgeübt  hat,  aufdecken, 
auf  den  Herold  der  Copernicanischen  Wahrheitskündung, 
den  man  vielleicht  nicht  zu  den  „Grossen"  im  strengsten 
Sinne  rechnen  darf,  dem  aber  im  Nachschaffen  Coper- 
nicanischer  Grösse  der  Sinn  erwacht  war  für  das  wahr- 
haft Bedeutende  auch  auf  anderen  Gebieten. 

Ist  doch  die  Geschichte  der  Einwirkung  Hohen- 
heims  auf  seine  Zeitgenossen  und  Nachlebenden  noch 
von  grundauf  zu  schaffen  —  hiermit  ein  Steinchen  zu 
diesem  Bauwerk! 


In  den  »ONOMASTICA  IL,"  welche  der  federfertige 
Hagenauer  Paracelsist,  weiland  Schulmeister  und  poëta 
laureatus  Michael  Schütz,  genannt  Toxilcs,  im  Jahre  1574 
in  Gemeinsamkeit  mit  Johann  Fischart,  dem  Dichter 
und    „Schriftführer   der    deutschen  Nation,"    bei    dessen 


—    :j52    — 

Schwager  Bernhard  Jobin  in  Stras sburg  hatte  erscheinen 
lassen,  findet  sich  im  zweiten  Teile,  dem  „Onomasticon 
Theophrasticum,"  auf  Seite  430  bei  der  Erklärung  des 
Wortes   „Elixir"   folgende  Zwischennotiz: 

„Edemus  autem  hreui  publicse  vtilitatis  gratia  Arc/ii- 
doxa  in  latin  am  linguain,  à  viro  clarissimo  et  doctiss. 
Georgio  Ioachimo  R/mtico  meclicinae  Doctore  prsestantiss. 
et  mathematico  sumrao  optime  conuersa.  ut  externe  na- 
tiones  melius  iudicare  de  Theophrasti  doctrina  possint. 
Gerardi   enim    Dorm)    versio    plurimis    in    locis    vitiosa 

est  ..." 

Der  erste  Apostel  des  grossen  Meisters  Copernicus, 
ein  lateinischer  Interpret  der  Paracelsischen  Jugendschrift 
„Archidoxa"!  —  Man  kann  sich  denken,  wie  ich  stutzte, 
als  ich  diese  Nachricht  zum  ersten  Male  las.  Ein  Zweifel 
an  ihrer  Authentizität  konnte  nicht  statthaben;  noch 
war  ja  der  fähige  Schüler  des  Frauenburger  Domherrn 
am  Leben1)! 

Es  lässt  bei  Rheticus  ein  grosses  Interesse  an  der 
Paracelsischen  Reform  der  Heilkunde  voraussetzen,  wenn 
er  sich  entschloss,  das  lange  verborgene,  lange  verloren 
geglaubte  Handbuch  der  Hoheiiheim'schvn  chemischen 
Arzneibereitungslehre,  das  seit  dem  Ende  des  Jahres 
1569  in  zahlreichen  Ausgaben  an  die  Öffentlichkeit  ge- 
treten war  -  jeder  der  bekannten  Paracelsuseditoren 
und  Paracelsusverleger  in  Strassburg,  in  Basel,  in  Köln, 
in  München  musste  seine  Archidoxen-Edition  haben!  — 
in  korrekterer  Form  als  bisher  in  die  Sprache  der  ge- 
lehrten AVeit  zu  kleiden. 

Die  noch  so  wenig  aufgehellten  Lebensschicksale 
des  Rheticus  in  seinem  letzten  Jahrzehnt  lassen  einst- 
weilen keine  Begründung  für  die  naheliegende  Vermutung 


!)  Rheticus    starb    zu    Kaschau    in    Ungarn    am   i.    Dezember 
1576. 


;;5:{ 


zu,  dass  er  vielleicht  schon  vor  ihrem  Erscheinen  im 
Druck  die  Archidoxen  gekannt  und  übersetzt  habe,  dass 
il  m  etwa  der  schlesische  Dichter  am  polnischen  Königs- 
hofe, Adam  Schröter  in  Krakau,  der  das  Buch  1569  bei 
Mathias  Wirzbieta  in  blühendem  Latein  erscheinen  liess, 
damit  bekannt  gemacht  habe.  Oder  sollte  Rheticus  auch 
mit  dessen  Übersetzung,  welche  die  offizielle  Klique  der 
Paracelsusschüler  und  -Herausgeber  trotz  ihrer  kleinen 
Häkeleien  untereinander  mit  beachtenswerter  Einmütig- 
keit totschweigen,  nicht  zufrieden  gewesen  sein? 

Adam  Schröter  hatte  sich  der  Gunst  des  Albert 
Laski  (a  Lasko)  zu  erfreuen  und  auch  Rheticus  stand 
mit  der  Familie  der  Laski  in  naher  Beziehung,  wie  wir 
noch  sehen  werden.  Ob  Mitglieder  des  Adam  Schröter'' schvn 
Freundeskreises  in  Polen  wie  die  Gutteter  in  Krakau, 
Johannes  Gregorius  Macer  oder  der  Lubliner  Arzt  Ru- 
pertus  Finck  im  Leben  des  Rheticus  eine  Rolle  gespielt 
haben,  bleibt  künftiger  Forschung  anheimgegeben.  Ob 
irgendwo  handschriftliche  Spuren  der  von  Toxites  ge- 
sehenen Umgewandung  des  ältesten  Leitfadens  einer 
pharmazeutischen  Chemie  durch  Georg  Joachim  von 
Lauchen  heute  noch  vorhanden  sind,  konnte  ich  nicht 
in  Erfahrung  bringen  ;  doch  sind  mir  noch  andere  Zeug- 
nisse für  das  lebhafte  Interesse,  das  Rheticus  für  Hohen- 
heim  hegte,  zu  Händen  gekommen. 


Bekanntlich  hat  der  gelehrte  Ilfelder  Schulrektor 
Michael  Neander(*l525,-fl595)im  Jahre  1583,  „ISLEBLT 
Imprimebat  Vrbanus  Gubisius,"  in  8°  eine  „ORBIS 
TERRAE   PARTI VM    SVCCINCTA   EXPLICATIO" 

(212    unnumerierte  Bll.)    erscheinen    lassen,    in  welcher 
er  —  wie  unter  „Bruxelhv  vom  Tode  des  grossen    Ve- 

23 


—     354     — 

.salins  —  so  unter  der  Rubrik  „Palatinatus,  die  Pfaltz, 
Vrbs  Heidelberga"  von  dem  dortigen  „grossen"  Pro- 
fessor der  Medizin  Thomas  ErastUS  und  seiner  Be- 
kämpfung der  Paracelsiscben  Lebren  in  dem  vierbändigen 
Werke  der  „üisputationes"  bericbtet.  Derart  über 
Hobenbeim  zum  Worte  gelangt,  kramt  der  gewissenhafte 
Schulmann  nun  seine  ganze  Weisheit  über  Paracelsus 
unter  der  Spitzmarke  „Heidelberg"'  fein  säuberlich  und 
gewissenhaft  aus.  Ja  in  den  späteren  Auflagen  von  1586 
und  1589  (beide  in  Leipzig  in  8°  erschienen)  finden  sich 
über  den  Wundermann  noch  viel  Seiten  lange  Zu- 
thaten. 

Doch  schon  in  der  ersten  Auflage  dieses  Werkes 
findet  sich  ein  für  uns  wichtiges  Brieffragment  des  Rhe- 
ticus, das  Neander  folgendermasseu  einführt:  „.  .  addimus 
huc  partem  Epistohe ,  quam  Rheticus  professor  olim 
Matbematum  in  Accademia  Lipsensi,  et  post  hac  Cro- 
cauiensi  [!],  ubi  etiam  anno  superiori  diem  suum  obijt, 
scripsit  de  Theophrasto  ad  virum  quendam  doctrinse 
multiplicis  et  meritorum  ergo  in  républicain  literariam 
per  uniuersam  Europam  clarissimum,  communicatani  nobis 
à  pietate,  doctrina  varia,  ingenio  atque  industria  maximo 
domino  Ioanne  Reiffenstein.  patritio  Stolbergensi,  nostri 
semper  studiosissimo  et  amantissimo  .  ."  Also  dem  Stol- 
berger  Honoratioren  Johann  Reiffenstein  verdankt  Ni  - 
ander  einen  Brief  des  Rheticus  an  eine  ungenannte 
wissenschaftliche  Grösse  jener  Zeit,  der  folgen dermass en 
lautet  : 

„Nostramedicinanon  estGeometria,  quse  semper 
suum  finem  assequatur.  Quantö  enim  plus  in  ea 
proficio,  tantö  plus  in  ea  desidero.  Credo  eam 
posse  cognosci,  si  idoneos  prseceptores  habere  mus. 
qualem  unicum  agnosco  Hippocratem,  in  reliquis 


—     355     — 

ut  plurimum  pärollas1)  habemus.  Femelius  per 
destillandi  artem  inuenit  eam  rationem,  ut  omnem 
quartanam  unico  haustu  curauerit,  sed  is  obijt. 

Paracelsus  nostri  seculi  Theophrastus  similia 
miracula  mnlta  praestitit,  de  quibus  certo  constat. 
Cum  Albertus  Basa  Polonise  régis  medicus  ex  Italia 
rediret,  diuertit  ad  Paracelsum,  qui  tum  temporis 
ad  Sancti  Viti  urbem  agebat.  Accessit  cum  Theo- 
phrastô  segrotum,  quem  supervicturum  paucis  lioris 
affirmabant  omnes  ex  casu  virtutis,  et  pulsus  de- 
fectu,  laborante  etiam  pectore.  Ibi  Theophrastus 
idem  affirmabat  fore  secundum  Humoristarum  ar- 
tem medicam,  sed  facile  restitui  posse  ex  vera 
arte,  quam  Dens  in  natura  occultauerit,  atque 
aegrum  in  crastinum  ad  prandium  invitauit,  pro- 
ducto  igitur  quodam  destillato  trium  guttarum, 
quod  illi  in  vino  exhibuit,  restituit  hominem,  ut 
ea  nocte  conualuerit,  et  sequenti  die  comparuerit 
in  hospitio  Theophrasti  sanus  maximo  omnium 
miraculo.  Cum  humsmodi  multa  ex  Bei  béné- 
ficie) faceret,  nihil  nisi  cahimnias  et  obtrecta- 
liones  assecutus  est." 

Hfcc  Rheticus  "-'). 

So  spricht  oder  schreibt  doch  nur,  wer  von  der 
Grösse  der  ärztlichen  Kunst  Hohenheims  für  seinen 
Teil  fest  überzeugt  ist! 

Dabei  verdient  es  volle  Beachtung,  dass  Rheticus 
sich  neben  Hohenheim  nur  auf  seinen,  als  Neuerer  ver- 


!)  „Hohlköpfe"  ;  in  parolla  eig.  kleines  Geschirr  („lebes  minor" 
Du  Canye),  vergl.  niederrheinisch  „Düppen"  für  Dummkopf. 

-)'l.  c.  1583  ßl.  JV;  1586  Bl.  Gs>:  1589  Bl.  5Gb-57a. 


356     — 

schrienen,  Zeitgenossen  Jean  Fernel  (-j-  1558)  beruft, 
der  von  Hohenheim  bis  zu  einem  gewissen  Grade  be- 
einflusst  war,  und  bei  ihm  auch  noch  gerade  ein  che- 
misches Heilmittel  rühmend  hervorhebt.  Man  darf  ferner 
nicht  übersehen,  dass  Rheticus  —  ganz  paracelsisch!  — 
von  den  Alten  einzig  den  Hippokrates  als  Lehrmeister 
noch  weiter  gelten  lassen  will,  Galenos  und  Avicenna 
aber  völlig  bei  Seite  lässt  oder  verwirft,  auf  welche  sein 
astronomischer  Lehrmeister  Copernicus  noch  so  grosse 
Stücke  hielt. 


Ein  weiteres  direktes  Zeugnis  für  den  Einfluss, 
welchen  Hohenheim'1  sehe  Gedanken  auf  den  geistvollen 
Vorarlberger  Mathematiker  und  Arzt  ausgeübt  haben, 
linden  wir  in  einem  langen  Schreiben  des  Georg  Joachim 
Rheticus,  das  an  einer  allenthalben  leicht  zugänglichen 
Stelle  abgedruckt  ist  und  trotzdem  Allen  entgangen  zu 
sein  scheint,  welche  sich  in  den  letzten  Jahrzehnten 
mit  seinem  Leben,  Denken  und  Schaffen  näher  beschäftigt 
haben.  Melchior  Adam  in  seinen  „Vitae  Germanorum 
Philo sophorum"  *)  weist  auf  diese  Quelle  hin  und  Sieg- 
mund Günther'2)  hat  offenbar  eine  recht  dunkle  Kunde 
davon  erhalten,  wie  die  Titel  angeblicher  ungedruckter 
Werke  aus  dem  Nachlass  des  Rheticus  darthun,  über 
welche  „der  Pole  Casiciusu  berichten  soll. 

Josias  Simler,  der  Schüler  und  Biograph  Konrad 
Gesner's  teilt  1574  in  der  ihres  ursprünglichen  Reizes 
beraubten  „Epitome"  der  Gesner'schen  „Bibliotheca 
universalis"  (von  15-45)  einen  Brief  mit,  den  unser  Rhe- 
ticus 1568  an  den  berühmten  Gegner  der  aristotelischen 


i)  Ed.  III.  Francofurti  ad  Mcenum  1706  Fol".  S.   136 
2j  Allg.  Deutsche  Biographie  Bd.  28.  S.  390. 


—     357     — 

Philosophie,  Pierre  La  Ramée  (Petrus  Raums)  in  Paris 
gerichtet  hat1). 

In  diesem  Briefe  an  den  Pariser  Philosophen  und 
Mathematiker  entrollt  Rheticus,  8  Jahre  vor  seinem 
Tode,  eine  lange  Liste  seines  literarischen  Schaffens  — 
Vollendetes  und  Geplantes  —  und  entwickelt  gleichzeitig 
die  Grundgedanken,  welche  ihn  bei  seinen  wissenschaft- 
lichen Arbeiten  geleitet  haben,  die  er  beispielsweise  in 
die  Worte  zusammenfasse 

„  Ut  hypothesibus  artem  astronomicam  liber- 
em,  solis  contentus  observationibus." 

Doch  auch  scharf  polemisch  fixiert  er  seinen  Stand- 
punkt als  Neuerer,  als  Reformator: 

„In  his  omnibus  ego  longe  iniquior  suni  Ptole- 
mreo,  quam  tu  Euclidi,  illumque  magis  flagello 
quàm  tu  Euclidem." 

Ja  er  zieht  folgenden  bissigen  Vergleich  des  ge- 
waltigen Gebäudes  der  Ptolemäischen  Weltordnung  mit 
einem  Kinderspielzeug  : 

„Nam  sicut  se  habent  domunculse  [Häuschen] 
quas  pueri  luto  et  arena  sedificant,  ad  Vitruvii 
sedificationes,  seu  palatia  fiorentis  Romse:  ita  se 
liabent  magnae  Ptolemsei  constructiones,  quas  po- 
tins maximas  destrnctiones  appellaveris,  ad  veram 
et  solidam  de  motibus  siderum  doctrinam,  quam 
et    Aegyptiorum    Astronomiam    dixeris,    qui    suis 

l)  Petrus  Ramus  wurde  ein  Opfer  der  Bartholomäusnacht 
(1572).  —  Ich  benütze  die  vollständigste  Ausgabe  der  Gresner- 
Simler'schen  „Bibliothek,"  hrsg.  v.  Joh.  Jakob  Frisius,  Tiguri 
1583  Fol",  in  welcher  sich  das  Schreiben  des  Rheticus  an  Ramus 
S.  '270  abgedruckt  findet.  In  der  „Epitome  Bibl.  Gesner."  Tiguri 
1574  Fol-  steht  der  Brief  an  Ramus  auf  S.  228. 


358     — 

RADIIS  (qiios  Gneei  per  imperitiam  obeliscos 
vocabant)  divina  plane  mente  prsediti,  lias  traeta- 
bant  scientias,  etc.u 

Nach  dieser  kräftigen  Expektoration  fasst  Rhelicus 
seine   ganzen    Bestrebungen   unter   folgendes  Leitmotiv  : 

„Clarissime  Käme  in  Ins  subsistere  eogito, 
nisi  quod  Germanis  meis  Germanicam  Astro- 
nomiam  eondo. 

Nun  frage  ich  jeden,  der  seinen  Paracelsus  kennt: 
glaubt  man  hier  nicht  Hohenheim  reden  zu  hören?  Ist 
da  nicht  deutlich  die  Einwirkung  etwa  seines  Briefes  an 
Christoph  Clauser  zu  spüren,  von  dem  ich  nur  ein  paar 
Zeilen  hierhersetze: 

Innata  mihi  mea  est  viohntia  medica  ex  patrio 
solo:  sicut  enim  Arabum  medicus  est  Avicenna,  Perga- 
mensium  Gedemts,  Italorum  vero  Marsilius  [Ficinus] 
Mediorum  optimus  fuit  :  ita  etiam  ipsame  Germania 
ftelicissima  in  suum  Mcdicum  necessariwm 
delegit  ....  quœlibet  JSatio  suum  sibi  ■proprium  pecu- 

liarem  Medicum  producit Ucee  igitur  facultas 

ea  est  ex  qua  ego  scribo,  quam  ipsa  mihi  pa- 
tria  dedit,  idque  ipsum  per  necessitatem  quam  di.ci, 
ex  qua  prognatus  ego  sum  .  ." 

Wie  Hohenheim  auch  anderwärts  betont,  dass  er 
ein  „Pfiilosophus  nach  der  deutschen  Art"  sei. 
ist  bekannt,  ebenso  -wie  er  wissenden  Herzens  darüber 
klagt,  wie  man  ihn  verfolge:  „dass  ich  allein  hin,  dass 
ich  neu  bin,  dass  ich  deutsch  bin!11  u.  s.  w« 

Doch  kehren  wir  zu  dem  Briefe  des  Rheticus  zu- 
rück!    Es  heisst  dort  weiter: 

„In  ea  vero  parte  qiue  est  de  Effectibus  si- 
derum,    Pandeetas  Astrologie    in  ordinem  redigo. 


359 


Sed  et  eins  proprium  condidi  artem,  antiquissimis 
artis  fundamentis  exquisitis." 

Astrologische  Schwachsichtigkeiten  waren  ja  auch 
dem  so  klar  sehenden  grossen  Nicolaus  Copernicus  nicht 
fremd,  und  des  Rheücus  heliozentrische  astrologische 
Theorien  und  Abenteuerlichkeiten  sind  bekannt1),  während 
Hoheuheim  hierin  seine  besonderen  Wege  ging,  die  sich  in 
kurzen  Worten  einstweilen  nicht  skizzieren  lassen.  Es 
ist  das  auch  für  diesmal  nicht  von  nöten,  da  der  Schild- 
knappe des  Copernicus  auf  diesem  seinem  ureigensten 
Spezialgebiete  selbständig  Stellung  genommen  hatte. 

Wichtiger  ist  das  Folgende: 

,,Habeo  etiam  prse  manibus  novas  de  verum 
natura  philosophandi  rationes,  ex  sola  natura 
contemplation e,  omnis  antiquorum  scriptis 
sepositis." 

Das  ist  die  Quintessenz  der  Hohenheim'1 'sehen  Re- 
form, welche  das  „Perscrutamini  verum  naturas"  an  die 
Stelle  der  alten  Lehrmaxime  „Perßcrutathini  scripturasu 
setzte;  denn  die  Naturwissenschaft  „bedarf  min  weiter 
keines  Skribenten  mehr,  allein  Interprètes  auf  das  Buch 
der  Natur  nach  Inhalt  ihres  Textes."  Auch  für  die  Medizin 
hat  dies  „Eperientia  ac  Ratio  Auclorum  loco  mihi  suf- 
fragantur,u  wie  er  im  Baseler  Programm  betont,  unbe- 
schränkte Geltung;  denn  „die  Natur  lehrt  den  Arzt 
und  nicht  der  Mensch."  So  fährt  denn  auch  Rheticus  fort: 

„Idem  in  arte  medica  factito.u 
und  teilt  mit,  dass  er  auch,  in  der  damals  eben  erst  in 
Halme    schiessenden,    neuesten    naturwissenschaftlichen 
Disziplin,  der  Chemie,   sich  zu  vervollkommnen,  in  reger 
Arbeit  beflissen  sei: 


1)  Vgl.  z.  B.  Lcoj).  Proice.  Nicolaus  Coppernicus  1.  Bd.  II.  Teil, 
Berlin  1883  S.  401  u.  480  Anm. 


360     — 

„Et  cum  plurimum  Cheinia  délecter,  ad 
eius  artis  fundamenta  penetravi,  ut  septem  de 
ea  libros  delmeaverim." 

Vielleicht  tauchen  diese  schriftstellerischen  Versuche 
in  der  Scheidekunst  noch  einmal  handschriftlich  wieder 
auf.  Teilt  doch  Simler  mit,  dass  ein  grosser  Teil  aller 
der  genannten  —  hier  nicht  mit  aufgeführten  —  Schriften 
des  Rheticus  nach  Johannes  Laski's  brieflicher  Mittei- 
lung schon  1570  vollendet  vorgelegen  hätten  und  von 
diesem  selbst  eingesehen  worden  seien  —  ,,magna[m]  ho- 
rum  librorum  partem  iam  absolutam  se  vidisse,  ante 
quadriennium  ad  nie  scripsit,  ornatissimus  vir  Joannes 
Lasicius  Polonus1),"  —  die  sieben <  Bücher  über  die  Chemie 
dürften  sich  mit  grosser  "Wahrscheinlichkeit  darunter 
befunden  haben. 

Die  Bezeichnung  nChemiau  für  die  wissenschaftliche, 
namentlich  pharmazeutische  Seite  der  Alchemie  ist  im 
Jahre  1568  immerhin  noch  beachtenswert.  Was  die 
Sache  angeht,  so  ist  gerade  in  der  medizinischen  Chemie 
im  Beginn  der  zweiten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts 
der  dominierende  Einrluss  Hohenheims  absolut  ausser 
Frage. 

Auf  Bhe/icus''  ärztliche  Qualität  weist  gerade  der 
Schluss  des  von  Simler  mitgeteilten  Brieffragmentes 
noch  einmal  recht  eindringlich  hin  : 

„Tot  et  tanta  sunt  qiue  tracto,  et  ad  qua1 
mihi  hactenus  ars  medica,  meus  Mœcenas  sumptus 
suppeditavit.u 

Was  doch  wohl  besagen  will,  dass  dem  Leipziger 
Professor  der  Mathematik,  in  den  "Wanderjahren  seines 
letzten  Lebensabschnittes  wenigstens,  der  Ertrag  seiner 


1)  Das  ist  der  polnische  Gewährsmann   Günthers! 


—     3(U 

ärztlichen  Praxis  die  Mittel  verschaffte,  um  seinen  ge- 
lehrten Arbeiten  ohne  Nahrungssorgen  sich  widmen  zu 
können.  Seine  ärztliche  Thätigkeit,  welche  Simler, 
Toxiks,  Mander,  Paschalis  Gallus,  Adam  und  hier  auch 
Rheticus  selbst  bezeugen,  dürfte  biographisch  doch  mehr 
Beachtung  verdienen,  als  es  bisher  geschehen  ist. 

Auch  sein  Lehrmeister  Copemicus  hatte  ja  Medizin 
studiert  und  genoss  einen  weitverbreiteten  ärztlichen 
Ruf;  ja  er  wurde  in  der  übertreibenden  Ausdrucksweise 
jener  Zeit  in  seiner  Umgebung  wohl  als  „zweiter  Äskulap" 
bezeichnet.  Jedenfalls  gehörte  er  zu  den  Koryphäen  der 
Heilkunde  in  den  Weichselgegenden,  aber  die  medizi- 
nischen Bücher,  die  er  besass  und  täglich  gebrauchte, 
vor  allen  das  „Philonium"  der  Leuchte  von  Montpellier, 
Valescus  de  Taratita  (Balescon  de  Tarente  aus  Portugal, 
um  1 380),  sowie  die  überlieferten  ärztlichen  Aufzeichnungen 
seiner  Hand  beweisen  klar,  dass  der  Reformator  der 
Himmelskunde  getreulich  in  den  althergebrachten  Spuren 
des  „Fürsten  der  Arznei"  Aviceuna  (Ibn  Sina,  980—1037) 
wandelte1).  Nicht  so  sein  sonst  pietätvollster  Jünger, 
Georg  Joachim  Rheticus! 

Wie  unvollkommen  und  lückenhaft  auch  die  Über- 
lieferung über  ihn  bis  heute  noch  ist  —  soviel  wird 
jedermann  klar  geworden  sein,  dass  Rheticus  als  Arzt 
im  Lager  der  Anhänger  des  Paracelsus  gestanden  hat! 


Für  die  Frage  der  Beziehung  Georg  Joachim' s  von 
Lauchen  zu  Hohenheim  darf  endlich  ein  Faktor  nicht 
ausser  Rechnung  bleiben,  der  Empfänger  des  zuletzt  be- 
sprochenen langen  Briefes  (der  wie  ein  Rechenschafts- 
bericht über  die  ganze  Summe  seines  Lebens  aussieht  und 

l)   Vgl.  L.   Proirr.  Nicolaus  Coppernicus  1,  II.  S.  291-320. 


—     362     — 

in  seiner  biographisch-literarischen  Bedeutung  für  Rhe- 
ticus  von  mir  nicht  zur  Hälfte  erschöpft  ist)  Pierre  La 
Ramée,  welcher  in  ebendemselben  Jahre  1568  in  seiner 
berühmten  ,. Oratio  de  Basilea"  die  ewig  denkwürdigen, 
hoch  anerkennenden  Worte  über  Hohenheim  gesprochen 
hat:  ,.In  intima  natura?  viscera  sie  penitus  introivit; 
metalloruni  stirpiumque  vires  et  facilitâtes  tarn  incredi- 
bili  ingenii  acumine  exploravit  ac  pervidit,  ad  morbos 
omnes  vel  desperatos,  et  opinione  hominum  insanabiles, 
percurandum  :  nt  cum  Theophrasto  nata  primum  medi- 
ana perfeetaque  videatur  . ."  und,  nach  einer  Schilderung 
der  einstigen  Reform  des  Askiepiades  von  Bithynien  in 
Born  zum  Schlüsse  erklärt  hat:  „Theophrasfus  nempe 
Germanicus  hie  Asclepiades  fuit  :  quem  Adamus  Boden- 
steinius  Basileœ  suscitât:  sicuti  tota  Germania  plerique 
excellentes  medici." 

Mit  diesen  Worten,  die  zugleich  ein  weiteres  vor- 
urteilsfreies Zeugnis  der  nächsten  Nachlebenden  von 
Bedeutung  über  Hohenheim  bilden,  hat  Petrus  Ramus 
offenbar  auch  unserm  Georg  Joachim  Rheticus  aus  der 
Seele  gesprochen! 


Beiträge  zur  Kenntnis  der  Labyrinthanomalien   bei 
angeborener  Taubstummheit. 

Von 
F.  Siebenmann. 


Als  Taubstummheit  definieren  wir  nach  dem  Vor- 
gehen von  Mygind  und  Bezold  denjenigen  pathologischen 
Zustand,  welcher  beruht  auf  einer  angeborenen  oder  im 
frühen  Kindesalter  erworbenen  Anomalie  des  Gehöror- 
gans mit  dauernder  und  so  bedeutender  Herabsetzung 
des  Gehörs,  dass  das  betreffende  Individuum  durch  Hilfe 
des  Gehörs  allein  die  Sprache  nicht  erlernen  kann  oder 
—  falls  letztere  beim  Eintritt  der  Taubheit  schon  erlernt 
war  —  sie  nicht  auf  diesem  Wege  erhalten  kann. 

Die  klinische  »Seite  der  Taubstummheit  ist  durch 
eine  grosse  Anzahl  früherer  statistischer  Arbeiten,  na- 
mentlich aber  durch  die  neuern  Untersuchungen  Bezolds 
über  die  Funktion  des  Taubstummenlabyrinthes  und  über 
die  Hörreste  der  Taubstummen  wesentlich  gefördert 
worden.  Mit  diesem  klinischen  Ausbau  der  Taubstummen- 
frage hat  die  anatomische  Erforschung  des  Taubstummen- 
ohres aber  nicht  gleichen  Schritt  gehalten.  Dies  gilt 
besonders  von  den  angeborenen  Veränderungen,  auf 
welche  ich  mich  in  meinem  heutigen  Vortrage  beschrän- 
ken möchte. 

Die  Schwierigkeit  solcher  anatomischen  Untersu- 
chungen lag  von  jeher  darin,  dass  der  wichtigste  Teil 
des  Ohres  —  das  Labyrinth  —  ein  sehr  zartes  Gebilde 
darstellt  und  dass  es  zudem  tief  im  harten  Knochen  des 


—     364     — 

Felsenbeines  eingebettet  ist.  Eine  Untersuchung  konnte 
nur  unter  Zerstücklung  dieses  Knochens  vorgenommen 
werden  und  dabei  zerriss  der  häutige  Inhalt  der  Laby- 
rinthhöhlen in  der  Regel  zu  unkontrollierbaren  Frag- 
menten. So  kam  es,  dass  früher  nur  die  allergröbsten 
Veränderungen  zur  Beobachtung  gelangen  konnten.  Zu 
solch  hochgradigen  augenfälligen  Veränderungen  gehört 
in  erster  Linie  das  Fehlen  des  ganzen  Labyrinthes  oder 
einzelner  Teile  desselben.  Indessen  haben  sorgfältige 
Untersuchungen  und  Nachuntersuchungen  wie  z.  B.  die- 
jenigen Myginds  nachgewiesen,  dass  es  sich  in  diesen 
Fällen  nicht  um  primäre  abnorme  Anlage,  sondern  mit 
ganz  wenigen  Ausnahmen  bloss  um  Produkte  späterer 
Entzündungen  und  um  sekundäre  knöcherne  Auffüllung 
der  ursprünglich  normal  vorhandenen  Labyrinthräume 
handelt.  Andere  Veränderungen,  die  unbestritten  als 
angeborene  Hemmungsbildungen  zu  betrachten  sind,  be- 
treffen die  Länge  und  Form  des  knöchernen  Schnecken- 
kanals: Eine  Verkürzung  von  23/4  auf  1  bis  1  V2  Win- 
dungen, sowie  ein  Ersatz  der  ganzen  Schnecke  oder  bloss 
ihrer  obern  Hälfte  durch  einen  des  innern  Ausbaues 
entbehrenden,  grossen  Hohlraum  wurde  mehrmals  ge- 
funden. Auch  gänzliches  oder  teilweises  Fehlen  des 
häutigen  Inhaltes  der  Schnecke  ist  makroskopisch  bei 
angeborener  Taubheit  konstatiert  worden.  —  Dagegen 
muss  bezweifelt  werden,  ob  die  nicht  gerade  häufigen  Be- 
funde von  Degeneration  und  Atrophie  des  Stammes  oder 
einzelner  Zweige  des  Acusticus  ohne  weiteres  als  alleinige 
Ursache  von  angeborener  Taubstummheit  bezeichnet 
werden  dürfen,  da  «lie  Weichteile  des  Labyrinthes  in 
diesen  Fällen  nicht  genügend  untersucht  worden  sind. 

Während  also  die  altern  Sektionsbefunde  über  die 
Ursache  der  angeborenen  Taubheit  uns  nur  sehr  spär- 
liche und  wenig  zuverlässige  Anhaltspunkte  liefern,  scheint 


—     865 

dagegen  die  moderne  Sektionstechnik  hier  unerwartetes 
Licht  zu  bringen.  Statt  dem  frühem  rohen  Verfahren 
des  Aufmeisselns  und  Aufsägens  oder  der  unzweckmäs- 
sigen Paraffin-Durchtränkung  mit  nachfolgendem  Mikro- 
tomieren  sind  wir  nämlich  durch  das  Einführen  des  Cel- 
loidins  in  die  mikroskopische  Technik  in  Stand  gesetzt, 
auch  diese  häutigen  zarten  Gebilde,  welche  die  knöchernen 
Hohlräume  erfüllen,  in  situ  zur  Anschauung  zu  bringen 
und  mit  dem  Mikroskop  zu  analysieren.  Dieser  moderne 
Untersuchungsmodus  besteht  darin,  dass  der  aus  dem 
Felsenbein  herausgesägte  und  das  Labyrinth  mit  der 
Paukenhöhle  enthaltende  Knochenwürfel  zunächst  in  einem 
Gemisch  von  Formol  und  Müllerscher  Flüssigkeit  fixiert, 
in  Salpetersäure  entkalkt,  dann  mit  Celloidin  imprägniert, 
gehärtet  und  schliesslich  in  eine  fortlaufende  Reihe  feinster 
Schnitte  zerlegt  wird. 

Derartig  erhobene  mikroskopische  Befunde  von  Ver- 
änderungen des  Labyrinthes  bei  angeborener  Taubstumm- 
heit besitzen  wir  bis  jetzt  nur  sehr  wenige.  Zwei  stammen 
von  Scheibe  (München)  und  drei  von  unserm  Institute. 
Dazu  kommen  ausser  einigen,  leider  viel  zu  kurz  mit- 
geteilten Fällen  von  Kalz  in  Berlin,  noch  die  interes- 
santen und  genauen  Untersuchungen  von  Alexander, 
welche  Säugetiere  betreffen  und  zwar  die  taube  albi- 
notische Katze  und  die  taube  japanische  Tanzmaus. 
Merkwürdiger  und  unerwarteter  Weise  handelt  es  sich 
aber  in  diesen  Fällen  von  angeborener  Taubheit  nicht 
um  gröbere  Veränderungen  der  knöchernen  Labyrinth- 
räume,  sondern  um  histologische  Abnormitäten  ihres  In- 
haltes und  zwar  in  erster  Linie  des  Sinnesepithels  der 
Schnecke,  dann  aber  auch  des  Vorhofapparates.  Leider 
können  von  den  vielen  höchst  interessanten  Fragen  pa- 
thologischer und  physiologischer  Natur,  welche  auf  Grund 
dieses  Materials  einer  Förderung  harren,  bis  heute  nur 


—     366 

wenige  beantwortet  werden  und  zwar  deshalb,  weil  die 
funktionelle  Prüfung  der  Taubstummheit  erst  in  aller- 
letzter Zeit  eine  wissenschaftlich  genaue  Ausbildung 
erhalten  hat  und  sie  gerade  in  diesen  vorliegenden  Fällen 
noch  nicht  zur  Anwendung  gelangt  war.  -  -  Immerhin 
sind  wir  doch  im  Stande,  schon  heute  erstens  aus  den 
vorliegenden  anatomischen  Befunden  Rückschlüsse  zu 
machen  auf  gewisse  noch  streitige  Punkte  in  der  Lehre 
der  funktionellen  Bedeutung  des  Labyrinth- Vorhofes  und 
zweitens  hinzuweisen  auf  gewisse  Entwicklunysstörunyen 
im  Labyrinth,  die  bisher  fast  unbekannt,  in  Zukunft 
jedenfalls  häutig  gefunden  werden. 


I.  Über  die  Frage,  welche  Teile  des  Labyrinthes 
für  das  Hören  am  wichtigsten  seien,  war  man  sich  re- 
lativ früh  klar;  allgemein  wurde  die  Schnecke  als  das 
eigentliche  Hörorgan  angesehen.  Dagegen  bestehen  bis 
in  die  letzten  Jahre  hinein  Unklarheiten  und  Wider- 
sprüche bezüglich  der  physiologischen  Bedeutung  des 
Vorhofs  und  der  Bogengänge.  Das  physiologische  Ex- 
periment, die  letztern  Teile  des  Ohres  isoliert  auszu- 
schalten, scheiterte  an  dem  Umstände,  dass  die  Nerven, 
welche  Vorhof  und  Bogengänge  bedienen,  in  einem  ge- 
meinsamen Stamme  mit  dem  Schneckennerv  verlaufen 
und  dass  sie  nicht  nur  schwer  isolierbar,  sondern 
beim  Wirbeltier  überhaupt  schwer  zugänglich  sind. 
Das  Nämliche  gilt  von  den  einzelnen  Teilen  des  Laby- 
rinthes selbst,  so  dass  es  fast  unausführbar  ist  die  Schnecke 
allein  zu  vernichten,  ohne  gleichzeitig  den  Vorhof-  und 
den  Bogengangapparat  zu  schädigen.  Denn  die  häutigen 
Teile,  welche  durch  das  knöcherne  Labyrinth  gemeinsam 
umschlossen  werden  und  welche  die  spezifischen  Nerven- 
endigungen tragen,   sind  nur  teilweise  mit  den  Kochen- 


367 


wänden  fest  verbunden;  sie  flottieren,  dem  Einfluss  der 
Schwere  entrückt,  in  einer  gemeinsamen  Flüssigkeit,  — 
der  Perilymphe.  Zudem  bildet  die  häutige  Schnecke 
mit  den  Bogengängen  und  mit  dem  Vorhofapparat  einen 
einzigen  zusammenhängenden  Sack,  der  allerdings  mannig- 
fach gegliedert  aber  doch  so  gebaut  ist,  dass  wenn  er 
an  einer  Stelle  (traumatisch  oder  ulcerativ)  eröffnet  wird, 
hier  auch  der  Inhalt  der  andern  Stellen  —  und  zwar 
Endo-  wie  Perilymphe  —  abfliesst,  unter  gleichzei- 
tiger schwerer  Schädigung  sämtlicher  Nervenendstellen 
des  häutigen  Labyrinthes.  Die  beim  Menschen  beob- 
achteten Fälle  von  Ausstossung  des  Labyrinthes  beant- 
worten deshalb  nicht  die  eng  umgrenzte  Frage:  „Was 
können  wir  ohne  Schnecke  hören?"  sondern  die  viel 
allgemeinere:  „Was  können  wir  ohne  Labyrinth  hören?" 
So  war  man  denn  angesichts  dieser  Schwierigkeiten  zu- 
nächst auf  die  vergleichende  Anatomie  und  auf  die 
Deutung  der  dort  vorhandenen  normal  anatomischen  und 
physiologischen  Verhältnisse  angewiesen;  und  hier  stellte 
sich  zunächst  die  wichtige,  von  Kreidl  nachgewiesene  und 
erst  neuerdings  unbestritten  anerkannte  Thatsache  heraus, 
dass  von  den  schneckenlosen  Wirbeltieren  die  Fische 
nicht  hören.  Experimente  bei  verschiedenen  Wirbel- 
tierklassen stellten  ferner  die  Thatsache  fest,  dass  der 
Bogengang-  und  Vorhofapparat  ein  Orientierungs-  und 
Regulierungsapparat  ist  für  Stellungs-  und  Lagever- 
änderungen des  Kopfes  respektive  für  die  Equilibrierung 
des  ganzen  Körpers  (statisches  Organ),  und  dass  unter 
seinem  Einflüsse  die  Muskulatur  sich  in  einem  beständigen 
Tonus  befindet  (Tonuslabyrinth).  Während  die  funk- 
tionelle Bedeutung  des  Bogengangapparates  bezw. 
der  3  Ampullen  mit  ihren  3  Cristae  durch  die  scharf- 
sinnigen ,  minutiös  exakten  Experimente  von  Ewald 
endgiltig    festgestellt    worden    ist,    stehen     auch    heute 


—     368 

noch  namhafte  Physiologen  dafür  ein,  dass  möglicher- 
weise dem  ganzen  Vorhof-  und  Bogengangapparat  und 
von  den  beiden  otholitenhaltigen  Flecken  des  Vorhofes 
namentlich  der  Macula  sacculi  akustische  Eigenschaften 
zukommen.  Welche  Täuschungen  aber  bezüglich  der 
Prüfung  des  akustischen  Sinnes  das  Tierexperiment  her- 
vorrufen kann,  beweist  drastisch  der  in  den  letzten  Jahren 
ausgefochtene  Streit  um  die  Möglichkeit  der  Hörfähig- 
keit von  Tauben,  denen  das  ganze  Labyrinth  exstirpiert 
worden  war  und  welche  dennoch  reagierten  auf  grobe  Ge- 
räusche (Schiessen,  Blasen  des  Nebelhorns).  —  Neuerdings 
hat  der  Wiener  Ohrenarzt  Dr.  Alexander  eine  Reihe  von 
histologischen  Befunden  und  Experimenten  veröffentlicht, 
welche  immerhin  einen  Teil  der  soeben  berührten  Frage  für 
das  Säugetier-Ohr  zu  beantworten  scheinen  und  zwar  — 
wie  zu  erwarten  war  -  in  dem  Sinne,  dass  dem  obern 
der  beiden  Vorhofsäckchen,  dem  Utricidus  und  den  Bo- 
gengangen,  keine  akustische  Funktion  zukommt.  Ale- 
xander fand  nämlich  bei  einer  unvollkommenen  albino- 
tischen Katze,  welche  auf  keinerlei  Geräusche  und  Töne 
reagierte  und  welche  somit  taub  war,  dass  der  Bogen- 
gangapparat samt  dem  Utriculusfleck  und  den  zugehörigen 
Nerven  ganz  normal,  die  Nervenendstelle  des  Sacculus  aber 
samt  dem  Schneckenepithel  hochgradig  degeneriert  waren. 
Die  Frage,  ob  dem  Sacculus,  welcher  ja  der  Schnecke 
topographisch -anatomisch,  phylogenetisch  und  embryo- 
logisch  näher  steht  als  der  Utriculus,  akustische  Bedeutung 
zukomme,  scheint  ebenfalls  in  negativem  Sinne  beant- 
wortet werden  zu  müssen.  Ein  Sektionsbefund,  der 
kürzlich  in  miserai  Institute  erhoben  worden  ist  und  in 
seiner  Art  einzig  dasteht,  darf  in  diesem  Sinne  als  in- 
teressantes Beweismaterial  ein  höheres  Interesse  bean- 
spruchen: Da  der  Fall  samt  dem  folgenden  nächstens 
in  extenso  als  Dissertation  in  der  Zeitschrift  für  Ohren- 


—     869     — 

heilkunde  (durch  unsern  Assistenten  Herrn  Dr.  Oppikofer) 
veröffentlicht  wird,  beschränke  ich  mich  hier  auf  die- 
jenigen Einzelheiten,  welche  zur  Lösung  der  oben  be- 
rührten Frage  von  Wichtigkeit  sind: 

Es  handelt  sich  um  eine  im  hiesigen  Bürgerspital 
verstorbene  Frau,  welche  nur  solche  Geräusche  wahr- 
genommen hatte,  die  nachweisbar  auch  gefühlt  werden 
(sehr  lautes  Donnern,  ins  Ohr  schreien  oder  Schiessen 
in  unmittelbarer  Nähe),  welche  also  ganz  taub  gewesen 
war.  Gleichgewichtsstörungen  waren  nie  bemerkt  worden; 
Patientin  war  im  Gegenteil  sehr  gewandt  und  flink.  Eine 
genaue  und  gründliche  Untersuchung  des  einen  durch 
Herrn  Prof.  Kaufmann  uns  gütigst  überlassenen  Laby- 
rinthes ergab,  dass  der  Stamm  des  Schneckennervs 
wenig  oder  gar  nicht,  der  im  Labyrinth  verlaufende  Teil 
desselben  aber  samt  dem  Schneckenganglion  hochgradig 
hypoplastisch  war  und  dass  das  Cortisone  Organ  teil- 
weise oder  ganz  fehlte  und  nirgends  seine  vollkommene 
Ausbildung  erreicht  hatte.  —  Das  ganze  übrige  Ohr  war 
normal;  vollständig  normal  war  der  Bogengangapparat 
mit  dem  Utriculus,  und  auch  der  Sacculus  mit  seinem 
Fleck,  sowie  die  zugehörigen  Nerven  boten  nicht  die 
geringste  Veränderung  dar.  —  Somit  kommt  iveder  den 
beiden  Vorhof säckchen  noch  den  Bogengängen  irgend 
welche  akustische  Bedeutung  zu  und  es  muss  die  Percep- 
tionsstelle  für  die  Geräusche  wie  für  die  Töne  in  die 
Schnecke  —  speziell  ins  Cortische  Organ  —  verlegt  werden. 

II.  Eine  andere,  kürzlich  von  uns  bei  zwei  Indivi- 
duen gefundene  pathologisch -anatomische  Veränderung 
im  menschlichen  Labyrinth  wirft  —  zusammengehalten 
mit  dem  sogleich  zu  beschreibenden  ähnlichen  Befunde 
beim  albinotischen  Raubtier  —  ein  recht  interessantes 
Licht  auf  eine  gewisse,  offenbar  recht  häufige  Art  der 
intrauterinen  Genese  der  Schwerhörigkeit  respektive  Taub- 
heit und  Taubstummheit  :  24 


370 

Der  erste  Fall  betrifft  einen  taubstummen  Mann, 
Michael  H.,  der  aus  einer  leiblich  und  geistig  degene- 
rierten Familie  stammt  und  welcher  im  hiesigen  Bürger- 
spital gestorben  ist.  Das  zweite  überlebende  der  10 
Geschwister  sowie  eine  Grossnichte  sind  ebenfalls  taub- 
stumm und  erstere  besitzt,  wie  unsere  Untersuchung 
ergab,  auf  dem  einen  Ohre  noch  ausgedehnte  Hörreste, 
sowie  normale  Nystagmus-  und  Schwindelreaktion  beim 
Drehversuch,  während  das  andere  Ohr  total  taub  ist. 

Dagegen  wissen  wir  soviel  wie  nichts  über  das  Hör- 
vermögen und  über  die  statischen  Funktionen  des  Ver- 
storbenen und  im  hiesigen  pathologischen  Institut  zur 
Obduktion  gelangten  Michael  H.  Auch  die  Journale 
der  Taubstummenanstalt,  in  welcher  er  seiner  Zeit  unter- 
richtet worden  ist,  geben  hierüber  leider  keine  Auskunft. 

Das  äussere  und  mittlere  Ohr  war  durchaus  normal 
gebildet,  und  auch  das  knöcherne  Labyrinth,  sowie  der 
Hörnerv  zeigten  keine  Abnormität.  Dagegen  bot  die 
mikroskopische  Untersuchung  der  beiden  Labyrinthe  ein 
höchst  interessantes,  identisches  Bild  :  Die  Wände  des 
Vorhofsäckchens  und  der  Schnecke,  sowie  des  Verbin- 
dungsganges zwischen  beiden,  des  Ductus  reuniens,  sind 
nicht  in  normalem  Spannungsverhältnis  sondern  zu- 
sammengefallen, collabiert,  teilweise  bis  zur  Aufhebung 
des  Lumens  aneinanderliegend  und  verwachsen  ;  und  — 
was  nun  sehr  wichtig  ist  —  ihr  Sinnesepithel  ist  hoch- 
gradig degeneriert.  Der  Utriculus  mit  den  Bogengängen 
ist  dagegen  normal  geblieben.  —  Der  Collaps  der  mem- 
branösen  Wände  der  Pars  inferior  labyrinthi  ist  nicht 
überall  in  gleichem  Masse  ausgebildet:  Am  meisten  be- 
troffen ist  der  Sacculus  und  der  Ductus  reuniens;  beide 
sind  vollständig  zusammengefallen  und  verödet-,  das  jeden- 
falls abnorm  gross  angelegte  freie  Wandstück  ist  auf 
die  mit  dem  Knochen  fester  verbundenen  und  den  Nerven- 


371 

fleck  tragenden  Teile  der  Wand  zurückgesunken  und  in 
mehrfachen  Falten  mit  ihnen  verwachsen.  —  Der  häutige 
Schneckenkanal  ist  mancherorts  ursprünglich  auffallend 
weit  angelegt  gewesen;  die  Vergrösserung  betrifft  fast 
ausschliesslich  die  äussere  Wand,  deren  Epithel  im  nor- 
malen Ohre  dem  Spiralhand  fest  aufliegt,  hier  aber  stellen- 
weise blasig  abgehoben  und  in  Falten  gelegt  ins  Lumen 
hinein  fällt  und  die  wichtigste  Stelle  der  Schnecke  — 
die  Papilla  acustica  oder  basilaris,  früher  das  Cortische 
Organ  genannt  —  in  mannigfacher  Weise  schädigt,  so 
dass  dasselbe  nirgends  seine  normale  Ausbildung  erreicht. 
Diese  Schädigung  wird  durch  die  direkte  Berührung  und 
Verklebung  der  Falte  mit  der  Oberfläche  der  Papille 
und  ihrer  Deckmembran  verursacht.  Vorschieben  und 
nachträgliches  Zurückweichen  solcher  Falten  ist  mehr- 
fach nachzuweisen  aus  den  zurückgelassenen  Spuren, 
die  in  Form  von  Pigmentanhäufungen  auf  dem  Spiral- 
blatt und  von  Verzerrungen  der  Papille  und  ihrer  Deck- 
membran auch  da  vorhanden  sind,  wo  später  keine  Falte 
rneht  so  weit  ins  Lumen  hinein  vorragt. 

Während  der  Nervenstamm  des  Acusticus  normale 
Stärke  und  normales  mikroskopisches  Verhalten  zeigt, 
ist  der  Ramus  cochlearis  und  der  Ramus  saccularis  in 
seinem  Endstück  (Teleneuron)  vom  Schnecken-  respektive 
Vorhofganglion  an  sehr  schwach  entwickelt. 

Zwei  durchaus  ähnliche  Befunde  teilt  Scheibe  mit; 
nur  war  in  dem  zweiten  seiner  Fälle  der  Sacculus  beider- 
seits normal. 

Während  bei  diesen  3  Taubstummen  (den  beiden 
von  Scheibe  und  dem  unsrigen)  das  Sinnesepithel  der 
Schnecke  durch  die  Faltung  der  äussern  Wand  ihres 
epithelialen  Rohres  zerstört  worden  ist,  finde  ich  in  einem 
Labyrinthe,  welches  der  Leiche  eines  sehr  schwerhörigen 
älteren  Mannes  entnommen  ist,  die  Verödung  der  akus- 


372 

tischen  Papille  hervorgebracht  durch  Collaps  der  Reiss- 
nerschen  Membran  (Membrana  vestibularis).  Dieselbe 
ist  normaler  AVeise  die  dünnste  der  drei  Wandungen, 
welche  den  prismatischen  Epithelialschlauch  des  Ductus 
cochlearis  bilden  ;  auch  entbehrt  sie  einer  festen  Unterlage  ; 
auf  dem  Durchschnitt  durch  die  normale  Schnecke  er- 
scheint sie  als  Hypotenuse  eines  Dreiecks,  welches  das 
Lumen  des  Ductus  cochlearis  darstellt  und  in  welchem 
das  Spiralblatt  die  eine,  die  obere  Hälfte  des  Liga- 
mentum spirale  die  andere  Kathete  repräsentieren.  In 
unserm  Präparate  aber  wird  mit  Ausnahme  des  untersten 
Viertels  der  Basalwindung  die  Reissnersche  Membran 
bogenförmig  so  in  das  Dreieck  hinabgedrückt,  dass  nur 
noch  ein  ganz  kleiner  Raum  im  gegenüber  liegenden 
rechten  Winkel  frei  ist.  Die  akustische  Papille  bleibt  über- 
all auffallend  niedrig  und  erscheint  als  ein  breiter  Wall, 
dessen  Zellen  dicht  und  lückenlos  ineinander  gedrängt, 
auch  ziemlich  regellos  angeordnet  sind  und  sich  nur 
schwer  gegen  einander  abgrenzen  lassen.  Die  Deck- 
membran liegt  fest  eingekeilt  zwischen  der  Reissnerschen 
Membran  und  der  akustischen  Papille  und  erscheint 
stellenweise  mit  denselben  so  verlötet,  dass  keine  Grenze 
mehr  zwischen  ihnen  erkennbar  ist.  —  Auffallend  ist 
der  Umstand,  dass  das  Ligamentum  spirale  mit  Aus- 
nahme des  untern  Viertels  der  Basalwindung  sehr  schwach 
aufgewickelt  respektive  zurückgedrängt  und  dass  gleichen- 
orts  auch  die  Membrana  basilaris  wellig  verbogen  ist.  — 
Auch  hier  sehen  wir  also  wieder  eine  allzugrosse  Anlage 
der  häutigen  Schneckenwandung;  doch  ist  es  diesmal 
nicht  die  äussere,  sondern  die  untere  (Basilarmembran) 
und  die  obere  innere  Wand  (Reissnersehe  Membran), 
welche  bei  ihrer  abnormen  Grösse  in  dem  vom  normalen 
Knochengehäuse  vorgezeichneten  festen  Rahmen  nicht  ge- 
nügend Platz  gefunden  und  sich  daher  gefaltet  haben.  — 


—     373 

Am  Utriculus  ist  nur  das  abnorm,  dass  er  sich 
etwas  weit  hinunter  erstreckt  und  am  obern  Umfang  des 
ovalen  Fensters  durch  mehrere  faden-  und  membran- 
artige „Ligamente"  am  Rahmen  und  selbst  an  der  Stapes- 
platte fixiert  ist.  Die  Form  des  Utriculus  und  der 
Bogengänge,  sowie  des  Sacculus  (soweit  auch  letzterer 
am  Präparat  noch  erhalten  ist)  erscheint  durchaus  nor- 
mal. —  Dagegen  findet  sich,  wie  dies  am  Taubstummen- 
ohr  auch  von  anderer  Seite  schon  beobachtet  worden 
ist,  neben  der  Labyrinthveränderung  eine  Bildungsano- 
malie im  Mittelohr.  Dieselbe  besteht  hier  erstens  in 
einer  Verbildung  und  Verdickung  des  Steigbügels  und 
des  langen  Ambossschenkels  und  in  einer  derben  Fixation 
dieser  beiden  am  obern  hintern  Umfang  der  abnorm 
engen  ovalen  Fensternische  ;  zweitens  in  einem  Verschluss 
der  runden  Fensternische  durch  Fettgewebe.  —  Die 
Nervenbündel  des  Labyrinthes  sind  bis  in  die  Vorhof- 
nervenendungen  und  bis  in  die  Spitze  der  Schnecken- 
spindel hinein  auffallend  kräftig  entwickelt.  Die  mikros- 
kopische Struktur  derselben  wird  aber  gegen  den  Rand 
des  knöchernen  Spiralblattes  unscharf;  im  Labium  vesti- 
buläre finden  sich  keine  normalen  Nervenfasern  mehr: 
die  Ganglienzellen  des  Schneckennervs  sind  an  Zahl 
zwar  wenig  verringert,  haben  aber  meist  zackige  Form 
und  sind  auch  noch  in  anderer  Beziehung  zum  Teil 
atypisch  gebaut. 

Eine  interessante  Parallele  zu  dem  letztbeschriebenen, 
in  seiner  Art  einzigen  Labyrinthbefund  beim  Menschen 
bildet  derjenige  des  albinotischen  Hundes  und  der  albi- 
notischen Katze,  wie  wir  ihn  kennen  aus  den  etwas 
unvollkommenen  Beschreibungen  von  Rawitz  und  den 
exakten  Untersuchungen  von  Alexander  und  wonach  es 
sich  handelt  um  eine  gänzliche  Aufhebung  des  endolym- 
phatischen Lumens  in  der  Pars  inferior  (Schnecke,  Ductus 


374 

reuniens  und  Sacculus).  Diese  partielle  Verödung  des 
häutigen  Labyrinthes  wird  verursacht  in  der  Schnecke 
durch  Herabsinken  der  Reissnerschen  Membran,  im  Sac- 
culus durch  Collaps  der  freien  Wand.  Abgesehen  davon, 
dass  in  unserm  Falle  der  Collaps  sich  auf  die  Schnecke 
beschränkte,  unterscheidet  er  sich  von  dem  Rawitz- 
Alexanderschen  Befunde  auch  dadurch,  dass  die  Degene- 
ration des  Schneckenepithels  bezüglich  ihrer  Intensität 
von  der  Basis  gegen  die  Spitze  zu  sich  steigert,  während 
bei  der  albinotischen  Katze  das  Umgekehrte  der  Fall  ist. 

Fragen  wir  zum  Schlüsse  nach  den  letzten  Ursachen 
solcher  Collapszu stände  im  Labyrinth,  so  dürften  die- 
selben gefunden  werden  können  in  dem  räumlichen  Miss- 
verhältnis  zwischen  einem  primär  zu  gross  angelegten 
Labyrinthbläschen  und  dem  in  normalen  Grenzen  sich 
haltenden  knöchernen  Gehäuse.  Die  Verklebung  der 
collabierten  Wände  bildet  keine  auffallende  Erscheinung, 
da  wir  dieselbe  auch  unter  normalen  Umständen  antreffen, 
nämlich  bei  der  Bildung  der  Bogengänge  :  Dieselben 
entstehen  dadurch,  dass  die  primären  Bogengangtaschen 
im  Zentrum  collabieren  und  verkleben,  während  die 
Randpartie  ihr  freies  Lumen  beibehält. 

Interessant  ist  die  Thatsache,  dass  in  all  den  oben 
genannten  sehr  emlässYichen  Sektionsbefunden  angeborener 
Taubheit,  wovon  8  das  Gehörorgan  des  Menschen  und 
mehrere  das  Säugetier  (albinotische  Katze,  Tanzmäuse) 
betreffen,  durchweg  der  Utriculus  mit  den  Bogengänge)/ 
normal  erscheint  '),  ebenso  regelmässig  war  in  allen  Fällen 
die  Papilla  acustica  degeneriert  ;  bezüglich  des  Sacculus 
varieren  die  Verhältnisse,  indem  beim  angeboren  tauben 
Menschen  häufig,  bei  der  tauben  Tanzmaus  und  bei 
der    tauben     albinotiscben    Katze     durchweg-     Sacculus- 


'i  Nur  in  einem  von  Katz  kurz  beschriebenen  Falle  war  auch 
das  Ultriculusepithel  verändert. 


3  £5 


Veränderungen  gefunden  wurden.  Wenn  wir  diese  Ver- 
hältnisse an  Hand  der  von  Goltz-Ewaldschen  Anschauung 
über  die  statische  Bedeutung  der  Vorhof-Labyrinthgebilde 
weiter  verfolgen,  so  rauss  es  als  eine  geradezu  wichtige 
Ergänzung  der  Tierexperimente  dieser  Forscher  be- 
zeichnet werden,  dass  die  klinische  Erfahrung  beim 
Menschen  mit  den  obigen  pathologisch-anatomischen  Er- 
gebnissen durchaus  übereinstimmt.  Bezold  und  sein 
Schüler  Warmer*)  fanden  nämlich,  dass  bei  den  an- 
geboren total  Taubstummen  durch  den  Drehversuch 
Schwindel  und  Nystagmus,  wenn  auch  nicht  durchweg, 
wie  beim  Normalhörenden,  so  doch  viel  regelmässiger 
ausgelöst  werden  können  als  bei  denjenigen  Taubstummen, 
die  ihre  Taubheit  später  d.  h.  während  des  extrauterinen 
Lebens  erworben  haben.  Wanner  geht  also  jedenfalls 
nicht  zu  weit,  wenn  er  die  Berechtigung  zugiebt,  in  ätio- 
logisch zweifelhaften  Fällen  aus  dem  Vorhandensein 
bezw.  Fehlen  dieser  Erscheinungen  auf  die  Zeit  und 
Entstehungsart  der  Taubstummheit  Schlüsse  ziehen  zu 
dürfen.  —  Zum  nämlichen  Resultate  kamen  —  obwohl  auf 
anderem  Wege  —  Alexander  und  Kreidl.  Indem  die- 
selben die  Zahlen  von  Pollak  bezüglich  der  Regelmässig- 
keit des  Eintritts  von  galvanischem  Schwindel  bei  den 
Taubstummen  einer  genaueren  Analyse  unterzogen,  fanden 
sie,  dass  von  den  später  Ertaubten  bloss  3/io,  von  den 
angeborenen  Tauben  aber  ca.  G/?  auf  den  galvanischen, 
durch  das   Ohr  geleiteten  Strom  normal  reagierten. 


1)  Wanner:  Über  die  Erscheinungen  von  Nystagmus  bei  Nor- 
malhörenden. Labyrinthlosen  und  Tauben.  Habilitationsschrift  Mün- 
chen 1901.  — 


Jacobus  Rosius 

Philomathematicus 

der  mathematischer  Künste  besondere  Liebhaber. 

Einige  biographische  Notizen  von 
Prof.  Fritz  Burckhardt. 


So  weit  und  alt  bekannt  der  Kalender  des  Jacobus 
Rosius  ist,  so  wenig  sind  es  die  Lebensverhältnisse  seines 
Autors.  Zwei  sorgfältige  Sammler  aller  auffindbaren 
Notizen  haben  das  dürftige  Material  zusammengestellt, 
um  wenigstens  ein  annäherndes  Bild  des  Mannes  zu 
geben,  nämlich  : 

Rudolf  Wolf  Biographien  zur  Kulturgeschichte  der 
Schweiz.     Bd.  I,  p.  119—132. 

Job.  Heinrich  Graf  in  der  Schrift:  Historischer 
Kalender  oder  der  Hinkende  Bot,  seine  Entstehung  und 
Geschichte;  ein  Beitrag  zur  bernischen  Buchdrucker-  und 
Kalendergeschichte  herausgegeben  von  der  Stämpfiischen 
Buchdruckerei.     Bern  1896. 

Obgleich  ich  nun  die  Absicht  nicht  habe,  an  diesem 
Orte  eine  neue  Biographie  von  Jacobus  Rosius  zu  schreiben, 
halte  ich  es  doch  für  wünschenswert,  einige  noch  nicht 
bekannte  Notizen,  die  ich  aufgefunden  habe,  mitzuteilen 
in  der  Meinung,  dass  jede  neue  Notiz  um  so  wertvoller 
sei,  je  geringer  der  Bestand  des  Bekannten. 

Während  R.  Wolf  als  erste  sichere  Nachricht  die 
Verheiratung  von  Rosius  mit  Küngolt  Schneider  von 
Biell    am    13.    Mai    1022    bezeichnet    und  beiläufig    die 


377 

Einzeichnung  des  Namens  in  ein  der  öffentlichen  Biblio- 
thek Basels  gehörendes  Buch  (Jacobi  Rosij  1621) 
erwähnt,  das  heute  die  Signatur  K  0  XII.  12  trägt, 
erzählt  Graf,  dass  Jacobus  Roshts  am  9.  Juni  1621  in 
Biel  als  Lateinlehrer  installiert  worden  sei;  diese  An- 
stellung bringt  er  in  Verbindung  mit  einem  dreimonat- 
lichen Aufenthalt  des  Basler  Pfarrers  J.  J.  Grasser  in 
Biel.  Hiedurch  veranlasst  habe  ich  mich  umgesehen, 
ob  sich  nicht  in  Basel  weitere  Spuren  von  Rosius  auf- 
finden lassen.  Ich  fand  ihn  wirklich  in  der  Universitäts- 
matrikel im  August  1620  unter  dem  Rektorate  von  Joh. 
Rud.  Rurckhardt  eingeschrieben  als:  Jacobus  Rosius 
Riberaceusis  Suevus',  im  Rechnungsbuch  der  theologischen 
Fakultät  ist  der  Empfang  der  Gebühr  von  2  Schilling 
6  Pf.  bescheinigt. 

R.  Wolf  schreibt:  Leider  gelang  es  mir  nicht  einen 
noch  bei  Lebzeiten  von  Rosius  erschienenen  Jahrgang 
(des  Kalenders)  aufzufinden,  sondern  der  älteste  Berner 
Rosiuskalender,  welchen  mir  Herr  Hauptmann  Scholl  in 
Biel  verschaffen  konnte,  datiert  von   1745. 

Graf  aber  hat  einen  Kalender  von  1650  gesehen, 
„aeorucft  ,311  33a|el,  in  oertegung  ber  ^enric^etrinifdjen  am 
tâorumartft",  dabei  ein  Prognosticon  svmptomaticum  gc= 
brucft  ,ui  >&a)d  bei  £>cms  -Jacob  ©ertatt)  in  Verlegung  ber 
.sôeruïc^etriuUcben. 

Das  Basler  Staatsarchiv  enthält  zwei  von  Einband- 
decken abgenommene  Blätter,  die  beide  dem  Rosiuska- 
lender  von  1641  angehören:  Prognosticon  svmptomaticum, 
bas  Ut  ©ine  aufcfütjrlidje  SöefdjreibuTtg  ber  oier  3ci*cn  &cs 
Csahrs,  \o  aus  bem  ©eftirn  onb  ber  Planeten  lauft  î)erge= 
nommen  auf  bas  3>ab,r  nach,  ber  ©nabenreicfyen  geburt  on= 
[eres  £>(£rrn  3efu  t£l)vt)ti  MDCXLI,  geftellt  buvd)  Jacobum 
Rosium,   ber  matfyematij'djett  fünften  bejonbern  öiebljctbern. 


378 

Aussei-  diesen  beiden  Blättern  von  Rosiuskalendern 
sind  aber  auf  der  öffentlichen  Bibliothek  in  Ein  Paket 
vereinigt  solche  von  1649.  1653.  1654.  1655.  1658. 
1661.     1662.     1666.     1669.     1674.     1678.     1702. 

Die  7  ersten  (1649 — 1662)  gehören  nach  der  Hand- 
schrift der  zahlreichen  historischen,  meteorologischen 
u.  a.  Notizen  einem  Burckhardt  an,  da  er  1649  schreibt: 
SBoIgenben  3)onftags  ben  12.  hujus  (Alt-April)  ijt  meines 
SBrubets  S)cms  SBurtffjarbts  SDÎargrettjli,  meines  idj  in  ®ottes 
nahmen  al)u  ftatt  bes  Eatfjrinlins  non  9Jlontbelgarbt  m  mir 
genommen,  angetreten. 

Der  Art  der  Notizen  nach  war  der  Schreiber  Geist- 
licher. Die  folgenden  Jahrgänge  enthalten  Notizen  von 
anderer  Hand  und  da  des  Schreibers  Schwester  am  21. 
Januar  1678  sich  verheiratete  mit  dem  ältesten  Sohn 
des  Hans  Rudolf  Burckhardt  aus  dem  Würtembergerhof, 
so  hat  er  selbst  Krug  geheissen  und  war  ein  Sohn  des 
Bürgermeister  Krug  (wahrscheinlich  Hans  Rudolf). 

Alle  diese  Kalender,  von  denen  keiner  noch  das 
Bildnis  des  Jacobus  Rosius  enthält  mit  den  klassischen 
Versen,    sind  ihrem  Inhalt   nach    sehr  übereinstimmend. 

Es  liegt  nicht  in  meiner  Absicht,  sie  näher  zu  be- 
schreiben; auf  dem  ersten  Blatt  haben  alle  den  Basel- 
stab gehalten  von  zwei  Basilisken;  bisweilen  schaut  der 
Baselstab  nach  rechts,  bisweilen  nach  links  und  die  beiden 
Basilisken  schauen  ebenfalls  nach  rechts  oder  nach  links 
oder  einander  entgegen.  Ausser  dem  eigentlichen  Ka- 
lendarium  mit  Sprüchen,  Bauernregeln,  Aderlassmännlein, 
Beschreibung  der  Jahreszeiten,  der  Finsternisse,  Frucht- 
barkeit, Krankheit,  Krieg  und  Zwietracht,  erscheinen 
auch  die  Jahrmärkte,  und  von  1674  an  Hausarztneien 
und  ergötzliche  Geschichten.  Meist  schliesst  ein  lateini- 
scher Spruch  :  Deo  sit  laus,  Deo  sit  gloria,  oinnia  ad 
majorem  dei  gloriam,  Domine  conserva  nos. 


879     — 

Zur  Zeit,  da  diese  Kalender  in  Basel  verkauft  wurden, 
hat  Rosius  auch  Konkurrenten  gehabt;  so  linde  ich  auf 
der  öffentlichen  Bibliothek  (ELXI.  1)  einen  dem  Rosius- 
kalender  ganz  ähnlichen  vom  Jahre  1645:  iHlter  onb  Werner 
®d)retbfalenber  u.  \.  w.  auf  ein  belfere  art  alfe  bi&hero  ge= 
)d)el)en.  Stuff  bcr  Statt  33afel,  Obern  ©Ifafc,  qnb  ombligenbe 
Öanbfdjafft  gemeine  ©elegenbett  geftett  onb  calculiert,  auff 
bas  3atjr  onfers  öerrn  3efu  (Ehrifti  ©eburt  MDCXLV 
burd)  Germanum  Dbermener,  freier  ftünften  onb  ber  XHrtmen 
Doctorem,  ber  Süiathematic  onb  Slftronomet)  Professorem 
,m  SBafet. 

©etvutft  ,ui  93afcl,  in  oerlegung  Gubtoig  Königs  fei.  ©rben. 
In  diesem  Titel  ist  ein  gewisser  Grad  von  Gering- 
schätzung enthalten,  obgleich  dieser  Kalender  in  keiner 
Weise  sich  von  denen  von  Rosius  auszeichnet.  Es  spricht 
wohl  daraus  das  Gefühl  der  Überlegenheit  des  Professors 
der  Mathematik  gegenüber  dem  Liebhaber  der  mathe- 
matischen Künste. 

Auch  ein  anderer  nicht  ganz  vollständiger  Kalender 
der  öffentlichen  Bibliothek  (EL  XL  3)  zeigt  Abweichungen 
vom  Rosiuskalender  und  grosse  Übereinstimmung  mit 
ihm  in  andern  Punkten. 

Diese  beiden  und  die  genannten  7  ersten  haben, 
wie  früher  bemerkt,  derselben  Person  angehört. 

Einen  immerwährenden  Kalender  hat  in  Basel  der 
Pfarrer  Joli.  Georg  Gross  im  Jahre  1629  herausgegeben; 
er  enthält  im  wesentlichen  den  Computus  ecclesiasticus. 
die  Oster-  und  Festrechnung: 

Smmertoäfyrenb  -  3öl)vlid)er  ftalenber: 
auff  alle  onb  jebe  3abr  gestellt:  alfe  lang  bte  SBelt,  nad) 
©ottes  Willen,  ftet)en  orirt.  Ten  jenufen  erun"iujd)t  onb  bienit= 
tid),  toeldje  altermetft  auff  bte  füvnehmfteu  onb  geariffeften  3ab,r 
weiten,  ad)tung  neben  tbünb.  Sonberlicb  aber  ui  [angmirigen 
SRätfen,  oietjetyrtgen  ^eneidinuifen,  SDÎemortalen,  Sdpretbtafeln, 
SRedjnungen  onb  bergteieben  fachen  fehr  nöttjtoenbig. 


—     380     — 

©ctrucft  3U  SBctfel,  butä)  3oï).  3acob  (Senath  1629. 

Es  Hessen  sich  noch  verschiedene  viel  frühere  Ka- 
lender, auch  Nachdrucke  nachweisen,  indem  in  den 
Akten  des  Staatsarchivs  Reklamationen  aufbewahrt  sind, 
von  denen  die  eine  vom  Kanton  Appenzell  1579: 

3)en  frommen  füvjichtigeu  ©rfamcn  onb  tonfcn  SBurger* 
meiner  omtb  Wath  oev  Stabt  Sajel,  imfern  3nnfonbers  guten 
frünbenunnb  get^rütoenn  lieben  ßtbgnoffen  (15.  Oct.  1579). 

Der  Inhalt  dieses  Schreibens  von  Landtaman  vnnd 
Rath  zu  Appenzell  ist  folgendermassen  resümiert: 

Tic  oon  SIppctgcl  bejehmeven  fid),  baß  bas  ©ottsljaus 
2t.  ©alten  in  einem  oon  ihren  ïrueften  ftalenbem  ihrem 
ÏBapen  sMv,  anstatt  er  frei)  fenn  Jollen  ein  s,Roth  §alfebanb 
angelegt  rmb  gar  ,ui  einer  'öärin  gemalt,  btes  ferje  aber  nun 
beigelegt  roorben.  5nbeffen  oernemmen  fie,  baf}  SIpiattus  al= 
hier  gleid)e  SBapen  onb  (Xalenber  truefen  üefce,  mit  bitt  bas 
nötige  uor.nifehren. 

Andere  Reklamationen,  auf  die  ich  nicht  näher  ein- 
trete, sind  aus  1602  und  1608  verzeichnet. 

Wann  und  wo   hat  Rosius   seinen    ersten  Kalender 

herausgegeben  ? 

Wolf  und  Graf  führen  die  zweifellos  richtige  That- 
sache  an  : 

„Nach  dem  Berner  Ratsmanual  hat  Rosius  am  23. 
September  1625  für  einen  Ihro  Gnaden  dedicirten  Ka- 
lender 6  Kronen  erhalten.  Wir  dürfen  somit  annehmen, 
dass  der  bis  auf  gegenwärtige  Zeit  immer  noch  erschei- 
nende Rosmskalender  frühestens  auf  1626  zum  ersten 
mal  herausgegeben  worden  ist."  (Graf,  Historischer 
Kalender  u.  s.  w.,  p.   18). 

In  Bezug  auf  den  Druckort  bezweifelt  Graf,  dass 
es  Bern  sei  und  hält  für  wahrscheinlich,  dass  Rosius 
seinen  Kalender  zuerst    in  Basel   habe   drucken    lassen. 


—     381 

Das  Nachfolgende  wird  den  ersten  Punkt  bestätigen, 
vielleicht  etwas  modifizieren,  den  zweiten  beweisen. 

Die  Akten  eines  Prozesses,  in  dem  Rosius  nicht  in 
rosigstem  Lichte  erscheint,  befinden  sich  im  Staatsarchiv 
von  Basel-Stadt  und  zwar  in  den  Ratsprotokollen,  in 
dem  Urteilsbuche  des  Schultheissengerichts  der  mehreren 
Stadt  und  in  einem  Faszikel  enthaltend  Kalenderange- 
legenheit. 

Die  Akten  alle  abdrucken  zu  lassen,  böte  wegen 
der  vielen  Wiederholungen  wenig  Interesse,  allein  die 
dem  Rate  eingegebene  Klageschrift,  die  die  wesentlichen 
Punkte  enthält,  mag  hier  Platz  finden: 

Hans  Gunrad Leopard,  Buchhändler  in  Basel,  schreibt 
an  den  Rat  (verlesen  am  9.  Juli  1628). 

£err  SBurgermeifter,  ©eftreng,  ©bell,  ©hrenueft,  <yromm, 
Vornehm,  gürjtdjtig,  lïbrfam  onb  SBeifj,  ©enäbig  onb  ge? 
bietenb  .sperren.  SBiemolI  5tfj  (£-.  (Sit.  nid)t  gern  bemülje,  fo 
3totngt  mid)  bod)  bic  notl),  bcnfclbcn  onbertf>amg  clagenb  ab,n= 
gufügen,  baf}  3dj  mit  §errn  Jacob  Rosio,  roöldjer  [ich  nun 
3ur3^it  ,ut  93iell  in  Xienften  oerhaltet,  megen  feinen  Kaienbern 
oor  ettoas  3eiten*)  aecorbiret,  xrnb  babjn  oergltdjen,  baß  St 
mir  biefclben  alle,  bis  auf  bas  1629  ^ai)x  inclusive,  folle  ju= 
tommen  laffen:  Scfi  l)ab  ihn  aud)  berentoegen  [chon  attbercit 
nor  einem  3at)t  contentirt  uub  befriebigt. 

sJcun  l)at  ev  gmar  oor  einem  3al)r  mir  [eine  benben  ßa- 
lenber,  nämlichen  für  bas  1628  uub  1629  3ahr  gelüffert:  ©r 
ift  aber  in  meinem  abiucfen  miber  in  meinen  Gaben  tommen, 
unb  bat  ben  (lalenber  auff  bas  1629  3aljr  eigenes  gemalts 
miber  auf)  meinem  3d)retbtifd)  genommen,  uub  fomoll  ba* 
mal)leu  ui  meiner  §ausfraroen,  attfs  aud)  t)ernad)er  in  bem 
2Bürtst)aus  mm  SRaben  alll)ir  ui  mir  gejagt,  Sr  muffe  etiuas 
barin   enbern,   molle  aber  mir  benïelben   mit   evitem    miber 


*)  Am  2.  September  162.'). 


382 


l)iel)er  fcfjicfen.  ÏBolcfjes  Ht  abcv  nidji  getrjan,  fonbern  beren* 
tocgcn  mit  £>errn  SRubolf  gäefdjen  bon  Jüngern  geï)anbelt, 
onb  Stjme  benfelben  gügeftelt,  umldjer  aud)  bcn  bei)  .sperren 
Csobann  3d)vötcvn  aufflegen  onb  bruden  laffet.  Dtjnangeferjen 
od)  benfelben  311m  tvittcit  mnl)l  berentoegen  aljngerebet,  gc= 
warnt  tmb  gefagt,  bafo  er  fid)  mit  bemfelben  nid)t  einladen 
jolie,  beim  ber  (lalenber  ftetje  mir  ^u,  onb  fyabe  id)  nud)  £>errn 
Rosium  jd)i>n  berfiir  befrtebigt. 

SBietooIl  mut  £>err  J-äejd)  mir  rjierauff  geantiuortet,  loeilen 
es  mit  befagtem  Satenbet  al)o  befdjaffen,  |.o  molle  l£r  bem 
felben  itid)t  ahunernuen,  fonbern  §>erm  #os«o  miberumb  ni= 
jd)irten:  Sftid)ts  bejto  weniger,  onb  über  bie  311m  tritten  mal)l 
mm  mir  getfjane  ÏBarnung,  l)nt  bod)  §err  ^äefcrj,  gu  meinem 
großen  nad)tl)eillr  merd'lid)en  ferjaben  onb  oïjngelcgcntjcit,  beu 
Ealenbcr  angenommen,  mir  benjelben,  onb  bannit  ein  guten 
tl)eill  meiner  Wahrung,  £xmbels  onb  geoMns  entzogen,  onb 
lajjet  beu  beu  vhutu  Schrötern  truden. 

2Bann  aber,  ©näbig  gebietenbe  .sperren,  meber  alll)ie  in 
einer  loblid)en  Statt  SBafelt,  nod)  in  anberen  moUbejtelteu 
SRepublicen  onb  ©etoerbftätten,  jemal)len  gugeben  morben,  bafs 
ein  §anbetsmann  bem  anbern  bas  [einige  ent^ierjen,  bemfelben 
l)ieburd)  feinen  vmnbel  jd)iuäd)en,  onb  CU)ine  alfo  al)it  feiner 
Sftaljrung  ein  abbrud)  tl)tin  folle,  mie  aber  mir  Jüngern  am 
gehenben  Manbeljunauu  onb  $coax  miber  befdjerjene  marnung, 
oon  y>errn  gäefcrjen  begegnet:  9IIlfs  mill  id)  oerboffen,  onb 
^ugleid)  aud)  onbertrjcmigs  beftes  fleifecs  gebettelt  fyaben,  (£. 
©n.  gerurjen,  befagten  §erm  ^äefdjen  mit  allem  ernjt  bal)in 
gnäbig  otjngutoeifen,  bafo  (fr  entroebers  gebadeten  llalcnber 
ohn  alle  entgeltmufj  mir  miber  einbäubigen  onb  guftellen  folle, 
bamit  id)  mid)  bes  Sd)abeno,  möld)eu  id)  etlid)e  ^aty  l)cro 
mit  ,s>erru  Rosii  Salenbem,  el)er  3d)  biejelben  in  einen  ruft 
onb  gang  gebracht,  gelitten,  miber  umb  etroas  erholen  tonne: 
Cber  aber,  ba  er  je  biejeu  Satenber  behalten,  onb  aud)  auff 
bie  fünfftigen  3ctï)ï  .sVrrn  Rosii  (ialenber  truden  [äffen  molte, 


—     383 

bafe  er  mir  für  meinen  Sdjaben  äroeifjunbert  gulben  in  barem 
gelt  erlegen,  onb  bann  alle  3at)r,  fo  lang  er  biefelben  trudeu 
wtrt,  mir  fo  oiell  (Satenber,  onb  groar  umb  einen  ved)ten  bil= 
liefen  preis  uifommeu  laffen  folle,  alfe  och,  beren  bebörffen 
roerbe,  weilen  mir  biefelben  auch  fchon  oerfprod)en  getoefen, 
unb  mir  nun  bnvd)  §errn  ftaefchen  entzogen  roorben.  hieran 
gefcrn'erjt  bas  Wenige,  toas  ben  SRectjten  unb  ber  93illid)teit  ge* 
mefj,  unb  roirt  mir  folcfjes  mit  meinem  ol)ne  bas  fdhulbigen 
bürgerlichen  gehorfam  nad)  äuföerftem  meinem  Vermögen  umb 
©.  ©n.  trüber  311  befcfmlben  ftetjen. 

§icmit  einer  gnäbtejen  roillfäfjrigen  resolution  mid)  ge= 
tröftenb,  roill  ©.  ©n.  3d)  mid)  unb  bie  meinen  31t  bel)arrlid)cn 
gnabeu  unb  gunften  onbertt)äniges  gflei&es  woll  empfohlen 
l)aben 

Eurer  ©naben 

SBnbertfjaniger  gerjorfamer  SBürger 

#ans  (Sonrab  ßeoparb, 

S-Bud)l)änblev. 

Nachdem  vom  Rate  die  Entgegnung  des  Herrn 
Fäsch  verlesen   war,  wurde  beschlossen: 

,,ba\]  fie  fiefj  in  ber  güete  ,uifamen  oerfüegen  uubt  ucr= 
glichen  ober  ans  SRedjt  geroifen  fenen." 

Eine  Verständigung  kam  nicht  zu  stände. 

Am  28.  Juli  1628  erschien  die  Angelegenheit  vor 
Gericht;  auch  von  diesem  ist  erkannt  worden: 

2)aft  benbe  ïheil  fich  aufs  fürberlichft  in  benroefen  frU> 
liebenber,  fchieblidber  unb  oerftehnbiger  Urformen  in  bie  güe= 
tigfljeit  oerfüegen  unb  fehen  Jollen,  ob  fie  jid)  3hres  l)abenben 
ftreits  unb  gefpans  halber  mit  eiuauber  Dergleichen  unb  oer= 
tragen  tonnen,  uereinbaren  fie  Hd),  es  baberj  befteljen,  wo 
nid)t,  als  bann  ftleger,  wann  er  bie  beîlagte  getoarjmet  fjabc^ 
erroeifen  unb  auf  ferner  anrüeffen  weitere,  a>as  red)t  ferje, 
ergeben  jolie. 


384     — 

Auch  diese  Anordnung  führte  zu  keiner  Verstän- 
digung-, die  Sache  kam  wieder  vor  Gericht  und  nach 
langen  Auseinandersetzungen  beider  Parteien  wurde  am 
3einftag,  den  19.  August  1628   folgendes  Urteil  gefällt: 

-Dafc  bie  Ferren  §enrtcpetrmtfcf)en  Snterejfenten*),  bie 
beïlagten,  §>errn  ßeoparten,  bem  ftleger  als  evjter  ifteüffcr 
gebauten  auf  bas  3afyx  1629  geftellten  Kalenbers,  berfetbert 
roegen  einen  milieu  fdjaffen,  befcgleidjen  olnne  feine  erlittenen 
billigen  ©erià)tsïoften  abtragen,  unb  finteimnahlen  £errn 
Jacobus  Rosius  folchen  ©alenber  allbereit  Anno  1625 
ßeoparten  oerflmufft  unb  gtoar  oermög  feiner  (Schreiben  ab 
Shnte  ßeoparten,  als  ob  berfelb  3hme  ntd)t  gehalten,  jid) 
befefttoert:  aber  befjroegen  ben  orbentlichen  toeg  Rechtens  nid)t 
gebraucht,  fonbem  ben  Katenber  3l)m  ßeoparten  eigens  ge= 
malts  mibcrnmbeu  genommen,  folchen  ohngeacl)tet  er  bes  ßeo= 
parten,  onb  alfo  nicht  mehr  fein  Rosii  getoefen,  bennoht  ben 
ijerrn  ÜBeflagten  l)temit  ,unet)mal)leu  uert'aufft,  aud)  baburch 
gröblichen  oerfätjlt  habe,  befjroegen  er  Rosius  folcfjes  mit  einer 
9Jcarc!  Silber  oerbeffern,  onb  bife  basfelbige  abgestattet  ferjn 
merbe,  basjenige,  welches  bie  SBefïagten  rjinber  3hnen  Ijaben, 
onb  3bme  Rosio  3uftehnbig  ferje,  bemfelben  nicht  geoolgt 
toerben:  fonbem  alhir  oerbleiben  folle. 

Leopart' s  Klage  war  also  als  berechtigt  anerkannt; 
Rosius  aber  zahlte  nicht,  so  dass  die  Angelegenheit  noch 
am  18.  Dezember  1638,  am  27.  März  und  am  19.  Juni 
1634  vor  Gericht  kam,  wobei  das  ergangene  Urteil  be- 
stätigt wurde  ;  ob  auch  durchgeführt,  vermag  ich  nicht 
zu  sagen;  um  aber  nicht  ungerecht  zu  sein,  wollen  wir 
es  annehmen;  der  Rat  hätte  sonst  kaum  am  12.  August 
1643  beschlossen: 

§erm  Rosio,  megen  bebicirter  Ealenber  Jollen  15  9?tt)t. 
oerehrt  werben. 


*)  (deren  Vertreter  Hr.  Fäsch  war. 


385 

Da  nun  der  Buchhändler  Leopard  mit  Bosius  im 
September  1625  einen  Vertrag  betreffend  die  Lieferung 
der  folgenden  Kalender  abgeschlossen  hat,  und  in  der 
Klageschrift  1628  sagt,  er  habe  am  Verkauf  der  Rosius- 
kalender  etliche  Jahre  lang  Schaden  erlitten,  bis  er  ihn 
in  Ruf  und  Gang  gebracht  habe,  so  folgt  daraus  mit 
Sicherheit,  dass  der  erste  Rosiuskalender  nicht  frü- 
hestens, sondern  spätestens  auf  das  Jahr  1<>26  erschienen 
sein  muss,  dass  aber  möglicherweise  schon  frühere  Jahr- 
gänge erschienen  sind.  Die  ältesten  Rosiuskalender  sind 
also  in  Basel  erschienen,  der  Verleger  war  Hans  Cunrad 
Leopard,  von  1629  an  sind  sie  von  den  Henricpetrinischen 
Erben  verlegt,  wie  denn  auch  noch  der  Kalender  von 
1649  angiebt:  getrurft  ,ui  SBctjel,  in  oerlegurtg  bor  ,sVmtc= 
SPetrtnifcfjert  am  Slommarft;  die  folgenden  Kalender  geben 
nur  die  Firma  an.  bei  der  der  Kalender  gedruckt  worden 
ist,  nur  der  von  1678  giebt  an:  Basel  in  Verlegung 
Jacob  Bertsche  vnd  Samuel  Euss. 

Auch  in  späteren  Jahren  hat  der  Rosiuskalender 
(ielegenheit  zu  Prozessen  gegeben. 

Der  berechtigte  Verleger,  Jacob  Bert sclic,  klagt  bei 
dem  Rat  gegen  den  Buchdrucker  Jacob  Werenfels  (1681), 
dass  dieser  das  Basler-Stadtwappen,  den  Baselstab  und 
die  dazu  gehörigen  Basilisken  auch  auf  dem  Titel  seines 
Kalenders  führe,  so  dass  ihn  mancher  für  den  Kalender 
von  Bosius  kaufe,  er  aber  Schaden  leide;  der  Fürsprech 
des  Jacob  Bertsche  erkläre  dies  „für  einen  llnehrbaren 
griff:  3<*  9<*r  mirebltd)  [tucft)." 

Nachdem  der  Beklagte  viele  Gründe  zur  Vertei- 
digung angeführt,  erscheint  auch  der  folgende: 

(Es  tonnte  auel)  batjer  fein,  bafc  fein  Eatenber.  in  einen 
abgartg  Eommcn:  onb  hingegen  meine  ©alenber  gefudjt  werben 
möchten;  meilen  ber  meine  am  papier  [djörter  unb  [onften  ltcb= 
lid)er  in  bie  Slugcn  fällt,  and)  Bosii  letzte  Arbeit  von  s?l° 1681 

25 


386 


ahn,  b\\)  auff  1700,  tm  er  in  feinem  alter  ein  Stürfh  gelt  ,ui 
erhaben,  gejtrubtet,  ben  ©rftert,  ba  er  fleißiger  getoefen,  nid)t 
gleid)  3|t.     (Schreiben  verlesen  am  10.  Aug.   1681). 

In  einem  grössern  Werke  des  Bosius,  nämlich  in 
der  Ephemer is  perpétua,  deren  Vorrede  im  Jahre  1628. 
Die  S.  Galli  geschrieben  ist,  erscheint  Rosiiis  als  Notarius 
Caes.  publiais. 

Wie  ist  er  zu  dieser  Funktion  gekommen? 

Es  erscheint  mir  als  wahrscheinlich,  dass  der  ein- 
gangs erwähnte  Pfarrer  J.  J.  Grasser  seinen  Schützling 
Rosius  mit  diesem  Titel  und  den  damit  verbundenen 
Rechten  versehen  habe.  Von  Grasser  berichten  die 
Athenae  rauricae  zweierlei,  nämlich  : 

Hie  autem  postquam  d.  14.  Dec.  1607  a.  D.  Fer- 
nando Amadi,  Imperiali  Commissario,  singulari  S.  Cae- 
sareae  Majestatis  ordinatione,  Sancti  Palatii  et  Consistera 
Imperialis  Comitis,  Equitis  aurati  et  civis  Romani  privi- 
légia et  dignitates  solenniter  aeeepisset,  per  Venetias 
partem  Germania  transiit  etc.  etc. 

Zu  diesen  Privilegien  gehörte  die  Ernennung  der 
Notare. 

Ferners  : 

Petiit  itaque  a  Magistratu  facultatem,  si  occasio 
ferat,  munus  ecclesiasticutn  una  cum  juribus  Comitis 
Palatini  exercendi,  quae  ei  haud  difficulter  fuit  concessa, 
simul  vero  praeeeptum,  ut  sese  intra  modestiae  cancellos 
contineret. 

Als  sich  aber  die  Vereinigung  der  kirchlichen  und 
der  pfalzgräflichen  Funktionen  als  nicht  passend  erwiesen, 
worauf  er  durch  den  Antistes  J.  J.  Grynaeus  aufmerksam 
gemacht  wurde,  entschloss  er  sich  keine  andern  Be- 
rechtigungen eines  Pfalzgrafen  auszuüben,  als  öffentliche 
Notare  zu  ernennen. 


387     — 

Endlich  sei  noch  eine  Bemerkung  über  das  Bild 
von  Roskis  gestattet.  Bis  zum  Jahre  1678  enthält  der 
Kalender  das  Bild  nicht;  in  dem  Kalender  von  1681, 
der  Herrn  Prof.  A.  Riggenbach  gehört,  ist  es  und  zwar 
umschrieben  Jacobus  Rosius  Malhematicus,  obiit  An. 
Christi  MDCLXXVH  Mens.  August.  Aetatis  An 
LXXVIII.  Somit  fällt  die  Geburt  des  Rosius  in  das 
Jahr  1599,  nicht  wie  Wolf  und  Graf  angeben  in  das 
Jahr  1598. 


Zur  Geschichte  der  biologischen  Systematik. 

Von 

Prof.  Rud.  Barokhardt. 

L'empirisme  peut  servir  à  ac- 
cumuler les  faits,  mais  il  ne  sau- 
rait jamais  édifier  la  science.  Cl. 
Bernard,  de  la  phys.  gén.  1872. 

1.  Der  gegenwärtige  Stand  der  zoologischen  Ge- 
schichtsschreibung. 

Alle  wissenschaftlich  en  Darstellungen  der  Zoologie- 
geschichte schildern  in  erster  Linie  die  Entwicklung  der 
zoologischen  Klassifikation  als  der  eigentlichen  Quint- 
essenz unserer  Wissenschaft.  Daneben  findet  wohl  auch 
die  Geschichte  zoologischer  Beobachtung,  der  Tierbeschaf- 
fung und  Tierzergliederung,  nebensächliche  Behandlung, 
aber  beispielsweise  schon  für  die  Illustration  in  der 
Zoologie  besitzen  wir  kein  Seitenstück  zu  Choiilants 
(14)  Geschichte  der  anatomischen  Abbildung.  In 
neuerer  Zeit  ist  auch  die  Geschichte  des  Darwinismus, 
meist  in  erweiterter  Form  als  Geschichte  der  Entwick- 
lungslehre zu  einem  Gegenstande  der  Bearbeitung  ge- 
macht worden,  insbesondere  sind  hier  die  historischen 
Einleitungen  der  Haeckehchen  Werke  (26)  und  einer 
ausgedehnten,  von  ihm  abhängigen  Litteratur  zu  nennen. 
Doch  verfolgt  diese  Richtung  apologetische  Zwecke  und 
kommt  daher  als  wissenschaftliche  Geschichte  nicht  in 
Betracht.    Im  allgemeinen  ist  zu  konstatieren,  dass  der 


389 


gegenwärtige  Betrieb  der  Zoologie  ein  eminent  unge- 
schichtlicher  ist  und  was  gemeinhin  das  Prädikat  his- 
torisch trägt,  ist  einfach  Chronologie  der  Entdeckung 
oder  Bearbeitung  des  Materials.  Es  ist  in  hohem  Grade 
ehararakteristisch,  class  seit  der  1872  erschienenen  Ge- 
schichte der  Zoologie  von  J.  V.  Carus  (13)  keine  ähnliche 
Allgemeindarstellung  erschienen  ist,  obschon  sich  vom 
Standpunkt  der  Kenntnisse,  welche  in  den  letzten  dreissig 
Jahren  errungen  worden  sind,  das  Bild  der  Geschichte 
unserer  Wissenschaft  vielfach  erweitern  und  verschieben 
würde.  Schon  die  Geschichtsbetrachtung  der  Zoologie 
selbst  würde  sich  in  dieser  Periode  wesentlich  haben 
verändern  müssen,  denn  noch  bei  Carus  steht  sie  im 
Banne  der  zoologischen  Systematik,  bricht  ab  an  der 
Schwelle  der  neuen  Zeit,  der  entwicklungstheoretischen 
Periode,  und  auch  der  Abschnitt,  welchen  Carus  der 
„historischen  Zoologie"  widmet,  beschränkt  sich  darauf, 
zoologiegeschichtliche  Litteratur  antiquarischen  und  exe- 
getischen Charakters  aufzuführen,  während  doch  die 
Entwicklung  der  zoologischen  Geschichtsschreibung  viel 
mehr  gesagt  hätte. 

Von  dieser  haben  wir  auch  jetzt  auszugehen,  wenn 
wir  uns  ein  Urteil  über  die  Zoologiegeschichte  bilden 
und  unser  nachfolgendes  Beginnen  begründen  wollen. 

Die  Geschichtsschreibung  der  Zoologie  nimmt  ihren 
Anfang  mit  A.  v.  Haller  (27),  in  dessen  Bibliotheca 
anatomica  1774  das  sechste  Buch  mit  dem  Titel  Ani- 
malium  incisiones  auf  340  Seiten  eine  Chronologie  der 
zootomischen  Bestrebungen  von  Asclli  bis  auf  Valentin 
und  Stahl  enthält,  nachdem  schon  bei  Besprechung  der 
antiken  Naturforscher  auch  deren  zoologischer  Bestre- 
bungen gedacht  worden  ist.  Als  zweiter  Zoologiehisto- 
riker begegnet  uns  Jo/t.  SplX  (48).  Er  war  angeregt 
von  Schelling,   „welcher  wie  Goethe  die  Poesie  neu  er- 


—     390 

schuf,  die  Philosophie  den  sophistischen  Witzeleien  und 
Schwärmereien  unseres  Jahrhunderts  entriss  und  der 
Natur  wieder  anheim  gab  und  welcher  mir  gleich  im 
Anfang  meiner  medizinischen  Laufbahn  den  unvergess- 
lichen  Rat  erteilte:  mich  nicht  sowohl  an  die  Worte 
und  gedruckten  Schriften,  als  im  Geiste  eines  Suam- 
merdam  an  das  offene  Buch  der  Natur  selbst  zu  halten 
und  so  in  allem  die  Erfahrung  selbst  zu  meiner  Ge- 
fährtin zu  machen."  Ausgehend  von  der  Idee,  dass 
alles  organische  Leben  sich  aus  gemeinsamer  Wurzel 
entwickelt  habe,  fasste  Spix  auch  die  Geschichte  seiner 
Wissenschaft  als  etwas  organisch  gewordenes  auf.  Von 
diesem  Gesichtspunkt  aus  schildert  er  in  grossen  Zügen 
und  mit  philosophischer  Kritik  die  Entwicklungsge- 
schichte der  zoologischen  Systematik  von  Aristoteles  (2) 
bis  auf  seine  Zeit  und  ist  damit  auch  unübertroffen  ge- 
blieben. Dass  Olivier  (15)  mit  seiner  Histoire  des 
sciences  naturelles  (1841 — 45)  die  Geschichte  der  Zoo- 
logie und  überhaupt  der  Naturwissenschaften  einem  gross- 
artigen Rahmen  einspannte  und  ein  grundlegendes  Ge- 
schichtswerk umfassender  Art  schuf,  überrascht  wohl 
nicht,  wenn  man  weiss,  welch  erstaunliches  Wissen 
ihm  allezeit  zu  Gebote  stand.  An  Cuvier  lehnt  Js.  Geof- 
froy St.  Hilaire  (25)  an,  weniger  mit  der  Absicht,  eine 
Geschichte  der  Zoologie  zu  schreiben,  als  mit  der,  seine 
ausgedehnten  historischen  Kenntnisse  einer  im  Sinne 
Aug.  Comtes  geschriebenen  allgemeinen  Naturgeschichte 
zur  Verfügung  zu  stellen. 

Mit  diesen  fünf  Hauptwerken  aber  ist  die  allgemeine 
zoologiegeschichtliche  Litteratur  erschöpft  und  es  ergiebt 
sich  hieraus,  dass  die  Mühe,  die  bisher  auf  die  geistige 
Verarbeitung  unserer  Wissenschaft  in  dieser  Richtung 
verwendet  wurde,  beinahe  verschwindet,  verglichen  mit 
den  Bemühungen  um    minutiöse  Exaktität    in    zahllosen 


391     — 

Kleinigkeiten,  verglichen  auch  mit  der  sorgfältigen  Pflege 
historischer  Studien  über  die  Entwicklung  anderer 
Wissenschaften,  wie  Physik  oder  Chemie.  Aus  der 
Entwicklung  der  zoologischen  Geschichtsschreibung  er- 
klärt sich  nun  aber  auch,  warum  für  sie  die  zoologische 
Systematik  so  sehr  im  Vordergründe  stand.  Denn 
zur  Zeit  des  Entstehens  der  Zoologiegeschichte  herrschte 
die  Speciezoologie.  Sie  sah  ihre  logische  x^ufgabe 
in  erster  Linie  in  der  Gruppierung  der  Individuen, 
Varietäten  und  Arten  zu  höheren  systematischen  Ein- 
heiten. Die  Stoffmassen  der  Lebewelt  drängten  sich  in 
Gestalt  ganzer  Wesen  auf,  die  zivilamtlich  geordnet  sein 
wollten.  Die  Teile  der  Tiere  kamen  nur  insofern  in 
Betracht,  als  sie  zu  dieser  Aufgabe  herangezogen  werden 
konnten.  So  wirkt  denn  Linné  auch  noch  im  heutigen 
Sprachgebrauch  bei  den  Zoologen  nach.  Unter  „Syste- 
matik" wird  immer  noch  nur  die  Ordnung  der  aus  In- 
dividuen gebildeten   höheren  Gruppen    verstanden. 

Auf  dieser  Basis  nun  aber  stand  als  erster  Zoolo- 
giehistoriker Hauer,  für  den  die  Pole,  um  die  sich  die 
Achse  zoologischer  Forschungen  drehte,  einerseits  die 
Linné'sche  Systematik  war,  anderseits  die  menschliche 
Anatomie  und  Physiologie  und  durch  seinen  Standpunkt 
war  naturgemäss  auch  seine  Geschichtsforschung  be- 
dingt. Wie  sehr  aber  Haller  damit  massgebend  blieb, 
geht  daraus  hervor,  dass  trotz  allen  Errungenschaften 
der  Zootomie  in  den  nachfolgenden  sechs  Dezennien 
Cuvier  ihn  beibehielt,  ja  noch  verstärkte.  Für  ihn  ist 
„die  Zoologie  gewissermassen  nur  ein  Ausfluss  der 
menschlichen  Anatomie;  denn  das  Studium  der  Tiere 
ist  nur  eine  Wiederholung  der  Erforschung  des  mensch- 
lichen Körpers."  Dreissig  Jahre  vor  ihm  stand  der 
Nat.urphilosoph  Spix  mit  seiner  oben  gekennzeichneten 
wissenschaftlichen  Absicht  bereits  auf  vicd  höherer  Warte. 


—     392 

Carus  lehnte  sich  bei  Betonung  des  Standpunktes,  den 
Clll'ier  eingenommen  hatte,  die  Zoologiegeschichte  der 
allgemeinen  Kulturgeschichte  einzugliedern,  im  Einzelnen 
stark  an  Spix  an  und  schildert  vorzugsweise  die  Ge- 
schichte des  zoologischen  Systems.  Hierüber  wesentlich 
hinauszugehen,  hinderte  ihn  schon  die  bestimmte  Absicht, 
die  Periode  der  Entwicklungslehre  nicht  mehr  anzu- 
schneiden. 

Somit  hat  die  Geschichtsschreibung  der  Zoologie, 
ganz  abgesehen  von  ihrer  augenblicklichen  Rückständig- 
keit, sich  im  allgemeinen  wenig  über  den  Standpunkt 
erhoben,  der  zur  Zeit  ihres  Entstehens  giltig  war.  Vol- 
lends heute  ist  sie  und  die  empirische  Zoologie  ausein- 
andergefallen und  so  verlohnt  es  sich  ganz  besonders, 
die  Zoologiegeschichte  nach  denjenigen  Erkenntnisge- 
bieten hin  zu  erweitern,  nach  denen  die  Zoologie  selbst 
ausgewachsen  ist. 

2.  Die  Erweiterung  der  Zoologie  zur  Biologie. 

Die  Zoologie  hat  sich  nie  ausschliesslich  mit  dem 
Stadium  der  ganzen  AYesen  allein  begnügt.  Schon  in 
ihren  Anfängen  bei  Aristoteles  (1.2)  tritt  uns  eine  solche 
Fülle  zootomischer  Beobachtungen  im  Dienst  der  Er- 
gründung  von  Verwandtschaftsbeziehungen  entgegen,  dass 
wir  eigentlich  annehmen  müssen,  eine  wissenschaftliche 
Zoologie  habe  überhaupt  erst  mit  der  Tierzergliederung 
gedämmert.  Schon  dort  wurde  der  Organismus  in  seine 
„ungleichartigen"  und  „gleichartigen  Teile",  die  Organe 
und  Gewebe  zerlegt  und  die  Eigentümlichkeiten  der 
letzteren  auf  die  Grundstoffe  zurückgeführt.  Der  voll- 
ständige Ausbau  der  Zootomie  gehört  aber  der  Neuzeit 
an  und  konnte  erst  mit  dem  ganzen  Apparat  moderner 
Technik  zu  der  ihn  gegenwärtig  bezeichnenden  Vollkom- 
menheit gedeihen.      Ihr    letztes  Stadium    war   durch   die 


—     393 

Zellenlehre  gegeben  und  dass  wir  es  noch  nicht  über- 
wunden haben,  beweist  die  Herrschaft,  welche  der  Be- 
griff der  Zelle  heute  noch  ausübt  und  der  sich  nur  der 
des  Speciesbegriffs  im  ausgehenden  achtzehnten  Jahr- 
hunderts vergleichen  lässt.  Gewiss  wird  man  noch  zahl- 
reiche und  bedeutungsvolle  Analogien  im  Leben  der 
Zelle  und  dem  der  höheren  Individualitätsstufen  auf- 
finden. Alter  man  wird  auch  einsehen,  dass  gewisse 
komplizierte  Organisationsverhältnisse  und  Funktionen 
höherer  Organismen  nicht  aus  dem  Leben  der  Zelle 
heraus  interpretiert  werden  dürfen,  wie  heute  vielfach 
angenommen  wird.  Denn  die  höheren  Organismen  sind 
nicht  nur  Konglomerate  einer  grössern  Zellzahl;  sie 
enthalten  vielmehr  wesentlich  neues,  das  schon  durch 
das  Zustandekommen  des  Organismus  aus  Teilen  von 
den  Elementarorganismen  verschieden  ist  und  daher 
nicht  aus  unsern  Beobachtungen  an  der  Zelle  konstruiert 
werden  kann.  Die  Auffassung  Ehrenbergs  (18),  der  dem 
Infusor  alle  Organe  höheren  "Wesens  in  nuce  zuschrieb, 
hat  ihre  berechtigte  Korrektur  erfahren.  Ebenso  aber 
wird  es  auch  denjenigen  Ansichten  ergehn,  welche  aus 
einer  der  Ehrenberg' sehen  entgegengesetzten  Missdeutung 
entspringen  und  welche  auf  der  falschen  Généralisation 
zellulärer  Erscheinungen  berubn. 

Es  ist  nun  aber  einzusehn,  dass  da  auf  dem  Wege 
der  Zootomie  tausende  und  aber  tausende  von  Einzel- 
beobachtungen gemacht  worden  sind,  auch  die  Systema- 
tisierung, die  Ordnung  dieser  Thatsachen,  nach  denselben 
Prinzipien,  wie  bei  den  ganzen  Individuen  erfolgen  muss. 
Nicht  nur  den  Individuen  kommt  eine  Klassifikation  zu, 
auch  ihren  Teilen.  Diese  können  wohl  mit  Rücksicht 
auf  das  zerlegte  Individuum  betrachtet  werden,  aber 
schon  hiezu  bedarf  es  bei  komplizierteren  Organismen 
einer  Ordnung.     Vollends,  wenn  wir  die  Teile,  die  sich 


—     H94     — 

bei  verschiedenen  Organismen  entsprechen,  mit  einander 
vergleichen  wollen.  Auch  hier  ist  der  bestehende  Sprach- 
gebrauch bezeichnend:  Wenn  wir  von  „Organsystemen" 
reden,  so  verstehen  wir  darunter  Organverbände,  denen 
eine  gemeinsame  Funktion  oder  Entstehung  zu  Grunde 
liegt.  Logischer  Weise  sollte  man  aber  meinen,  es 
handle  sich  bei  diesem  Ausdruck  um  die  Systeme,  wo- 
nach die  Organe  zu  verschiedenen  Malen  betrachtet 
worden  sind.  Man  ersieht  schon  hieraus,  dass  das  in- 
nere Bedürfnis,  die  Teile  des  Organismus  nach  denselben 
Prinzipien  zu  behandeln,  noch  hinter  dem  nach  Syste- 
matik der  ganzen  Individuen  zurücksteht. 

Lehrreich  hiefür  ist  auch  die  Thatsache,  dass  wir 
neben  hunderten  von  Museen,  die  sich  die  Pflege  der 
zoologischen  Systematik  angelegen  sein  lassen,  fast  nur  ein 
einziges  besitzen,  in  dem  die  Pflege  der  „vergleichenden 
Anatomie"  nicht  nur  typentheoretischen  und  didak- 
tischen Zwecken  huldigt,  nämlich  die  Sammlung  am  Royal 
College  of  Surgeons  in  London.  Dort  allein  wird  für 
die  Teile  der  Tiere  dieselbe  Vollständigkeit  angestrebt, 
wie  in  so  vielen  Museen  für  die  ganzen  Organismen. 

Wonach  soll  nun  die  Ordnung  des  zootomischen 
oder  allgemein  anatomischen  Stoffes  vollzogen  werden? 
Zerlegung  allein  genügt  nicht  dem  wissenschaftlichen 
Bedürfnis  und  abgesehen  davon,  dass  die  Zootomie  in 
den  Dienst  der  „zoologischen  Systematik"  gestellt  und 
auf  die  Gesamtwesen  orientiert  wurde,  hat  sie  unter 
zwei  andern  Gesichtspunkten  einen  systematischen  Auf- 
bau erfahren,  unter  dem  der  Funktion  als  allgemeine 
Physiologie  und  unter  dem  der  Entwicklung  als  „ver- 
gleichende Anatomie"  bezeichnet,  in  Wirklichkeit  eine 
Phylogenie  der  Teile  des  Individuums  bildend  und  als 
Ergänzung  zu  der  über  die  Schranke  des  Individuums 
hinaufreichenden  Phylogenie    der    einzelnen  Lebewesen. 


—     895 

Daraus  ergibt  sich  für  uns  die  Aufgabe,  die  Zoologie- 
geschichte zunächst  nach  derjenigen  Seite  zu  vervoll- 
ständigen, nach  der  sich  auf  Grund  der  Zootomie  die 
Physiologie  und  „vergleichende  Anatomie"  herausgebildet 
haben.  Zuvor  jedoch  haben  wir  erstens  die  logischen 
Beziehungen  zwischen  der  Zootomie  (allgemeine  Ana- 
tomie) einerseits  und  diesen  beiden  Disziplinen  anderseits 
zu  erörtern  und  zweitens  das  Verhältnis  von  Physiologie 
und  Phylogenie  unter  sich. 

3.  Die  Logik  der  Biologie. 

a)  Die  herrschende  Systematik  der  biologischen  Disziplinen. 

Versuche  zu  neuer  Klassifikation  der  biologischen 
Disziplinen  haben  bisher  unverdient  geringe  Beachtung 
gefunden.  Es  ist  auch  unser  Plan  nicht,  eine  neue 
Klassifikation  zu  entwerfen;  vielmehr  nur  in  der  nach- 
folgenden Tabelle  darzustellen,  wie  sich  die  hauptsäch- 
lichsten und  gebräuchlichsten  Abteilungen  der  Biologie, 
wie  sie  heute  nun  einmal  vorliegen  und  bezeichnet 
werden,  logisch  zu  einander  verhalten.  Die  Bezeich- 
nungen der  Disziplinen  richten  sich  zunächst  nach  Ma- 
terial und  Methode,  sodann  auch  nach  der"geschichtlichen 
Tradition  und  es  versteht  sich  von  selbst,  dass  in  einer 
vorwiegend  empirischen  Forschungsperiode  die  Bezeichnun- 
gen häufiger  gebraucht  werden,  welche  auf  der  Gliederung 
des  Materials  und  auf  Überlieferung  beruhen.  Auch 
haben  sich  zwischen  den  durch  eine  bestimmte  Methode 
umschriebenen  Disziplinen  und  den  durch  ein  bestimm- 
tes Material  umschriebenen  vielfach  mehr  oder  weniger 
innige  Beziehungen  ergeben,  die  sogar  zur  Bildung 
„neuer"  Wissenschaften  geführt  haben,  so  ist  z.  B.  die 
„Entwicklungsmechanik"  weiter  nichts  als  die  Anwen- 
dung   der    Physiologie    auf  die    Embryologie    zunächst, 


—     396     — 

dann  aber  auch  in  erweitertem  Sinne  auf  organisches 
Wachstum  überhaupt.  Aber  auch  Scheidungen  haben 
sich  vollzogen.  So  hat  die  zoologische  Systematik  von 
jeher  zwei  Richtungen  des  Forschens  in  sich  enthalten, 
entsprechend  ihrem  Prinzip:  „genus  proximum,  diffe- 
rentia  specifica",  nämlich  eine  analytische,  aufFeststel- 
lund  der  Art  abzielende,  und  eine  synthetische,  die 
Klassifikation  bezweckende.  Wir  lassen  hier  und  in  den 
nachfolgenden  Ausführungen  Botanik  und  Pathologie  aus 
dem  Kreis  unserer  Betrachtungen. 

Übersicht  der  zoologischen  Disziplinen. 

A.  Nach  der  Methode: 

i.  Analyse:  a)  in  Anwendung  auf  die  ganzen  Organismen: 
Zoologische  Systematik  zum  Teil. 
b)  in  Anwendung  auf  die  Teile  der  Organismen  : 
Zootomie  oder  allgemeine  Anatomie. 

2.  Synthese:  a)  nach  dem  Gesichtspunkt  der  Funktion-. 
Physiologie. 
b)  nach  dem  Gesichtspunkt  der  Herkunft: 
Phylogenie:  angewandt  1.  auf  die  über 
dem  Individuum  stehenden  Einheiten  : 
Zoologische  Systematik  zum  Teil.  2.  auf 
die  unter  dem  Individuum  stehenden  Ein- 
heiten:   Vergleichende  Anatomie  zum  Teil. 

B.  Nach  dem  Material: 

/.  Nach  der  durch  Synthese  gewonnenen  zoologisch-syste- 
matischen Klassifikation:  (Prolozoenkunde  bis  Mam- 
ma log  ie). 

2.  Nach  den  zeitlichen  und  räumlichen  Umständen  der 
Urkunden: 


307 

a)  erwachsene    Lebewesen    der   Gegenwart:    verglei- 
chende Anatomie  zum  Teil. 

b)  erwachsene    Lebewesen    der    Vergangenheit:     Pa- 
laeoniologie. 

je)   in  Entwicklung    befindliche    Wesen:    Embryologie. 
d)  nach  der  räumlichen  Verbreitung:   Tiergeographie. 

b.  Die  allgemeine  Anatomie. 

Die  Anatomie  ist  die  auf  die  konkrete  Lebewelt 
angewandte  analytische  Methode  (,,  Analysis  situs"  Leibniz). 
Die  heute  anwendbaren  Hilfsmittel  haben  es  uns 
leicht  gemacht,  in  der  Lösung  dieser  Aufgabe  einen 
relativ  hohen  Grad  zu  erreichen.  Eine  vollständige 
anatomische  Beschreibung,  durchgeführt  mit  der  zu 
späterer  Verwendung  im  Dienste  der  Vergleichung  nö- 
tigen Sorgfalt  ist  ein  grosses  Stück  Arbeit,  leider  aber 
heute  etwas  in  Misskredit  gekommen,  in  Vergleich  zu  so 
vielen  fragmentären  Darstellungen,  die  nur  das  für  eine 
bestimmte  Frage  nötigste  erraffen.  Würde  man  be- 
denken, wie  viele  Organismen  auf  Jahre  hinaus  nicht 
mehr  gesammelt  werden,  wie  viele  auch  für  immer  ver- 
schwinden, man  würde  wohl  der  rein  deskriptiven  Zpo- 
tomie  eine  höhere  Bedeutung  zuschreiben,  als  dies 
gegenwärtig  geschieht. 

c.  Physiologie  und  Phylogenie. 

.  An  und  für  sich  hat  keine  durch  Zergliederung 
gewonnene  Thatsache  ihre  Bedeutung.  Sie  erhält  sie 
erst  dadurch,  dass  wir  sie  orientieren.  Wie  wir  sie  dem 
natürlichen  Zusammenhang  entheben  und  einzeln  hin- 
stellen, so  haben  wir  sie  wiederum  in  natürliche  Ver- 
bindungen zu  bringen.  Entweder  wir  bringen  sie,  wie 
das  mit  Organen  meist  geschieht,  in  Verbindung  mit  der 
Klassifikation  der  Gesamtorganismen,  oder  wir  reihen  sie 


—     398     — 

den  Systemen  der  Physiologie  oder  der  Phylogenie  des 
einzelnen  Teils  ein.  Auf  alle  Fälle  hat  dem  durch 
Analyse  geschaffenen  Thatbestande  eine  Synthese  zu 
folgen  und  zwar  kann  und  muss  jedes  anatomische  Faktum, 
abgesehen  von  seiner  rein  praktischen  Verwendung  im 
Dienste  der  Klassifikation  der  Gesamtorganismen,  unter 
zweierlei  in  unsern  Denkformen  begründete  Fragen  ge- 
nommen werden. 

Die  eine  dieser  beiden  Fragen  ist  die  nach  der 
Funktion.  Die  Deutung,  welche  wir  so  einer  Form  geben, 
bleibt  indess  so  lange  eine  Hypothese,  als  nicht  durch 
Experiment  oder  Beobachtung  eine  Verifikation  stattfindet. 
Jedenfalls  ist  das  Endziel  dieser  Deutung,  das  Verhältnis 
zwischen  Aussenwelt  und  Innenwelt  des  Organismus, 
zwischen  Reiz  und  Reaktion  festzustellen.  Darin  stimmen 
alle  Physiologen  bei  sonst  verschiedener  Richtung  überein. 
Es  gibt  keinen  Thatbestand  in  der  organischen  Natur  — 
und  das  gilt  nun  auch  über  die  Teile  des  Individuums 
hinaus,  für  die  grossen  Organismenverbände  und  ihre 
Prozesse  allgemeinster  Art,  —  der  sich  nicht,  wenn  er 
überhaupt  deutbar  ist,  physiologisch  deuten  liesse,  auch 
wo  die  Kontrolle   durch  Experiment  ausgeschlossen  ist. 

Die  andere  Frage  ist  die  nach  der  Herkunft,  nach  der 
Geschichte  eines  durch  Anatomie  gewonnenen  Organi- 
sationsverhältnisses, nach  seiner  Genese  und  zwar  können 
wir  uns  nicht  mehr  vergegenwärtigen,  dass  irgend  ein 
Organismus  oder  einer  seiner  Teile  vorhanden  sei,  ohne 
eine  lange  Geschichte  hinter  sich  zu  haben.  Ja  es  giebt 
auch  keine  Funktion,  die  sich  nicht  diesem  Gesichts- 
punkt unterstellen  Hesse.  Am  lebhaftesten  hat  Preyer 
diesem  Gedanken  Ausdruck  verliehen.  Diese  Betrach- 
tungsweise bezeichnen  wir  bekanntlich  als  genetische 
oder  nach  ihrem  Symbol  des  Stammbaums,  die  Phylogenie. 
Für  sie  existiert  zur  Anwendung  des  Experimentes  keine 


—     39ü    — 

Möglichkeit.  Doch  wird  ihr  anscheinend  weniger  günstiges 
Verhältnis  zur  Realität  der  Natur  durch  etwas  anderes 
ausgeglichen  Die  Physiologie  kann  experimentell  nur 
mit  der  existierenden  Lebewelt  verfahren,  also  mit  einein 
verschwindend  kleinen  Teil  der  Organismenwelt,  die 
wirklich  existiert  hat  und  die  wir  teilweise  kennen. 
Auch  reisst  der  Faden  unseres  Einblicks  in  den  Zu- 
sammenhang der  Erscheinungen  ab,  sowie  wir  konstatiert 
haben,  was  für  einen  Reiz  irgend  eine  Reaktion  bei 
irgend  einem  Organismus  entspricht.  Die  Ursache  aber 
des  Verhältnisses  zwischen  Reiz  und  Reaktion  ist  bisher 
nicht  ergründet  worden  und  wird  niemals  ergründet 
werden.  Die  Phylogenie  anderseits  hat  mit  der  Orga- 
nismenwelt, wenn  auch  nur  in  Bruchstücken,  immerhin 
über  eine  bedeutendere  Breite  ihrer  gegenwärtigen  und 
ehemaligen  Existenz  an  der  Erdoberfläche  zu  thun.  Dem 
Gedanken  von  der  mechanischen  Einheit  der  Aussenwelt, 
diesem  Grundbegriff  der  Physiologie,  setzt  die  Phylogenie 
die  Thatsache  der  Vererbung,  also  die  genetische  Ein- 
heit mit  gleicher  logischer  Berechtigung  entgegen.  Des- 
halb ist  die  Ansicht,  dass  die  Physiologie  wegen  der 
experimentellen  Methode  logisch  wertvoller,  exakter, 
wissenschaftlicher  sei,  als  die  Phylogenie,  eine  Über- 
schätzung, die  nur  geschichtlich  zu  begreifen  ist. 

Bei  der  Verschiedenheit,  womit  die  organische  Natur 
ihre  Quellen  der  Forschung  eröffnet,  werden  wir  auch 
für  die  Anwendung  der  einen  oder  andern  dieser  Syn- 
thesen verschiedene  Gelegenheit  finden.  Die  niederen 
Organisationsstufen,  also  die  unvollkommen  differen- 
zierten Lebewesen  und  die  Zellen  und  Gewebe  der  hö- 
heren, besitzen  eine  grössere  Anpassungsfähigkeit,  sind 
folglich  auch  geeigneter,  experimentelle  Eingriffe  zu  er- 
tragen, versprechen  für  physiologische  Betrachtungsweise 
mehr  Erfolg. 


—     400     — 

Die  höheren  Organisationsstufen,  die  Organe,  Indi- 
viduen und  natürlichen  Verwandtschaftskreise,  besitzen 
eine  geringere  Anpassungsfähigkeit;  ihre  Reaktionen  zer- 
legen sich  ausserdem  in  kompliziertere  Teilerscheinungen. 
Die  Möglichkeit  der  mit  ihnen  in  ihrer  Gesamtheit  an- 
zustellenen  Experimente  ist  gering  im  Vergleich  zu  den 
Möglichkeiten  hei  niedern  Organisationsstufen.  Schon 
die  Lebensdauer  der  höheren  Organisation  erschwert  den 
Versuch  mit  ihr.  Die  Physiologie  hat  sich  daher  auch 
immer  mehr  nach  der  Untersuchung  der  niederen  Or- 
ganisationsstufen gewandt  und  wird  auch  voraussicht- 
lich diesen  Kurs  noch  beibehalten,  der  ihrer  natürlichen 
Entwicklung  entspricht. 

Die  Phylogenie  anderseits  findet  bei  den  niederen 
Organisationsstufen  zwar  leicht  Gelegenheit  zum  Anein- 
anderreihen von  Formen  und  sie  hat  hievon  in  ihrer 
Kinderzeit  auch  reichlich  Gebrauch  gemacht,  bis  man 
die  Beliebigkeit  dieser  Zusammenstellungen  einsah.  Denn 
es  existiert  nicht  die  geringste  Aussicht  auf  eine  solche 
Vervollkommnung  der  erdgeschichtlichen  Urkunden,  dass 
wir  jemals  über  den  wirklichen  Ablauf  der  Differen- 
zierung niederer  Pflanzen  und  Tiere  oder  deren  Teile 
Auskunft  erhalten  werden.  Dagegen  hat  sich  die  Zahl 
der  Dokumente,  welche  den  Ablauf  der  Stammesge- 
schichte bei  den  höheren  Tieren  darthun,  dergestalt  ver- 
mehrt, dass  die  Palaeontologie  wohl  reichlich  die  Hälfte 
der  Argumente  zur  speziellen  Stammesgeschichte  der 
Wirbeltiere  und  ihrer  Organe  gegenwärtig  liefert.  Aber 
wie  vom  Standpunkt  der  Funktion  aus  jede  höhere  Or- 
ganisationseinheit betrachtet  werden  kann,  so  kann  auch 
jede  Funktion  auf  ihre  Entstehung  hin  untersucht  werden. 
Es  giebt  zwar  keinen  Tierstamm,  dessen  Enstehung  wir 
nicht  durch  natürliche  Funktionen  zu  erklären  hätten; 
ebensowenig  aber  gibt  es   eine   Funktion,  die  nicht  ent- 


—     401 

standen  und  von  dem  Entstehen  ihres  Substrates  ab- 
hängig wäre.  Nur  fehlen  uns  dazu  die  Dokumente  und 
wenn  wir  von  den  heute  lebenden  niederen  Wesen  ans 
argumentieren,  arbeiten  wir  mit  Hypothesen,  die  umso 
gewagter  sind,  je  weiter  die  Entstehung  einer  Funktion 
zurückliegt  und  je  geringer  die  Möglichkeit  ist,  dass  wir 
jemals  die  Hypothese  durch  Auffindung  realer  Objekte 
verifizieren  werden.  Die  Phylogenie  hat  sich  daher  na- 
turgemäss  nach  der  Seite  der  höheren  Lebenseinheiten 
hin  ausgebildet  und  wird  ebenso  wahrscheinlich,  wie  die 
Physiologie  in  entgegengesetzter  Richtung,  diesen  Kurs 
vorläufig  beibehalten. 

Immerhin  ist  die  Art,  wie  in  zahlreichen  theoretisch- 
biologischen Werken  gegenwärtig  die  Phylogenie  gering 
eingeschätzt  wird,  nicht  in  einer  logischen  Minderwertig- 
keit der  Phylogenie  selbst  zu  suchen,   wie    man  solchen 
Urteilen  zufolge,  die  übrigens  nie  geschichtlich  begründet 
auftreten,  meinen   sollte.     Sie  hat  vielmehr  ihren  Grund 
darin,    dass    die    Physiologen    die    höheren    Organismen 
wenig  kennen  und  ohne  weiteres    nur  noch   die  simpeln 
Mechanismen  aus  ihnen  herauslesen,  die  so  leicht  an  den 
niederen     Stufen     der    Organisation    festzustellen     sind. 
(Vergl.  pag.  898).     Somit  bringt  es  die  natürliche  Ent- 
wicklung der  Biologie    mit    sich,    dass    beide  Arten  der 
Synthese  auf  verschiedenen  Gebieten  der  Lebewelt  ver- 
schiedene Anwendung  finden,  die  Physiologie  besonders 
auf  die  niedern,  die  Phylogenie  vorwiegend  auf  die  hö- 
heren   Organisationen.      Ausserdem    kommen    aber    der 
Physiologie  noch   weitere  Instanzen    zu    gute,    die   ihrer 
ganzen  Entwicklung  sowohl,  als  auch  ihrem  gegenwärtigen 
wissenschaftlichen  Zustande  für  die  Betrachtung  der  all- 
gemeinen Anatomie  ein  Übergewicht  über  die  PhylogemV 
verschaffen. 


26 


402 


Einmal  ist  schon  die  Anzahl  anatomischer  That- 
sachen,  die  sich  mit  Hinblick  auf  ihre  Funktion 
deuten  lassen,  gross  im  Vergleich  zu  den  phylogenetisch 
deutbaren.  Die  Frage  nach  der  Funktion  findet  auch 
im  naiven  Empfinden  des  Menschen  mehr  Teilnahme, 
als  die  nach  der  Herkunft,  schon  um  des  praktischen 
Wertes  willen,  den  wir  an  sie  knüpfen.  Der  stärkste 
rein  wissenschaftliche  Grund  aber  für  die  Praevalenz 
der  Physiologie  ist  ihr  Anschluss  an  die  exakten  Natur- 
wissenschaften, deren  Durchführung  auf  dem  organischen 
Gebiete  sie  mit  Recht  zu  sein  beansprucht.  Alle  diese 
Gründe  sind  zusammengekommen,  ihr  ein  höheres  Alter, 
tiefere  Durchbildung  und  zahlreichere  Arbeitskräfte  zu 
sichern.  Dies  sind  Umstände,  die  vom  Standpunkt  der 
reinen  Logik  aus  nicht  in  Betracht  kommen,  wohl  aber 
für  den  Einblick  in  die  geschichtliche  Bedingtheit  der 
gegenwärtigen  Konstellation. 

Nehmen  wir  nun  einmal  an,  es  baue  sowohl  die 
Physiologie  als  auch  die  Phylogenie  ihre  Systeme  aus, 
so  fragt  es  sich  weiter,  wie  beide  Systeme  sich  zu 
einander  verhalten  werden.  Die  Palaeontologie  hat  uns 
gezeigt,  dass  aus  den  Landtieren,  von  den  Reptilien 
bis  zu  den  Säugetieren,  wiederholt  Wasserbewohner 
geworden  sind.  Neben  Ichthyosaurus,  dem  klassischen 
Beispiel  hiefür,  sind  eine  ganze  Reihe  von  Wasser- 
Reptilien  bekannt,  die  wir  auf  landbewohnende  Rep- 
tilien zurückzuführen  haben,  so  die  Plesiosaurier, 
Simaedosaurus,  Anguisaurus,  die  Thalattosuchier  und 
die  Pythonomorphen.  Innerhalb  der  Säuger  sind  es 
die  Robben,  die  Meerkühe  und  die  beiden  Gruppen 
der  Waltiere.  An  allen  machen  sich  Organisationsver- 
änderungen bemerkbar,  die  auf  die  Einwirkung  des 
Mediumwechsels  zurückzuführen  sind,  also  auf  einen 
direkten    mechanischen    Grund.      Es    kommen    zum  Teil 


—     403     — 

so  weitgehende  Ähnlichkeiten  zustande,  dass  man  ja 
bis  vor  kurzem  auf  sie  die  Verwandtschaft  zwischen 
Ichthyosauriern  und  Walen  begründen  wollte.  Der  Nach- 
weis der  funktionellen  Einheit,  nämlich  der  Einwirkung 
des  Wasserlebens  auf  ein  Landtier  und  alle  daraus 
folgenden  Konsequenzen  hat  der  stammesgeschichtlichen 
Betrachtung  des  Phänomens  nicht  Eintrag  gethan,  son- 
dern vielmehr  erst  die  Bahn  gewiesen.  Die  alte  Auf- 
fassung, dass,  wie  die  Fische  den  höheren  Wirbeltieren 
vorangehen,  wohl  überhaupt  Wassertiere  den  Landtieren 
vorangegangen  seien,  war  in  ganz  unzulässiger  Weise 
auf  die  Klassen  der  Wirbeltiere  übertragen  worden  und 
so  hatte  man  auch  die  Cetaceen  an  den  Anfang  der 
Säugetiere  gestellt.  Jetzt  ist  diese  Auffassung  als  irrig 
erkannt  und  die  Wasserreptilien  und  Wassersäugetiere 
werden  als  terminale,  als  Endformen  aufgefasst,  die  auf 
mehr  oder  weniger  bekannte  Stämme  von  Landtieren 
zu  beziehen  und  durch  vielfach  nachweisbare  Zwischen- 
glieder mit  ihnen  verbunden  sind.  Aus  diesem  Beispiel 
erhellt  wohl  zur  Genüge,  dass  Phylogenie  und  Physio- 
logie sich  nicht  nur  nicht  stören,  sondern  gegenseitig 
in  ihren  Zwecken  fördern.  Es  kann  diese  Förderung 
sogar  so  weit  gehen,  dass  in  Fällen,  wo  die  stammes- 
geschichtlichen Zwischenglieder  fehlen,  die  physiologische 
Analogie  sie  zu  ersetzen  imstande  ist.  Als  Beispiel 
hiefür  seien  die  Riesenvögel  der  südlichen  Hemisphäre 
angeführt.  Nur  für  eine  Vogelfamilie,  die  Rallen,  kön- 
nen wir  den  Zusammenhang  aberranter,  flugloser  End- 
formen mit  ihren  flugfähigen  Stammformen  nachweisen. 
Und  doch  können  wir  per  analogiam  für  die  sogenannten 
Ratiten  oder  Laufvögel  nur  annehmen,  dass  sie  in  gleicher 
Weise  wie  die  fluglosen  Riesenrallen  aus  flugfähigen 
Vogelfamilien  entstanden  seien.  Anderseits  ist  die  Zahl 
von  Fällen  übergross,  wo  physiologisch  verbundene  That- 
sachen  erst  durch  die  Phylogenie  ihre  Erklärung  finden. 


—      404     — 

Noch  einen  Schritt  weiter  und  wir  verstehen  nun 
auch,  dass,  da  das  reale  Objekt  eines  und  dasselbe  ist, 
ob  wir  es  nach  phylogenetischer  oder  physiologischer 
Richtung  deuten,  es  nebensächlich  wird,  ob  wir  den  einen 
oder  den  andern  Weg  der  Deutung  zuerst  beschreiten 
und  es  ist  somit  nur  von  der  Beschaffenheit  der  be- 
gleitenden Umstände  einer  Untersuchung  abhängig,  ob 
wir  zweckmässiger  die  eine  oder  die  andere  Synthese 
zuerst  vollziehen,  ob  wir  von  unserer  Kenntnis  der 
Aussen  weit  und  ihres  Einflusses  auf  den  Organismus 
ausgehn,  oder  ob  von  der  Thatsache  der  Einheit  aller 
Lebenserscheinungen  auf  Grund  ihrer  Entwickelung.  In 
manchen  Fällen  werden  wir  nur  die  eine  oder  andere 
Deutung  geben  können  ;  selten  beide. 

Üblich  ist  allerdings  noch  die  Nebeneinander- 
stellung: Anatomie  und  Physiologie.  Sie  beruht  auf 
der  Antithese:  Form  und  Funktion,  einem  der  tiefst 
eingewurzelten  und  schon  vom  frühesten  Unterricht  an 
missbrauchtesten  Scholasticismen.  Die  Form  ist  die 
Vorstellung  der  räumlichen  Wirklichkeit.  Auf  ihr 
beruht  die  Möglichkeit  einer  doppelten  Schlussfolgerung: 
Anfang  —  Ende,  Geschichte  —  Funktion,  Ursache 
—  Zweck,  Phylogenie  —  Physiologie.  So  wenig  als 
irgend  ein  Naturforscher  daran  zweifelt,  dass  wir  den 
Zweck  irgend  einer  Organisation  verstelm  werden,  es 
sei  denn  durch  mechanistisch  betrachtende  Physiologie 
ebenso  wenig  ist  daran  zu  zweifeln,  dass  uns  je  eine 
andere  Ursache  der  Organisation  zugänglich  sein  wird, 
als  die  Entstehung  der  gesamten  Lebewelt. 

Nach  dieser  Feststellung  der  logischen  Grundlagen  der 
biologischen  Systematik,  wird  es  klar  sein,  dass  die  Sys- 
tematik der  Teile  des  Individuums  eine  der  der  gesamten 
Individuen  durchaus  ebenbürtige  Aufgabe  für  unsere 
Wissenschaft  ist.    Auch  dies  würde  man  beim  Studium 


—     405     — 

theoretisch -biologischer  Werke  nicht  glauben,  die  in 
dieser  Hinsicht  gewöhnlich,  bestenfalls  an  Bichat  (5)  an- 
schliessen,  wenn  sie  überhaupt  darauf  Wert  legen,  di<; 
obersten  Kategorien  der  biologischen  Logik  darzustellen 
und  gegen  einander  abzuwägen,  was  in  der  neueren  Lit- 
teratur  meist  ganz  unterbleibt.  Woher  dieser  logische 
Sprung?  Die  „zoologische  Systematik"  hat  sich  soeben 
zu  mächtiger  Höhe  erhoben,  indem  sie  sich  aus  einer 
rein  logischen  in  eine  genealogische  umbildete,  Natur- 
geschichte in  des  Wortes  eigentlicher  Bedeutung  wurde, 
Stammesgeschichte  und  Verbreitungsgeschichte.  Sie  legt 
den  höchsten  Wert  auf  die  grossen  Kategorien  des  „Sys- 
tems" und  auf  die  Einteilungsprinzipien.  Nur  ihrer 
Systembildung  thut  sie  die  Ehre  geschichtlicher  Dar- 
stellung und  Begründung  an.  Und  die  Kehrseite  :  Trotz 
der  Auflösung  des  Organismus  in  seine  Teile  und 
Teilchen,  der  Erschliessung  einer  noch  grösseren  Mannig- 
faltigkeit von  Thatsachen,  als  sie  die  Individuen  und 
ihre  Verbände  darboten,  vernachlässigt  die  Zoologie  die 
systematische  Gruppierung  dieser  Thatsachen,  unter- 
schätzt das  System,  sobald  es  unter  der  Schwelle  des 
Individuums  seine  Anwendung  finden  sollte,  vergisst  ihre 
Geschichte  und  ihre  Werte. 

Demnach  erweitern  wir  die  Zoologiegeschichte  nach 
der  Richtung  der  Physiologie  und  „vergleichenden  Ana- 
tomie" nichtnur,  um  sie  selbst  dadurch  zu  ergänzen,  sondern 
es  bedarf  dieser  Erweiterung  auch  im  Dienste  des  logischen 
Ausbaues  der  biologischen  Systematik.  Denn  zur  Kritik 
der  obersten  Begriffe  einer  Wissenschaft  gehört  die  his- 
torische Begründung  und  dem  Naturforscher  sollte  die 
Analogie  zwischen  diesen  obersten  Begriffen  und  den 
elementarsten  Teilen  des  Organismus  am  allerwenigsten 
fremd  und  eine  blosse  Metapher  sein.  Von  einer  durch 
Spezialforschung    zu  erzielenden  Weiterbildung  der  bio- 


-     406     — 

logischen  Systematik  erwarte  man  in  dieser  Hinsicht 
nichts;  denn  sonst  würden  wir  nicht  immer  wieder  das 
Schauspiel  erleben,  dass  mit  der  Notwendigkeit  eines 
Naturereignisses  spezialistisch  und  philosophisch  ge- 
richtete Perioden  sich  ablösen. 

Wir  bemerken  von  vorneherein,  dass  wir  uns  in 
dem  engen  Rahmen,  in  den  uns  die  Gelegenheit  zwingt, 
nicht  eine  ausführliche  Darstellung  der  hier  entwickelten 
Absichten  gestatten  dürfen.  Wir  werden  nur  die  Grund- 
linien in  der  geschichtlichen  Entwicklung  der  physiolo- 
gischen und  „vergleichend  -  anatomischen"  Systematik 
skizzieren,  ihre  gemeinsame  Basis  und  ihre  späteren 
gegenseitigen  Beziehungen.  Die  Anwendung  der  dabei 
erworbenen  Erfahrung  auf  die  biologische  Systematik 
der  Gegenwart  mag  späteren  Ausführungen  vorbehalten 
bleiben. 

Worauf  wir  den  Hauptaccent  verlegt  wissen  möchten, 
das  ist  der  Zusammenhang  der  Systeme  bei  den  hauptsäch- 
lichsten Autoren,  insbesondere  der  grossen  Kategorien 
und  ihrer  Einteilungsprinzipien.  Ferner  die  Auffassung 
der  Autoren  vom  Wert  der  Systeme  im  allgemeinen  und 
endlich  die  auf  die  Autoren  einwirkenden  Einflüsse  der 
materiellen  und  accidentiellen  Umstände. 

-1.  Das  Verhältnis  der  Medizin  geschiente  zur 
Biologiegeschichte. 

Wer  sich  gar  nie  mit  Geschichte  der  Wissenschaften 
beschäftigt  hat.  wäre  geneigt  zu  glauben,  dass  hier  ein 
wohlgepflegtes  Gebiet  wissenschaftlicher  Geschichtsfor- 
schung existiere,  aus  dem  sich  eine  solche  Geschichte  eines 
einzelnen  Problems  leicht  herausschälen  lasse.  Nur  aus 
Verzweiflung,  so  sollte  man  glauben,  sei  das  Spezialisten- 
tum darauf  angewiesen,  Flügelgeäder  von  Insekten  und 


—     407 

Kieselpanzer  von  Diatomeen  zu  beschreiben,  Achsen- 
cylinderquerschnitte  zu  zählen,  endlose  Darstellungen 
von  Experimentreihen  zu  geben  ;  man  sollte  meinen,  es 
sei  dies  nun  einmal  das  düstere  Erbteil  von  uns  Epi- 
gonen, da  in  den  grossen  Angelegenheiten  „nichts  mehr 
zu  machen"  sei.  Ein  solcher  Standpunkt  verrät  nur, 
dass  das  immense  Gebiet  der  Wissenschaftsgeschichte 
nicht  nur  unbekannt  ist,  sowohl  seinem  gegenwärtigen 
Zustande,  als  auch  seinen  Zielen  und  Aufgaben  nach, 
sondern,  dass  das  Spezialistentum  geradezu  noch  ver- 
hindert, dass  wir  von  seinen  Vertretern  das  philosophisch 
Interessante  aus  ihren  Gebieten  erfahren.  Von  der  Ge- 
schichte der  anorganischen  Wissenschaften,  der  wir  ober- 
flächlicher Kenntnis  nach  eine  sorgfältigere  Durch- 
arbeitung zutrauen,  sei  hier  nicht  die  Rede,  wohl  aber 
von  der  Geschichte  der  Biologie,  speziell  der  zoolo- 
gischen. Ihren  Zustand  haben  wir  einleitungsweise  cha- 
rakterisiert ;  jetzt  aber  müssen  wir  anknüpfend  an  das 
dort  Gesagte  noch  einen  naheliegenden  Einwurf  erledigen, 
den  man  uns  nach  näherer  Präzisierung  der  Fassung, 
die  wir  den  Teilen  unserer  Wissenschaft  gegeben  haben, 
machen  könnte.  Mau  wird  uns  nämlich  belehren,  dass  die 
Geschichte  der  Biologie  und  insbesondere  der  allgemeinen 
Anatomie  und  der  auf  ihr  aufbauenden  Physiologie  und 
„vergleichenden  Anatomie"  nach  dem  berühmten  Muster 
Hallers  auch  bei  spätem  Medizinhistorikern  berücksichtigt 
sei.  ^Wenn  dies  auch  für  gewisse  Gebiete  aus  der  Ge- 
schichte der  Biologie  gilt,  so  ist  aber  einmal  damit  nicht 
gesagt,  dass  den  Mediziner  diejenigen  Facta  interessieren, 
die  auch  den  philosophischen  Biologen  angehen,  und 
zweitens,  kann  dasselbe  Factum  eine  ganz  verschiedene 
Deutung  erfahren,  je  nachdem  wir  es  medizin-historisch 
oder  biologie-historisch  deuten  und  verbinden.  Es  wäre 
undankbar  und  ungerecht,  wollten  wir  nicht  anerkennen, 


408 

dass  die  Medizingeschichte  dem  Biologen  auch  in  ihrer 
heutigen  Form  über  die  Geschichte  seiner  Wissenschaft 
viel  Interessantes  bietet.  Aber  man  übersehe  nicht  die 
natürliche  Trennung  zwischen  der  Geschichte  der  medi- 
zinischen Praxis  und  der  Geschichte  der  in  mehr  oder 
weniger  engern  Anschluss  an  medizinische  Praxis  ent- 
standenen selbständigen  Biologie.  Dass  es  zweierlei  sei, 
die  Natur  um  der  Praxis  willen  und  sie  um  der  „Weis- 
heit" willen  zu  studieren,  dafür  war  bereits  unter  den 
Hippokratikern  das  Bewusstsein  lebendig  und  wir  sollten 
uns  heute  bei  der  Geschichtsbetrachtung  der  Einsicht 
in  diese  Scheidung  verschliessen?  So  besitzen  wir  denn 
also  erst  Geschichte  der  Medizinpraxis  und  dem  ent- 
spricht auch  der  Zustand  der  Geschichte  der  Anatomie  : 
Sie  ist  vorwiegend  antiquarisch  betriebene  Sammlung 
menschlich-anatomischer  Beobachtungen,  ferner  etwas 
Geschichte  des  anatomischen  Unterrichts  und  der  Kunst- 
anatoinie.  Sie  lässt  uns  im  Stich  für  die  Entwicklung 
der  Ideengänge  der  allgemeinen  Anatomie  und  deren 
Beziehungen  zu  denjenigen  der  Philosophie. 

Die  Nichtexistenz  einer  Physiologiegeschichte  hat 
schon  Preijer  (42)  ausdrücklich  beklagt.  So  vortrefflich 
sein  eigener  Versuch  war,  diesem  Übelstande  durch  eine 
frisch  geschriebene  Skizze  abzuhelfen,  so  lässt  sich  doch 
ermessen,  dass  in  ihr  die  wichtigsten  Entdeckungen  schon 
den  meisten  Raum  einnahmen  und  dass  bei  ihrer  Aus- 
dehnung auf  nur  37  kleine  Seiten  die  Geschichte  der 
physiologischen  Systematik  kurz  wegkam. 

5.  Die  Entwicklung  der  physiologischen  Systematik. 

•  iemäss  unsern  Ausführungen  über  die  Prävalenz 
der  Physiologie  (pag.  402)  schicken  wir  die  Entwicklung 
der  Grundzüge  des  physiologischen  Systems  voraus. 
Hiebei    ist    zu    beachten,  dass    im  Anfangszustande    der 


—     409 

Wissenschaft  Physiologie  und  „vergleichende  Anatomie" 
sich  inniger  berührten,  da  ja  die  Thatsachen  für  beide 
Gedankenreihen  näher  beisammen  und  an  Zahl  relativ 
gering  waren,  da  ferner  für  die  Physiologie  das  Experi- 
ment nur  in  seinen  einfachsten  Formen  vorhanden  und 
der  Anschluss  an  die  medizinische  Praxis  in  weit  höherem 
Maasse  gegeben  war,  als  bei  der  spätem  Entwicklung 
unserer  Wissenschaften.  Ferner  existierte  Systematik  in 
Umfang  und  Inhalt  des  heutigen  Begriffs  noch  nicht. 
Sie  ist  erst  eine  Schöpfung  der  Schola,  der  auch  die 
freiesten  Denker  neuerer  Zeit  ihren  Tribut  entrichteten. 
Hat  doch  kein  geringerer  als  Hœckel,  insbesondere  in 
seiner  generellen  Morphologie  und  seiner  systematischen 
Phylogenie,  durch  virtuose  Anwendung  dieses  logischen 
Instrumentes  seine  dauerndsten  Erfolge  erzielt. 

Bei  Aristoteles  (1,2)  durchdringen  sich  drei  biolo- 
gische Systeme,  welche  auch  in  der  Konfiguration  der 
heutigen  biologischen  Systematik  sich  erhalten  haben. 
Einmal  die  x4.bstufung  der  gesamten  Lebewesen,  welche 
die  Grundlage  unserer  heutigen  Klassifikation  bildet. 
Hierüber  haben  wir  uns  im  Einzelnen  nicht  zu  ver- 
breiten, da  diese  Beziehungen  ausser  Diskussion  und 
in  den  Geschichtswerken  der  Zoologie  genügend  gewürdigt 
sind.  Aristoteles  war  nicht  der  erste  Zootoni,  denn  seine 
Einteilung  der  Teile  der  Tiere  in  gleichartige  und  un- 
gleichartige hat  er  von  Anaragoras  übernommen.  Aber 
bei  ihm  tritt  uns  zuerst  die  doppelte  Orientierung  der 
„vergleichenden  Anatomie"  entgegen.  Einmal  benutzt  er 
sie  zur  Herstellung  seiner  yévq  /.téyiata,  der  grössten  Tier- 
gruppen, also  genau  so,  wie  sie  heute  noch  dient.  Ausser 
dem  aristotelischen  Tiersystem  kommt  aber  auch  ein 
anatomisches  System  zum  Ausdruck,  das  dem  System 
der  Individualstufen  Hœckels  seinem  Prinzip  nach  wenig- 
stens gleicht:    Der  Organismus    baut  sich    auf  aus  Ele- 


410 

menten,  Geweben,  Organen.  Zwischen  die  Lehre  von 
den  letzteren  und  die  Schilderung  des  Gesamtorganis- 
nius  schiebt  sich  —  bezeichnend  genug  für  das  ästhetisch 
betrachtende  Auge  des  Griechen  —  eine  Proportions- 
lehre  ein. 

Dann  aber,  und  hierin  zeigen  sich  die  Anfänge 
einer  wissenschaftlichen  Synthese  der  zootomischen  That- 
sachen  in  physiologischer  Richtung,  konstatiert  Aristoteles 
die  Übereinstimmung  gewisser  Funktionen  auf  Grund 
ähnlicher  Organisation.  Er  umschreibt  die  Aufgabe,  die 
allen  Lebewesen  oder  einem  Teil  derselben  gemein- 
samen Zustände  festzustellen  und  kommt  dadurch  zu 
seinen  biologischen  Allgemeinbegriffen:  Gemeinsam  sind 
Pflanzen  und  Tieren  die  Funktion  der  Ernährung,  den 
Tieren  allein  kommen  zu  Bewegung  und  Empfindung, 
dem  Menschen  endlich  die  Vernunft.  Sein  Prinzip  „den 
Anfang  damit  zu  machen,  dass  man  zuerst  die  Erscheinuni) 
erfasse,  dann  aber  erst  ihre  Ursachen  angebe  und  über 
ihre  Entstehung  rede",  enthält  die  Grundlage  aller  bio- 
logischen Systematik,  eine  Grundlage,  die  unsern  Be- 
griffen Anatomie,  Physiologie  und  Phvlogenie  entspricht. 
Das  unumwunden  anzuerkennen,  sollten  uns  nicht  die 
spätem  Umdeutungen  hindern,  welche  darin  bestehen, 
dass  die  „Ursache"  auf  Grund  der  modernen  Mechanik 
in  die  Aussenwelt  verlegt  wurde  und  der  Begriff  der 
Entstehung  auf  Grund  der  Entwicklungslehre  eine  ge- 
waltige Erweiterung  erfuhr.  Dass  Aristoteles  weit  über 
alle  seine  speziellen  physiologischen  und  anatomischen 
Kenntnisse  hinaus  diese  Systematik  begründete,  ist  ein 
seiner  Begründung  der  zoologischen  Systematik  min- 
destens ebenbürtiges   Verdienst. 

Noch  im  Altertum  trat  dieser  rein  philosophisch 
gedachten  und  nur  in  der  Tiergeschichte  didaktischen 
Zwecken  angepassten  allgemeinen  Anatomie  eine  solche 


—     411     — 

an  die  Seite,  die  den  Ursprung  der  Praxis  anatomischen 
Unterrichts  an  der  Stirn  trägt,  diejenige  Galens  (2.1). 
Sie  hat  sich  auch  mit  wenigen  Modifikationen  nicht  nur 
innerhalb  ihrer  Sphäre  erhalten,  wo  sie  schwerlich  durch 
hesseres  zu  ersetzen  sein  dürfte,  sondern  durch  selt- 
samen Zufall  ist  es  ihr  auch  jetzt  noch  möglich,  die 
Grenzen  ihrer  Domäne  zu  überschreiten.  In  den  Büchern 
de  anatomicis  administrationibus  schuf  Galen  die  Reihen- 
folge: Knochen,  Bänder,  Muskeln,  Nerven,  Gefässe,  Ein- 
geweide, Herz,  Lungen,  Gehirn,  immerhin  weit  entfernt 
davon,  dass  er  sie  in  klarer  Aufeinanderfolge  darböte. 
Diese  Systematik  hat  die  Folgezeit  beherrscht  und  ragt 
noch  tief  in  die  Neuzeit  hinein.  Sie  beruht  darauf,  dass 
das  Skelett  gewissermassen  als  das  Unvergängliche, 
Starre  nun  einmal  für  den  Unterricht  die  Grundlage 
bilden  musste  und  dass  zuerst  die  mit  ihm  in  direkter 
Verbindung  befindlichen  Teile  abgehandelt  wurden.  Erst 
dann  folgten  die  Eingeweide  im  weiteren  Sinne  desWortes. 
Schon  hier  aber  war  von  jenem  Gedanken,  den  Men- 
schen unter  denselben  Gesichtspunkten  zu  betrachten, 
wie  die  übrige  Welt,  nichts  mehr  zu  verspüren  und  wir 
würden  schon  oft  Wiederholtes  aussprechen,  wollten  wir 
nachweisen,  wie  stark  diese  praktische  Auffassung  mensch- 
licher Anatomie  Galen  für  das  christliche  Mittelaltei 
prädestinierte.  Auch  in  Bezug  auf  seine  physiologische 
Systematik  blieb  er  (20)  weit  hinter  Aristoteles  zurück 
und  völlig  im  Banne  der  Praxis.  Seine  Unterscheidung 
der  Hauptfunktionen  in  animalische,  vitale  und  naturale 
und  deren  weitere  Gliederung  bezeichnet  lediglich  einen 
Rückschritt  und  ein  Hindernis,  das  sich  auch  noch  zu 
Beginn  der  Neuzeit  dem  aristotelischen  System  und 
seiner  weiteren  Entwicklung  in  den  Weg  stellte.  Später 
hörte,  wie  bei  Ricardus  Ang/icus  (43)  überhaupt  jede 
Ordnung  in  der  anatomischen  Darstellung  auf. 


4lL> 


Es  erscheint  heute  nicht  leicht,  den  Restauratoren 
der  Anatomie  gerecht  zu  werden,  wenn  wir  ihre  Systeme 
mit  dem  Galeri'schen  vergleichen.  Von  den  vorvesalischen 
Anatomen  der  Neuzeit  ordnete  noch  Guido  (45)  seinen 
Text  der  Anatomie  so:  Kopf,  Hals,  Rücken,  Arm, 
Brust,  Bauch,  Bein,  also  nach  den  äusserlich  sichtbaren 
Regionen.  Mundinus  begann  mit  den  Ventres  :  Bauch 
höhle,  Brusthöhle,  Schädelhöhle  und  deren  Inhalt  und 
gieng  alsdann  zu  den  Extrema  über,  die  er  nach  ihren 
Muskeln,  Gefässen,  Nerven  und  Knochen  beschrieb. 
Dieselbe  Systematik  behält  ßerengar  (11)  bei.  Sie  trägt 
doch  wenigstens  den  Stempel  einer  Ordnung,  wenn  auch 
einer  rein  praktischen,  nämlich  der  Reihenfolge,  in  der 
die  Leichenzergliederung  vor  sich  ging. 

Man  wird  auch  dieser  Systematik  der  vorvesalschen 
Anatomen  nicht  seine  Anerkennung  versagen  wollen, 
wenn  man  in  Rücksicht  zieht,  dass  sie  gewissermassen 
nur  ein  Begleitwort  zur  Sektion  selbst  bildete  und  falls 
sie  nichts  anderes  zu  sein  beansprucht.  Den  Grund- 
gedanken der  Biologie  wird  natürlich  mit  ihr  keineswegs 
entsprochen  und  deshalb  durfte  sie  auch  keine  Anwen- 
dung finden  auf  nicht  der  Sektionspraxis  dienende  Ana- 
tomie. Deshalb  mutet  es  uns  sonderbar  genug  an,  wo 
wir  diesem  System  in  Werken  mit  wissenschaftlichen 
Prätensionen  später  noch  begegnen.  So  handelt  Th.  Lautli 
(34)  in  seiner  Geschichte  der  Anatomie,  dem  umfang- 
reichsten Werk  dieser  Art,  das  Gehirn  bei  den  Ein- 
geweiden ab  und  die  Geschichte  der  Hirnforschung  in 
der  Geschichte  der  Splanchnologie,  ein  deutlicher  Beweis, 
wie  eine  solche  Schablone  noch  über  Jahrhunderte  hin- 
aus fortwirkt  ! 

Dem  gegenüber  kehrt  Vesal  (54)  zu  Galen  zurück. 
Die  Bücher  seiner  Fabrica  tragen  folgende  Überschriften: 
I.  Knochen,    II.  Ligamente    und  Muskeln,    III.  Nerven 


—     413     — 

und  Arterien,  IV.  Nerven,  V.  Ernährungsorgane  und 
Genitalien,  VI.  Herz  und  Lunge,  VIT.  Zentralnerven- 
system und  Sinnesorgane. 

Man  hat  wohl  die  vielen  Unterschiede,  welche  Vesal 
von  Galen  trennen,  mit  Recht  genügend  hervorgehoben. 
Aber  auch  abgesehen  von  der  Rückkehr  zu  Galens 
Systematik,  hat  Vesal  an  vielen  und  wesentlichen 
Punkten  seinen  Nachfolgern  den  Fortschritt  von  Galen 
und  dem  nächsten  Augenschein  zu  neuen  Verallgemeine- 
rungen überlassen  und,  wenn  auch  seine  Verdienste  um 
die  menschliche  Anatomie  kaum  hoch  genug  anzuschlagen 
sind,  so  war  es  Severino,  der  die  vergleichende  Anatomie 
umgestaltete,  Enstachiiis,  Aldrovandi  und  Coüer,  die  die 
Embryologie  begründeten,  Varolius  der  die  Sektions- 
technik des  Gehirns  von  Galen  befreite  und  die  Kennt- 
nis dieses  Organs  um  vieles  mehr  bereicherte  als  Vesal. 

Während  wir  die  Physiologie  noch  völlig  im  Dienste 
der  Medizin  auf  Grund  Galens  und  damaliger  Schulen 
verankert  finden  und  anderseits  das  praktische  System 
Vesals  die  Schulanatomie  beherrschte,  bildete  sich,  schein- 
bar ganz  spontan,  bei  C.  Varolius  (52)  ein  System  der 
Anatomie  aus,  das  geschichtlich  überaus  interessant  ist. 

In  der  methodischen  Einleitung  zu  seinen  vier  Büchern 
Anatomie,  die  etwa  um  1570  entstanden  sein  mögen,  ver- 
weist er  für  die  Kenntnis  der  Knochen,  Membranen,  Bän- 
der, Knorpel,  Gefässe  und  „solcher  Art  Teile,  die  nur 
der  „Fachmann'-  zu  kennen  braucht",  auf  andere  Werke. 
Ihm  liegt  vielmehr  daran,  das  hervorzuheben,  was  den 
Seelenkräften  als  Werkzeug  dient  und  den  „Edelmann 
und  Philosophen"  interessieren  kann.  Aus  dem  Prinzip 
des  obersten  Organs  heraus  soll  die  Notwendigkeit  der 
andern  schrittweise  verständlich  gemacht  werden.  Er 
handelt  seine  Anatomie  nach  folgenden  Kategorien  ab  : 
I.Buch:  Nervensystem,  Sinnesorgane,  Bewegungsapparat. 


—     414     — 

II.  Buch:  Lebenswärme  und  Herz.  Respiration  und  Lunge. 

III.  Buch:  Digestion  und  Excrétion.  IV.  Buch:  Zeugung 
und  Entwicklung. 

Hiebei  haben  wir  nicht  seine  einzelnen  Kapitel- 
überschriften wiedergegeben,  sondern  uns  begnüg!,  den 
Inhalt  unter  grössere  beute  geläufige  Rubriken  zu  sub- 
summieren. 

Dieses  System  konnte  nur  von  einem  aus  der  ari- 
stotelischen Schule  hervorgebenden  Anatomen,  konzipiert 
werden  ;  denn  es  gibt  den  Grundgedanken  der  aristote- 
lischen Systematik,  wenn  auch  in  der  durch  das  Mittel- 
alter umgekehrten  Reihenfolge  wieder.  Varolius  will  auch 
Philosoph  sein,  ja  er  ist  als  der  erste  Begründer  einer 
bewussten  „Anatomie  philosophique"  der  Neuzeit  zu 
bezeichnen.  So  verlegt  er  denn  den  Hauptaecent  auf 
den  Menschen  und  deduziert  von  ilim  aus  alle  die 
Funktionen  allgemeinster  Art,  die  das  ausgehende  Alter- 
tum als  Frucht  seiner  Beobachtungen  in  ihn  hinein- 
verlegt hatte.  Der  einzige  wesentliche  Unterschied  im 
Vergleich  zu  Aristoteles  ist  der,  dass  Varolius  im  An- 
schluss  an  Galen  und  die  alexandrinische  Schule  und  in 
Übereinstimmung  mit  seinem  Zeitgenossen  Realdus  Co- 
lumbus  im  Hirn  und  nicht  im  Herzen  das  Seelenorgan 
erblickt.  Mit  dieser  Systematik  der  Anatomie  trifft  aber 
Varolius  nicht  allein  den  Menschen.  Ebenso  zutreffend 
hätte  seine  Einteilung  an  niederen  Tieren  abgeleitet 
werden  können.  Eben  darum  ist  sie  auch  eine  allgemein 
anatomische.  Darin  auch  liegt  der  tiefgreifende  Unter- 
schied im  Vergleich  zu  dem  didaktischen  Anatomiesystem 
von  Galen  und  zu  dem  sektionstechnischen  der  Restau- 
ratoren. Varolius  starb  früh,  seine  wenigen  ausgezeich- 
neten Schriften  wurden  erst  1591  publiziert.  Die  folgen- 
den Anatomen  aber  lehnten  sich  in  ihren  Systemen 
entweder  an  das  der  Restauratoren  oder  an  das  Galens 


415     — 

an.  Severino's  |4(J)  Schritten,  welche  ebenfalls  aristote- 
lische Grundlage  verrieten,  konnten,  da  sie  erst  1645 
zur  Publikation  gelangten,  keinen  Einfluss  auf  die 
Weiterbildung  der  anatomischen  Systematik  ausüben. 

Einen  solchen  können  wir  erst  da  konstatieren,  wo 
der  Cartesianismus  die  Erbschaft  von  Aristoteles  über- 
nahm und  auf  ein  erweitertes  anatomisches  Substrat  fiel. 
In  derselben  Zeit  da  Severinos  Zootomia  Democritsea 
erschien,  regte  sich  allerorts  die  Zootomie.  Es  ist  die 
Periode  der  Akademiegründuugen  und  der  Tiergärten, 
voran  stand  Paris  mit  dem  Jardin  du  Roy  und  den 
Anatomien  der  Tiere  im  Schosse  der  französischen  Aka- 
demie, über  die  uns  noch  heute  der  später  erschienene 
stattliche  Band  informiert  (37).  Die  Seele  der  zootomischen 
Bestrebungen  in  Paris  ist  Ckmde  Perrault  (41),  der 
Lionardo  Frankreichs.  Seine  breiten  Spezialkenntnisse 
in  der  Tierzergliederung  fanden  in  der  cartesianischen 
Philosophie  ordnende  Prinzipien.  Unter  allen  mensch- 
lichen Kenntnissen  ist  die  der  Lebewesen  die  schönste. 
Die  Punktionen,  welche  den  Inhalt  dieser  Kenntnisse 
bilden,  werden  durch  die  Organe  hervorgebracht.  In 
diese  erlangen  wir  durch  Vergleichung  mit  Mechanismen 
einen  Einblick.  So  empfindet  Perrault  und  stellt  sich 
daher  die  Aufgabe,  die  Prinzipien  der  Mechanik  nicht 
nur  durch  die  anorganische,  sondern  auch  durch  die 
organische  Natur  hindurchzudenken.  Dabei  gibt  er  für 
eine  Menge  von  Einrichtungen  des  Tierkörpers  die  Er- 
klärung ihrer  Funktion  in  dem  Umfange  des  heutigen 
Elementarunterrichtes  in  Zoologie.  Als  Einteilungs- 
prinzip für  die  organische  Mechanik  verwendet  er  die 
Funktionen  allgemeinster  Art  und  kommt  dabei,  ob 
bewusst  oder  unhewusst  ist  nicht  anzugeben,  aber  von 
andern  Gesichtspunkten  aus  auf  ähnlich  grösste  Kate- 
gorien wie  Aristoteles.     Gemeinsame  Grundfunktion  für 


416     — 

Pflanze  und  Tier  ist  der  Stoffwechsel;  den  Tieren  allein 
kommt  zu  Bewegung  und  Empfindung,  also  Kraftwechsel. 
Zeugung  und  Entwicklung  lässt  er  als  keinem  Mechanis- 
mus vergleichbar  noch  aus  dem  Spiel.  Sowohl  die  Wert- 
schätzung Perraults,  der  die  Kenntnis  der  Funktionen 
als  den  wesentlichen  Inhalt  der  Naturkenntnis,  wie  auch 
die  Meinung,  dass  die  Organe  nur  um  der  Funktion 
willen  da  seien,  folglich  die  Anatomie  um  der  Physio- 
logie willen,  sind  bis  auf  den  heutigen  Tag  nachwirkende 
Cartesianismen,  die  sich  durch  die  Jatromechanik  bis 
in  die  gegenwärtige  Physiologie  hinein  als  Dogmen  er- 
halten haben.  Man  würde  also  Perrault  nach  heutigem 
Sprachgebrauch  als  Schöpfer  der  „vergleichenden  Phy- 
siologie" bezeichnen. 

Sein  wissenschaftliches  Postulat  würde  lauten  :  Er- 
klärung des  Organismus,  seiner  Funktionen  und  Formen 
durch  die  Aussenwelt  ;  damit  entspricht  es  vollauf  den 
Prinzipien  der  physiologischen  Synthesenbildung.  Nun 
dachten  aber  seine  Nachfolger  aus  dem  Lager  des  fran- 
zösischen Materialismus  diesen  Gedanken  weiter  ins 
Molekularmechanische.  Ganz  besonders  eigneten  sich 
auch  die  Gebiete  der  Zeugung  und  Entwicklung,  die 
Perrault  aus  dem  Spiele  gelassen  hatte,  hiefür.  Ja  noch  bei 
liiijjon  (8),  wo  zum  zweiten  Male  ein  mächtiger  Zu- 
wachs an  Tierkenntnis  geschah,  und  durch  ihn  auf  alle 
weitere  Zukunft,  kommen  dieselben  Gedankengänge  zum 
Vorschein,  die  sich  von  1640  an  ausgebildet  hatten. 
Wie  uns  Bichat  selbst  sagt,  war  es  Grimaud,  der  Phy- 
siologe in  Montpellier,  welcher  die  Einteilung  der 
Funktionen  von  Aristoteles  und  Buffon  übernahm  und 
Aveiterbildete,  bevor  Biohat  mit  der  seinigen  aultrat. 
Doch  geht  aus  alledem  nur  hervor,  dass  die  Auffassung 
der  physiologischen  Prinzipien  Claude  Perraults  Gemein- 
gut des  französischen  Cartesiani-mus,  der  aus  ihm  her- 


417 


vorgegangenen  Schule  von  Montpellier  und  der  Pariser 
Zoologie  von  Buffern  bis  Bichat  wurde.  Auch  Vicq  d'Azyr 
(53),  der  ein  unausgebautes  System  der  Funktionen 
hinterlassen  hat,  lehnt  sich  vorwiegend  hier  an,  wenn 
auch  bei  ihm  ein  weiterer  Faktor,  dessen  später  zu  ge- 
denken sein  wird,  ins  Spiel  kommt.  Schon  war  das 
aristotelische  Funktionssystem  gefährdet  durch  den  Aus- 
bau der  Zoologie  und  der  vergleichenden  Anatomie  in 
Paris,  als  auf  Grund  neuer,  dem  gesunden  und  kranken 
Menschen  entnommener  Erfahrungsthatsachen  ein  gewal- 
tiges systematisches  Talent,  Bichat  (5)  es  stützte  und 
erweiterte.  Bichats  Einteilung  der  Funktionen  und  der 
Organe  nach  ihnen  ist  bekannt.  Schon  die  Bezeichnungen 
vegetativ  und  animalisch  gehn  auf  die  aristotelische  De- 
finition der  Pflanzen  und  Tiere  nachweisbar  zurück,  auch 
wenn  Bichat  die  vegetativen  Funktionen  als  organische 
bezeichnet.    Seine  Einteilung  der  Verrichtungen   lautet  : 

I.  Verrichtungen,  welche  sich  auf  das  Individuum  beziehen  : 

1.  Verrichtimg  en  des  tierischen  Lebens: 

A.  Sensationen. 

B.  Hirnverrichtungen. 

C.  Bewegungen. 

D.  Stimme  etc. 

E.  Fortpflanzung  durch  Nerven. 

2.  Verrichtungen  des  organischen  Lebens: 

A.  Verdauung. 

B.  Atmung. 

C.  Kreislauf. 

D.  Aushauchung. 

E.  Einsaugung. 

F.  Absonderung. 

G.  Ernährung. 

H.   Wärmeerzeugung. 

27 


418 


II.  Verrichtungen,   welche   sich   auf   die  Gattung    beziehen: 

Zeugung  etc. 

Hiebei  ist  bereits  ein  Faktor  im  Spiel,  den  wir 
rückgreifend  noch  zur  Sprache  bringen  müssen.  Das 
ganze  Jahrhundert  hindurch  hatte  die  Expérimental- 
physiologie,  namentlich  seit  ihrem  Ausbau  durch  Haller 
(28)  mit  steigender  Macht  sich  zur  Geltung  gebracht.  Sie 
musste  auch  in  die  Systeme  einbrechen  und  wäre  es  nur 
gewesen,  weil  die  zahlreichen  Experimente  erwähnt  wer- 
den wollten  und  Kapitelüberschriften  erforderten.  So 
schon  bei  Vicq  d'Azyr,  so  auch  hier  wiederum  bei  Bichat. 
Das  System  wurde  dadurch  entwertet,  dass  es  unter  den 
Einfluss  der  litterarischen  Stoffverteilung  geriet  und  zur 
Kapiteleinteilung  herabsank.  Etwas  ähnliches  liesse  sich 
schon  bei  Varolius  konstatieren.  Von  Haller  an  war  es 
selbstverständlich.  So  sind  denn  auch  bei  Bichat  Stimme 
und  Nervenleitung  den  Sensationen,  Hirnverrichtungen 
und  Bewegungen  coordiniert,  statt  in  sie  eingereiht  zu 
werden.  Noch  stärker  lockert  sich  das  System  der 
organischen  Funktionen.  Hier  wie  auch  in  andern  Fragen 
der  elementaren  Auffassung  der  Biologie  z.  B.  in  der 
Verlegung  des  Schwergewichts  von  der  Organologie  in 
die  Histologie  brachte  dieser  impulsive,  aber  unaus- 
gereifte  Genius  Verschiebungen  zustande,  die  seither 
unbesehen  hingenommen  wurden.  „La  vie  est  l'ensemble 
des  fonctions  qui  résistent  à  la  mort,"  lautet  seine  be- 
kannte Definition  ;  aber  so  sehr  er  bemüht  war,  dieses 
Ensemble  zu  betonen  durch  ein  System  der  Funktionen, 
so  hat  er  doch  sich  nicht  ganz  von  dem  äusseren  Ap- 
parat   zur    Ergründung    der    Einzelheiten    losgerungen. 

Auch  ein  anderer  Einfluss  von  aussen  wirkte  auf 
die  physiologischen  Systeme  dieser  und  der  nachfolgen- 
den Zeit  mächtig  ein,  das  Erwachen  der  Chemie,  welches 


—     419 

insofern  zur  Rückkehr  auf  Aristoteles  verführte,  als  man 
nun  begann  den  Gedanken,  dass  die  Gewebe  aus  Ele- 
menten zusammengesetzt  seien,  im  Sinne  der  modernen 
Chemie  zu  interpretieren.  Man  suchte  nach  einer  biolo- 
gischen Einheit,  da  die  H  aller' sehe  Faser  versagt  hatte 
und  fand  sie  nun  im  Stoff,  lange  bevor  es  dazu  kam, 
dass  man  sie  in  der  Zelle  erkannte.  So  kam  die  Syste- 
matik von  Dumas  (17)  zustande  und  auch  Joli.  Müller 
(39)  ist  von  dem  Eindruck  der  chemischen  Entdeckungen 
so  überwältigt,  dass  er  seine  Physiologie  mit  dem  stoff- 
lichen Substrat  beginnt;  auch  folgt  ihm  Wundt  (57)  unter 
Einbeziehung  der  Zellenlehre. 

Das  Gleichgewicht  der  physiologischen  Systematik 
stellten  erst  ßichats  Nachfolger  wieder  her:  Magendie 
(35),  Richerand  (44)  und  H.  M  Une- Edwards  (38). 

Magendie  möge  hier  selbst  zu  Worte  kommen  : 
„Ohne  uns  hier  bei  einer  Aufzählung  der  verschiedenen 
zu  verschiedenen  Zeiten  der  Wissenschaft  angenommenen 
Einteilungen  aufzuhalten,  wollen  wir  bemerken,  dass  man 
die  Funktionen  unterscheiden  kann  in  solche,  deren 
Zweck  ist,  uns  in  Verbindung  mit  den  umgebenden 
Gegenständen  zu  setzen,  in  solche,  welche  die  Ernährung 
und  in  solche,  welche  die  Wiedererzeugung  der  Gattung 
bezwecken. 

Wir  werden  die  ersteren  Beziehungsfunktionen 
(fonctions  de  relation),  die  zweiten  Ernährungsfunktionen 
(fonctions  nutritives)  und  die  letzten  Zeugungsfunktionen 
(fonctions  génératrices)  nennen." 

Richerand  hatte  das  Verdienst,  Hallers  Gewebe- 
physiologie nachdrücklich  bekämpft  zu  haben,  insbesondere 
die  Lehre  von  der  tierischen  Faser,  welche  für  den 
Physiologen  dieselbe  Bedeutung  haben  sollte,  wie  die 
Linie  für  den  Geometer.  Er  opponiert  auch  gegen  Vicq 
d'Azgrs  Systematik,  worin    unter  H aller schein   Einfluss 


—     420     — 

Irritabilität  und  Sensibilität  als  besondere  Funktionen 
aufrückten.  Nach  einer  Kritik  der  Bichat'&ch&n  Bezeich- 
nungen organisch  und  animalisch,  nimmt  er  die  Magen- 
die'schen  Bezeichnungen  an  und  diskutiert  den  Wert 
weiterer  Gliederungen  der  Funktionen  in  geradezu  klas- 
sischer Klarheit,  wenn  auch  mit  beinahe  totaler  Blind- 
heit für  die  Genese  der  organischen  Natur,  für  die  Ent- 
wicklungsphilosophie, die  damals  in  Deutschland  bereits 
aus  dem  Stadium  nüchterner  Fruchtbarkeit  heraus- 
getreten und  in  eine  Orgie  ausgeartet  war. 

An  Magendie  und  Richerand  schloss  sich  direkt 
des  ersteren  Mitarbeiter  und  Schüler  H.  Milns-Edwards 
an.  Ihm  war  allerdings  A.  Dugès  (16)  mit  der  Durch- 
führung einer  vergleichenden  Physiologie,  worin  er  die 
Ideen  von  Richat,  Geoffroy  (24),  Cuvier  und  der  Meta- 
merentheoretiker  von  Montpellier  eklektisch  verarbeitete, 
vorgeeilt.  Mi  Ine- Edwards  nun  gestützt  auf  die  umfassend- 
sten Kenntnisse  der  Zootomie,  die  wohl  je  in  einer  Person 
sich  vereinigten,  ausgerüstet  mit  allen  Hilfsmitteln  und 
die  gesamte  Litteratur  bis  auf  seine  Zeit  kritisch  über- 
blickend, schuf  das  grundlegende  Werk  der  vergleichen- 
den Physiologie  und  Anatomie,  dem  kein  späteres  an 
Breite  des  Erfahrungsmaterials  und  Sorgfalt  der  Aus- 
wahl und  Darstellung  an  die  Seite  zu  stellen  ist.  Auch 
darin  gliederte  er  den  Stoff  nach  den  Prinzipien  der 
physiologischen  Systematik  seiner  Lehrer  und  Vorgänger, 
deren  vorwiegend  menschliche  Physiologie  er  zu  einer 
allgemeinen  Physiologie  erweiterte.  Er  bildet  damit  das 
Endglied  in  der  langen  Reihe  physiologischer  Systema- 
tiker, die  wir  bisher  durchgangen  haben.  Einen  Versuch 
in  derselben  Richtung,  aber  hinter  Mi  Ine- Edward  s  weit 
zurückstehend,  besitzt  auch  die  deutsche  Litteratur  in 
dem  Werke  von  Bergmann  und  Leuckart  (58).  Aber  nicht 
Mi  Ine- E<l  war  ds    ist    für    die     nachfolgende    Physiologie 


421 


grundlegend  geworden,  sondern  ein  anderer  Schüler 
Magendies,  Claude  Bernard  (3.  4).  Seine  Anschauungen 
über  allgemeine  Physiologie  sind  von  doppeltem  Wert  : 
einmal  vermitteln  sie  uns,  wie  kein  anderes  Dokument, 
den  Übergang  von  Magendie  und  der  allgemeinen  Phy- 
siologie zur  modernen  Experimentalphysiologie.  Sie  leiten 
hinüber  zu  den  heute  noch  herrschenden  Ansichten  und 
schon  darum  sind  sie  typisch  und  der  Beleuchtung  wert. 
Sein  allgemeinster  von  Magendie  übernommener  Grund- 
begriff der  allgemeinen  Physiologie  hat  noch  eine  doppelte 
Basis:  Sie  beruht  darauf,  im  Organismus  die  vitale 
Eigenart  und  die  mechanischen  Eigentümlichkeiten  der 
Aussenwelt,  des  Milieu  zu  studieren,  unter  deren  Ein- 
fluss  die  Vitalität  der  Gewebe  sich  äussert.  Noch  in 
dieser  Fassung  ist  herauszulesen,  dass  Bernard  noch 
dem  Organismus  „vitale  Eigenart"  zuerkennt.  Ein  mo- 
derner Physiologe,  der  gleichzeitig  auf  dem  Boden  der 
Descendenztheorie  steht,  würde  sagen,  damit  sei  mehr 
ahnungsvoll  als  bestimmt  die  Anerkennung  des  im  Or- 
ganismus rein  genetisch  Gegebenen,  der  mechanischen 
Analyse  unzugänglichen  ausgedrückt,  (koordiniert  damit 
stellt  er  die  physikalisch-chemische  Eigenart  der  Aussen- 
welt hin.  unter  deren  Einfluss  die  Vitalität  sich  äussert. 
(Der  Zusatz:  „der  Gewebe"  ist  eine  belanglose  Kon- 
zession an  Bichat).  Er  gibt  noch  zu,  dass  für  eine  Ge- 
schichte der  Physiologie  das  Studium  der  ganzen  mensch- 
lichen und  tierischen  Funktionen  nötig  wäre;  er  aner- 
kennt die  Thätigkeit  anderer,  namentlich  von  Milnc- 
Edwards  auf  diesem  Gebiete.  Er  beschränkt  sich  selbst 
auf  Experimentalphysiologie,  deren  Einführung  in  Frank- 
reich er  als  Hauptverdienst  seines  Lehrers  Magendie 
preist.  Man  beachte  die  prinzipielle  Anerkennung  einer 
Biologie,  die  die  „Vitalität",  an  deren  Stelle  wir  die 
phylogenetische  Bedingtheit    setzen,    zugibt,    die    ferner 


422 


eine  allgemeine  Physiologie,  also  mechanistische  Deutung 
der  Lebenserscheinungen  einräumt,  und  nur  als  Teil 
derselben,  die  Experimentalphysiologie.  Die  Beschrän- 
kung auf  letztere  geschieht  im  vollen  Bewusstsein  der 
Einseitigkeit,  da  diese  im  Interesse  der  Sicherheit  liege. 
Aus  dieser  eingestandenen  Not  ßernards  haben  erst 
seine  Nachtreter  eine  Tugend  gemacht.  Die  vergleichende 
Physiologie,  zunächst  in  Milne- Edwards  akademisiert, 
wurde  zurückgeschoben  und  schliesslich  unbedeutend 
erfunden,  die  andere  Hälfte  der  Biologie  überhaupt 
eskamotiert.  Das  Endresultat  ist  die  moderne  Experi- 
mentalphysiologie. welche  alle  biologische  Systematik 
zersetzte  und  für  die  der  Organismus  nur  aus  einer 
Summe  von  Reaktionsmechanismen  besteht,  ohne  alle 
phylogenetische  Bedingtheit,  ohne  Über-  und  Unterord- 
nung der  Funktionen.  Damit  war  der  Standpunkt  er- 
reicht, den  die  Lehrbücher  von  Johannes  Müller  (39)  bis  zur 
Gegenwart  auch  in  Deutschland  einnehmen.  Der  be- 
rühmte Berliner  Physiologe  selbst  bezeichnet  noch  einen 
Durchgangspunkt,  ähnlich  wie  Claude  Bernard.  Sein 
Erfahrungskreis  war  zu  weit,  als  dass  er  die  vergleichende 
Physiologie  ignoriert  hätte.  Auch  legt  er  dem  Handbuch 
noch  die  BichcWsche  Formulierung  des  Systems  zu 
Grunde.  Er  diskutiert  noch  die  Einteilung  (pag.  46)  in 
die  Grundfunktionen,  aber  nur.  um  sie  als  Ausfluss  einer 
einzigen  Vis  essentialis  zu  erklären.  Man  ersieht  daraus, 
dass  in  diesem  Punkte  der  Vernachlässigung  des  Systems 
beide  Richtungen,  die  experimentelle,  der  Mechanismus, 
und  die  spekulative,  der  Vitalismus  einer  Ansicht  ge- 
worden sind.  Eine  neue  Systematik  ist  in  der  Folgezeit  nicht 
mehr  zur  allgemeiner  Geltung  gekommen.  In  demselben 
Umfange,  wie  etwa  bei  Joh.  Müller  lebte  die  alte  fort,  meist 
mit  Modifikationen,  die  auf  den  Ausbau  dieses  oder  jenes 
Gebietes  in  dereinen  und  andern  Schule  zurückzuführen 


—     42H     — 

waren  oder  mit  solchen,  die  von  der  Technik  der  Ab- 
fassung eines  jeden  Buches  bedingt  waren.  (Ludwig, 
Wagner,  ßudge,  Hermann,  Vierordt,  Wandt,  Bunge, 
Tigerstedt,  Morat  et  Dogon,  Schenk  und  Gürber,  Steiner 
etc.)  Dabei  ist  bemerkenswert,  dass  zur  Zeit  der  stärkst 
entwickelten  Experimentalphysiologie  die  Physiologie  der 
Zeugung  und  Entwicklung  verkümmerte,  um  erst  von 
Seiten  der  Botaniker  und  Zoologen  mit  grossem  Erfolge 
gepflegt,  wieder  als  Entwicklungsmechanik  in  der  Phy- 
siologie selbst  Eingang  zu  erhalten. 

Die  grossen  Impulse,  die  Hœckel  der  biologischen 
Systematik  gab,  fanden  eine  intensive  Resonanz  in  den 
Bestrebungen  W.  Pregers  (42),  welcher  durch  den  Ent- 
wicklungsgedanken die  in  den  vorangegangenen  Dezen- 
nien einseitig  experimentell  ausgebildete  Physiologie  neu 
zu  beleben  suchte.  Nach  ihm  hatte  die  Verdrängung  des 
Vitalismus  „eine  starke  Vernachlässigung  allgemeiner 
historischer  und  zusammenfassender  Untersuchungen  im 
Gebiet  der  Physiologie  zur  Folge."  Er  empfand  die  da- 
mals herrschende  Vernachlässigung  der  Zeugungs-  und 
Entwicklungsphysiologie  und  suchte  dem  Bedürfnis  nach 
einer  menschlichen  Psychogenese  zu  entsprechen.  Eine 
mächtig  anregende  Wirkung  ging  von  ihm  aus,  der  Phy- 
siologie noch  unbenutzte  Hilfsquellen,  wie  die  marine  und 
die  tropische  Lebewelt  dienstbar  zu  machen.  Nach  den 
französischen  Physiologen  vom  Anfang  des  Jahrhunderts 
sprach  er  zuerst  sich  wieder  in  philosophischem  Sinne 
über  den  Zusammenhang  seines  Faches  mit  andern  aus, 
skizzierte  auch  Methode  und  Geschichte  der  Physiologie 
in  leider  nie  mehr  erweiterten  Umrissen.  So  hat  denn 
er  auch  sich  zuerst  wieder  über  die  Grundfunktionen 
des  Organismus  Rechenschaft  gegeben  und  ein  System 
derselben  entworfen,  das  eine  glückliche  Neuprägung 
des  bisher  befolgten  vorstellt.     Im  Gegensatz  zu  Bichat 


—     424     — 

nämlich  stellt  Preyer  die  Zeugungsfunktion  nicht  ausser- 
halb derjenigen  des  Individuums  und  hebt  das  für  die 
grossen  Funktionskategorien  typische  logische  Element 
hervor.  Er  bezeichnet  die  nutritiven  Funktionen  als 
Stoffwechsel,  die  relativen  als  Kraftwechsel  und  die 
generativen  als  Formwechsel  und  führt  hiemit  die  Grund- 
funktionen auch  auf  Grundformen  des  menschlichen 
Denkens  zurück.  Für  die  speziellen  Ausführungen  sei 
auf  das  kleine  Buch  Preyers  selbst  hingewiesen,  das 
eine  Fülle  von  Ansätzen  zur  weiteren  Gestaltung  der 
physiologischen  Systematik   enthält. 

In  ausführlicherer  Form  und  Ausdehnung  bringt 
Preyers  Anschauungen  zur  Geltung  die  Allgemeine  Phy- 
siologie von  M.  Verworn  (58).  Während  Preyer  die  Phy- 
siologie richtig  definierte,  greift  Verworn  wie  Burdach 
(10)  und  Dumas  über  das  Gebiet  der  Funktionslehre 
hinaus  und  will  mit  der  Physiologie  die  gesamte  Bio- 
logie umspannen. 

0.  Die  „vergleichend-anatomischen"  Systeme. 

Wenn  wir  nun  entsprechend  der  Entwicklung  der 
physiologischen  Systeme  auch  die  „vergleichend-anato- 
mischen" durchgehn;  so  ist  zuerst  an  die  Restriktion  zu 
erinnern,  die  wir  uns  von  vornherein  auferlegt  haben. 
Die  grosse  und  handgreifliche  Entwicklung  der  Phylo- 
genie  der  Individuen  und  der  höheren  Kategorien,  und 
ihre  Herausbildung  aus  der  zoologischen  Systematik 
setzen  wir  als  bekannt  voraus,  da  sie  ja  den  Hauptinhalt 
der  Zoologiegeschich.te  ausmacht.  Nur  fragmentai'  da- 
gegen ist  die  Geschichte  der  „vergleichenden  Anatomie" 
der  Organe  und  Gewebe  bekannt.  Ein  einziger  Ver- 
such einer  Geschichte  der  vergleichenden  Anatomie,  in 
seiner  methodischen  Signatur  am  meisten  an  Spix  erin- 
nernd, existiert  aus  der  Feder  Oscar  Schmidts  (47)  und 


—     425      — 

dieser  ist  auch  bei  zahlreichen  Fehlern  im  Einzelnen, 
was  Kritik  und  Verarbeitung  betrifft,  ein  so  glücklicher 
AVurf,  dass  wir  das  Unterbleiben  des  beabsichtigten 
weiteren  Ausbaues  nur  lebhaft  bedauern  müssen.  „Von 
den  Universitätsjahren  her,  so  sagt  das  Vorwort,  hatte 
ich  in  Ciwier  den  eigentlichen  Schöpfer  der  vergleichenden 
Anatomie  verehrt,  zwar  in  mancherlei  Lehr-  und  Hand- 
büchern von  den  früheren  Anfängen  dieser  Wissenschaft 
gelesen,  ohne  irgendwo  zu  linden,  wie  denn  diese  An- 
fänge beschaffen  gewesen  seien,  und  mit  welchem  Rechte 
man  das  wahre  Leben  der  vergleichenden  Anatomie  als 
ein  so  junges  betrachtet.  Als  ich  nun  vor  einigen  Jahren 
(loethes  naturwissenschaftliche  Arbeiten  verfolgte,  und 
von  ihm  auch  auf  P.  Camper  und  andere  Zeitgenossen 
geführt  worden  war,  gab  es  sich  von  selbst,  dass  ich  weiter 
und  weiter  rückwärts  tastete  und  mir  aus  der  Lektüre 
der  Originalwerke  die  Geschichte  der  vergleichenden 
Anatomie  zurecht  legte,"  .  .  .  „wird  meine  Arbeit  der 
Erinnerung  fähig,  ja  bedürftig  sein.  Es  soll  mich  freuen, 
wenn  ich  zu  künftigen  gründlicheren  und  umfangreicheren 
Untersuchungen  in  diesem  Gebiete  den  Anstoss  und 
die  Grundlage  gegeben  habe."  So  sprach  ein  hochver- 
ehrter Lehrer  der  uns  vorangehenden  Generation  im 
Jahre  1855,  ein  Forscher,  dem  niemand  bestreiten  wird, 
dass  er  auf  der  Höhe  der  Empirie  seiner  Zeit  gestanden 
habe  und  der  ausserdem  in  der  bekannten  Auseinander- 
setzung mit  Eduard  von  Hartmanns  (29)  Wahrheit  und 
Irrtum  im  Darwinismus  als  typischer  Materialist  das 
kritische  Sprachrohr  der  deutschen  Physiologie  gewesen 
war.  Und  doch,  was  ist  bezeichnender:  dass  er  noch 
Musse  und  Lust  hatte,  Curier  zu  lesen  und  von  ihm 
rückwärts  zu  schauen  bis  zum  Beginn  zur  Neuzeit  und 
dadurch  seiner  wissenschaftlichen  Person  das  Recht  einer 
historisch   fundierten  Kritik  zu  sichern  oder:  dass  seine 


426 


berechtigte  Zuversicht,  grundlegend  und  anregend  zu 
wirken,  einer  nachfolgenden  Generation  keinen  Eindruck 
machte  oder  trotz  dem  geschätzten  Namen  ihres  Urhebers 
überhaupt  entging? 

Oscar  Schmidts  Darstellung  fehlt  vor  allem  das  eine, 
nämlich  die  Beziehung  auf  Aristoteles  und  folglich  auch 
der  Einblick  in  den  Zusammenhang  der  verschiedenen 
biologischen  Systeme.  Weniger  hoch  würden  wir  an- 
schlagen, dass  die  ganze  von  ihm  entworfene  »Skizze 
nicht  der  philosophischen  und  medizinischen  Bedingtheit 
der  vergleichenden  Anatomie  ganz  gerecht  wird.  Ihn 
ehrt  vor  allem  die  Gesinnung  aus  der  sie  entsprang. 

Unsern  Faden  selbst  wieder  aufnehmend,  müssen 
wir  konstatieren,  dass  die  „vergleichende  Anatomie"  aus 
verschiedenen  Binnsalen  zusammenfloss.  Die  erste  und 
hauptsächliche  Richtung  ist  durch  den  Anschluss  an  die 
zoologische  Systematik  gegeben.  Die  äussern  Merkmale 
genügten  nicht  mehr  zur  Unterscheidung  der  Arten,  da- 
her suchte  man  nach  innern.  Zweitens  wäre  diejenige 
praktische  Richtung  zu  nennen,  welche  einfach  im  An- 
schluss an  den  Menschen  sich  ausbildete,  wobei  für  die 
rein  wissenschaftliche  Betrachtung  gleichgültig  ist,  oh 
wie  bei  Galen  Affen  und  Haustiere  zur  Feststellung 
anatomischer  Befunde  verwertet  wurden,  oder  ob  dies 
geschah,  weil  die  Tiere  leichter  experimentell  zugänglich 
waren,  wie  für  die  Physiologen.  Beides  führte  zur 
Feststellung  von  Übereinstimmung  und  Verschiedenheit, 
jedenfalls  zur  Kenntnis  des  Baues,  auch  wo  sie  sich 
nicht  in  den  Dienst  des  zoologischen  Systems  stellte; 
beides  auch  in  erster  Linie  zur  Erforschung  von  Organen 
und  Geweben.  Im  allgemeinen  lässt  sich  wenigstens 
das  sagen,  dass  je  tiefer  die  Stufen  der  Individualität 
waren,  auf  die  man  hinabstieg,  umso  weniger  günstig 
für  die   ..vergleichende  Anatomie,"   die  vollends  seit  der 


427 

Zellenlehre  und  der  Erweiterung  der  Verkehrsbe- 
dingungen immer  mehr  zur  Hilfswissenschaft  der  Phy- 
siologie einerseits  und  der  zoologischen  Systematik 
und  Tiergeographie  anderseits  wurde.  Ebenso  wenig- 
förderlich  wirkte  auf  sie  das  Emporkommen  der  Embryo- 
logie ein,  die  vielfach  geradezu  als  Surrogat  und  nament- 
lich für  Unterrichtszwecke  herhalten  musste.  So  ist 
denn  das  geschichtliche  Bild  der  vergleichenden  Ana- 
tomie und  späteren  Phylogenie  der  Organe  ein  zerrissenes, 
abhängiges  und  wechselvolles.  Schon  um  einen  sicheren 
Anhaltspunkt  für  eine  historische  Beurteilung  dieses 
Faches  zu  gewinnen  und  um  wenigstens  das  konstanteste 
an  der  „vergleichenden  Anatomie"  hervorzuheben,  müssen 
wir  daher  nach  der  obersten  Systematik  der  verschie- 
denen Autoren  fragen. 

Severino  muss  noch  das  Unterfangen  der  Zootomie 
mit  sehr  praktischen  Rücksichten  decken.  Seine  oberste 
Einteilung  richtet  sich  nach  den  Tiergruppen  und 
steigt  von  den  Säugetieren  abwärts,  nach  Aristoteles. 
Ebenso  auch  bei  allen  älteren  Zootomen,  unter  denen 
namentlich  G.  ßlasius  (6)  und  Valentin  (51)  zu  ver- 
zeichnen sind,  später  Buffon  und  Daubenton.  Geradezu 
chaotisch  ist  die  vergleichende  Anatomie  von  Blumen- 
bach (7)  angeordnet.  Einer  der  ersten,  der  bei  ge- 
waltiger Ausbreitung  anatomischer  Kenntnis  zum 
System  von  Aristoteles  und  Perrault  griff,  war  John 
Hunter  (31),  der  Begründer  der  klassischen  vergleichend- 
anatomischen Sammlung  in  London.  Er  legte  der 
Klassifikation  der  Organsysteme  die  Funktionen  zu 
Grunde  und  teilte  sie  in  solche  zur  Erhaltung  des 
Individuums  und  solcher  zur  Erhaltung  der  Art  ein; 
die  ersteren  wiederum  in  die  Assimilations-  und  Re- 
lationssysteme.  Es  ist  gewiss  sonderbar,  dass  nicht 
einmal  seine  Nachfolger  am  Royal  College  of  Surgeons, 


—     428     — 

Owen  (40)  und  Flower  (19)  dieses  Verdienst  zu  würdigen 
wussten.  Durch  Adoption  des  mechanistischen  franzö- 
sischen Systems  berührte  sich  Hunter  völlig  mit  dem 
bedeutend  jüngeren  Bichat.  Der  Durchbruch  einer  ent- 
wicklungsgesckichtlichen  Auffassung  der  zoologischen 
Systematik,  der  sich  in  Deutschland  von  Herder  (30) 
durch  Goethe  bis  in  die  Naturphilosophie  hinein  immer 
bewusster  vollzog,  die  Umwandlung  der  logischen  in  die 
genealogische  Betrachtung  der  Tiergruppen  konnte  nicht 
ohne  Rückwirkung  auf  die  Phylogenie  der  Organsysteme 
bleiben,  aber  noch  immer  blieb  die  Phylogenie  der 
Organsysteme  der  der  Individuen  untergeordnet.  Und 
noch  nicht  einmal  heute  wird  die  Selbständigkeit  dieser 
Aufgabe  allgemein  verstanden  und  zugegeben. 

Verfolgen  wir  zunächst  den  weitern  Verlauf  der 
vergleichenden  Anatomie  in  Frankreich.  Durch  Perrault 
und  Buffon  (8)  war  sie  in  den  Dienst  der  Physiologie  und 
der  Kosmologie  gestellt.  Das  allein  macht  verständ- 
lich, warum  Lamark  (33)  so  revolutionär  erschien,  wa- 
rum Etienne  Geoffroy  St.  Hilaire  (24)  mit  seiner  phylo- 
genetischen Auffassung  des  Skeletts  und  Galt  (22)  mit 
seiner  ebenfalls  neuen  genetischen  Darstellung  des 
Nervensystems  auf  den  heftigsten  Widerstand  stiessen. 
Sie  fielen  bereits  in  die  Zeit  der  durch  Bichat  hervor- 
gerufenen Verschiebung  der  allgemeinen  Anatomie  nach 
der  Seite  der  Physiologie  einerseits  und  der  Herrschaft 
Ouviers  anderseits.  Das  Verhältnis  Cuviers  (60)  aber 
zu  der  Systematik  der  vergleichenden  Anatomie  wird 
nur  verständlich-,  wenn  wir  in  seine  Bedingungen  hinein- 
blicken. Cuvier  mit  seiner  deutschen  Schulung  war  nicht 
im  Glauben  der  französischen  Aufklärung  aufgewachsen. 
Die  materialistische  Auffassung  Buffons  von  der  Organi- 
sation lag  ihm  fern.  Bei  der  gewaltigen  Arbeit,  die  er 
in  der  Reformation  der  zoologischen  Systematik  vor  sich 


—     429     — 

sab,  hatte  ihm  die  Zootomie  nichts  anderes  zu  bieten 
als  Hilfsmittel  für  das  zoologische  System.  Als  oberstes 
betrachtete  er  bekanntlich,  bereits  von  den  Vorboten  der 
deutschen  Naturphilosophie  angehaucht ,  das  Nerven- 
system und  dessen  Lage  im  Körper.  Dazu  kommt  als 
weitere  Instanz  für  seine  allgemeinen  Anschauungen  in 
Betracht,  dass  er  in  den  „Ossemens  fossiles"  den  Grund 
zur  vergleichenden  Anatomie  der  ausgestorbenen  Tiere 
legte.  Wie  nebelhaft  mussten  ihm  die  Spekulationen 
Geoffroys  erscheinen,  angesichts  dem  Zuwachs  an  wirk- 
lichen Objekten,  den  er  der  vergleichenden  Osteologie 
beizufügen  hatte!  Und  die  vergleichende  Osteologie, 
also  bereichert,  wurde  durch  ihn  geradezu  zur  ver- 
gleichenden Anatomie  par  excellence;  denn  die  damaligen 
zusammenhanglosen  und  bestenfalls  im  Dienste  der  phy- 
siologischen Betrachtung  errafften  Kenntnisse  über  die 
vergleichende  Anatomie  der  Weichteile  schrumpften  an 
wissenschaftlichem  Wert  neben  dieser  Erweiterung  der 
Osteologie  erbärmlich  zusammen.  Die  Folgen  dieser 
Bedingungen  liegen  denn  auch  auf  der  Hand:  Cuvier 
acceptierte  nicht  das  mechanistische  französische  System 
der  Funktionen  und  folglich  auch  der  ihnen  dienenden 
Organe,  sondern  er  ordnete  seine  Erfahrungen  dem  zoo- 
logischen System  ein,  dasselbe  damit  neu  gestaltend,  und 
griff  für  die  vergleichende  Anatomie  auf  das  Galen- 
VesaFsche  System  zurück.  Hatten  jene,  weil  das  Skelett 
das  zweckmässigste  und  leichtest  konservierbare  Studiums- 
und Unterrichtsmittel  war,  es  an  die  Spitze  gestellt,  so 
empfahl  sich  diese  Einteilung  umso  mehr  infolge  der 
Umgestaltung  der  vergleichenden  Osteologie  durch  die 
Paläontologie.  Nach  dem  von  Cuvier  und  zwar  aus 
seinen  spätem  Jahren  stammenden  Ausspruch,  den  wir 
p.  391  zitiert  haben,  wird  man  einsehn,  dass  ihm  dieses 
Vorgehn  keine  Skrupel  bereiten  konnte.    Es  charakteri- 


480 


siert  seinen  exklusiven  Teleologismus,  dass  er  der  bio- 
logischen Mechanistik  seiner  zweiten  Heimat  so  wenig- 
Wert  beizulegen  imstande  war  und  an  ihrer  Stelle  ruhig 
das  weniger  wissenschaftliche  Galen'sche  System  adop- 
tierte. Und  nun  geschah  das  Sonderbare ,  dass 
nach  Cuviers  Tode  auch  sein  vergleichend-anatomisches 
System  in  Frankreich  von  der  Bildfläche  verschwand  und 
dem  nicht  an  praktische  Rücksichten  geknüpften  System 
der  Physiologen  Platz  machte,  die  die  Organanatomie 
vollständig  in  ihren  Bannkreis  zwangen,  sofern  sie  nicht 
anderseits  in  den  Dienst  der  zoologischen  Systematik 
gezogen  wurde.  Dadurch  wurde  auch  die  Phylogenie 
der  Organe  als  selbständige  Aufgabe  in  Frankreich  voll- 
ständig unterdrückt  und  es  bedurfte  später  gerade  noch 
der  Infektion  der  Naturforscher  durch  den  Positivismus, 
um  jedes  Sensorium  für  sie  im  Keime  zu  ersticken.  In 
//.  Milne-Edwards  mündeten  gleichzeitig  mit  der  Physio- 
logie die  wenigen  Ansätze  zur  Phylogenie.  Weit  mäch- 
tiger war  die  Einwirkung  der  Cuvier'1  sehen.  Systematik 
ausserhalb  Frankreichs.  In  England  wurde  sie  von 
Owen  (40)  anstatt  der  Hunter' sehen,  übernommen  und 
auch  sein  Antipode  Huxley  (32)  entzog  sich  ihr  nicht, 
obwohl  er  ein  aus  ihr  und  der  zoologischen  Systematik 
gemischtes  System  anwandte.  Stärker  wirkte  Cuvier 
auch  auf  sein  eigentliches  Vaterland  zurück.  Hier 
schloss  sich  in  dem  grundlegenden  Sammelwerk  für  ver- 
gleichende Anatomie  J.  F.  Meckel  (86)  ihm  an,  später 
ohne  alle  nähere  Begründung  und  zweifellos  nur  unter 
dem  Eindruck  einer  festen  Tradition  //.  Slannius  (49) 
und  in  neuerer  Zeit  C.  Gegenbau r  (23)  und  R.  Wieders- 
heim  (56).  Joh.  Müller  hat  uns  keine  vergleichende 
Anatomie  hinterlassen.  Aber  die  Anlage  der  Myxi- 
noiden-Monographie  lässt  vermuten,  dass  diese  Fest- 
setzung   des    Cuvier'1  sehen  Systems   in  Deutschland    von 


—     431     — 

ihm  herrührt.  Es  würde  wohl  auch  nicht  schwer  halten, 
aus  Kollegienheften  seiner  Schüler  nachzuweisen,  dass 
er  für  die  „vergleichende  Anatomie"  dem  Galen- 
Guvier'schen  System  folgte.  Bei  ihm  kann  dies  auf 
zwei  Wurzeln  zurückgehn.  Entweder  er  that  es  aus 
Hochachtung  vor  der  empirischen  Basis  Cuviers,  oder 
aber  im  Anschluss  an  die  Schule,  aus  der  er  selbst  her- 
vorgegangen war,  an  die  Naturphilosophie.  In  ihr  finden 
wir  neben  Einwirkungen  der  französischen  Physiologie 
andere  Gesichtspunkte  die  Systematik  beherrschen. 
Goethe  und  Oken  schrieben  in  Zusammenhang  mit  der 
Wirbeltheorie  des  Schädels,  der  Osteologie  eine  ganz 
besonders  geheimnisvolle  Bedeutung  zu,  als  dem  obersten 
und  dem  Seelen-  und  Vernunftorgan  zunächst  stehenden 
Teil  des  Skeletts.  Andere  wiederum  stellten  das  Gehirn 
an  die  Spitze  ihrer  Betrachtungen  und  der  Ausspruch 
Burdachs  (19):  „Die  Physiologie  des  Hauptes  ist  das 
Haupt  der  Physiologie"  führt  uns  mitten  in  diesen  Vor- 
stellungskreis, dem  auch  in  Verbindung  mit  der  Bichat' sehen 
Systematik  die  Systematik  von  C.  G.  Carus  (12)  ent- 
sprang. 

Wir  haben  dieser  Reihe  der  „vergleichend-anato- 
mischen" Systeme  nur  noch  ein  kurzes  Wort  beizufügen, 
das  dem  Einfiuss  der  Entwicklungstheorie  und  der  Em- 
bryologie gilt.  Die  Entwicklungstheorie  ist  ohne  alle 
Wirkung  auf  die  grossen  Abteilungen  der  „vergleichend- 
anatomischen" Systematik  geblieben.  Einmal,  weil  die 
„vergleichend-anatomische"  Untersuchung  in  den  Dienst 
der  Stammesgeschichte  der  Individuen  trat  und  ihre  Orien- 
tierung folglich  von  der  Phylo-genie  der  ganzen  Lebewesen 
erhielt.  Zweitens  weil  ein  grosser  Teil  des  Interesses,  das 
früher  der  „vergleichenden  Anatomie"  zu  teil  geworden 
war,  sich  andern  Gebieten  zuwandte,  ganz  besonders  auch 
der  Embryologie.     Nun  hätte  man  erwartet,  dass  gerade 


—     432     — 

durch  die  Entwicklungsgeschichte  der  Organe  und  durch 
die  Keimblattlehre  ein  gemischtes  System  der  Teile  des 
Organismus  geschaffen  werde.  Aber  noch  ehe  die  Keim- 
blätter zu  einer  solchen  Systematik  verwendet  werden 
konnten,  kam  die  Einsicht  in  die  Relativität  ihres  Wertes 
empor,  ganz  abgesehen  davon,  dass  eine  auf  sie  be- 
gründete Systematik  ja  nur  für  Metazoen  hätte  gelten 
können.  So  wird  denn  als  System  für  die  Embryologie 
in  der  Regel  ein  ecklektisches  gewählt,  worin  der  Ablauf 
der  ersten  Entwicklungsvorgänge  chronologisch  geordnet 
wird,  während  die  Entwicklung  der  Organsysteme  mit 
Rücksicht  auf  ihren  erwachsenen  Zustand  behandelt 
wird.  Damit  ist  auch  dem  schwachen  Punkte  der  „ver- 
gleichenden Anatomie"  Rechnung  getragen,  den  wir  zum 
Schluss  dieses  Abschnittes  noch  einmal  hervorheben 
müssen.  Für  die  genetische  Betrachtungsweise  empfehlen 
sich  ihrem  Erhaltungszustande  nach,  in  erster  Linie  die 
ganzen  Organismen  und  zwar  vorwiegend  die  höheren  ; 
von  den  Teilen  derselben  die  Hartgebilde  und  alsdann 
erst  die  Organe  selbst,  die  sie  ausgeschieden  haben. 
Eine  Stammesgeschichte  der  übrigen  Organe  aber  hat 
nur  Aussicht  weiter  zu  kommen,  wenn  sie  mit  voller 
Kenntnis  der  besser  bekannten  Teile  des  Gesamgebietes 
der  Phylogenie  betrieben  wird  und  wenn  sie  anderseits 
zur  Physiologie  ein  richtiges  Verhältnis  gewinnt.  Worin 
dies  besteht,  das  soll  im  folgenden  Abschnitt  dargelegt 
werden. 

7.  Das   geschichtliche   Verhältnis   zwischen   physio- 
logischer und  phylogenetischer  Systematik. 

Blicken  wir  nochmals  zurück  auf  die  beiden  Ent- 
wicklungsreihen  der  biologischen  Systeme.  Die  obersten 
Kategorien  des  physiologischen  sind  bei  Ari.s/nfeles  rein 
wissenschaftlichen  Absichten  entsprungen.    Wie  ein  roter 


—     433     — 

Faden  durchziehn  sie  die  Physiologie  der  Neuzeit  bis 
auf  die  Gegenwart.  Traten  bei  Aristoteles  die  Ein- 
teilungsprinzipien für  die  Funktionen  zurück  hinter  denen 
für  die  Gliederung  des  Organismus,  so  erhielten  jene 
erst  eine  spezifisch  neue  Begründung  durch  den  Carte- 
sianismus.  Von  Perrault  wurde  das  Prinzip  ihrer  Er- 
klärung in  die  Aussenwelt  verlegt  und  damit  einem 
System  der  Funktionen,  das  analog  den  verschiedenen 
Energieformen  aufgebaut  wird,  vor  dem  auf  den  Aufbau 
des  Organismus  aus  seinen  Teilen  der  Vorzug  gegeben. 
An  dieses  System  haben  sich  alle  Erweiterer  und  Mehrer 
der  Physiologie  gebunden  und  es  hat  seinen  vollendeten 
Ausdruck  bei  dem  letzten,  auf  Systematik  den  Haupt- 
wert legenden  Physiologen,  H.  Milne- Edwards  gefunden. 
Auch  die  neueste,  mit  Prei/er  anfangende  Systembildung 
in  der  Physiologie  bedient  sich  seiner.  Abweichungen 
von  ihm  fanden  wir  bedingt  durch  praktische  Rück- 
sichten des  Unterrichts  (Galen,  Vesal),  der  menschlichen 
Anatomie  (Restauratoren),  der  experimentellen  Methode 
(Haller,  Cl.  Bernard). 

Gleichzeitig  wie  die  physiologische  Systematik  tritt 
bei  Aristoteles  eine  genetisch  gedachte  für  die  Teile  des 
Organismus  hervor,  aber  ohne  realen  Erklärungsgrund. 
Bei  ihrem  Wiedererscheinen  in  der  Neuzeit  lehnt  sich 
die  „vergleichende  Anatomie"  zunächst  an  die  mensch- 
liche Anatomie  an,  ordnet  sich  später  der  zoologischen 
oder  der  physiologischen  Systematik  unter.  Entscheidend 
wirkte  die  Bereicherung  der  Osteologie  durch  die  Palä- 
ontologie bei  Cuvier,  dessen  Anschluss  an  die  mensch- 
lich-anatomische Systematik  für  die  deutsche  und  eng- 
lische Wissenschaft  massgebend  wurde,  während  in  Frank- 
reich mit  H.  Milne-Edwards  die  physiologische  Syste- 
matik ihre  herrschende  Stellung  gegenüber  der  „ver- 
gleichenden  Anatomie"    behielt.     Dass    unterdessen    die 

28 


—     434     — 

Entwicklungslehre  durchbrach ,  vermochte  weder  die 
modernen  Entwicklungstheoretiker  vom  Cuiier-  Vesal- 
Galeri'schen  System,  das  eine  dem  Wesen  der  „Ver- 
gleichenden Anatomie"  vollständig  fremde  Begriffswelt 
auf  sie  übertrug,  abzubringen,  noch  auch  dem  physio- 
logischen System  ein  ebenso  naturgemässes  an  die  Seite 
zu  stellen. 

Hieraus  geht  hervor,  dass  entsprechend  der  Ge- 
meinsamkeit der  Basis,  worauf  beide  Disziplinen  sich  er- 
hoben, die  Physiologie  sowohl  als  die  „vergleichende 
Anatomie,"  auch  die  Systembildung  innerhalb  des  einen 
Gebietes  auf  die  innerhalb  des  andern  zurückwirken 
musste,  wofern  sie  sich  nicht  an  rein  praktische  Zwecke 
band.  Dabei  ist  es  aber  stets  die  Physiologie  gewesen, 
welche  dominierte  und  die  „vergleichende  Anatomie" 
ordnete  sich  ihr  unter.  AVeder  der  intensivere  Betrieb 
der  Physiologie  noch  logische  Superiorität  würde  sich 
dafür  ins  Feld  führen  lassen,  dass  sie  für  die  allgemeine 
Biologie  mehr  zu  bedeuten  habe,  als  die  Phylogenie. 
Ihr  Vorrecht  erwächst  lediglich  aus  solideren  histo- 
rischen Traditionen  ihrer  wissenschaftlichen  Systematik 
und  aus  dem  Anschluss  ihrer  Grundlagen  an  die  an- 
organischen Naturwissenschaften. 

Wenn  wir  die  Fortschritte  der  zeitgenössischen 
Phylogenie  der  Organe  betrachten,  so  macht  sich  eine 
Richtung  geltend,  die  vom  Einzelnen  ausgehend  Olivier 
entgegengesetzt  ist.  Es  ist  der  Übergang  von  der  typen- 
theoretischen Anschauungsweise  zu  einer  auf  individuelle 
Variation  begründeten.  Die  individuelle  Variation  eines 
Organisationsverhältnisses  muss  allerdings  festgestellt 
werden  können,  ehe  man  die  spezifische,  generische 
u.  s.  w.  beurteilen  will.  Unter  dem  Einfluss  des  Ein- 
blicks in  die  Bedeutung  der  Variation  ganzer  Organismen, 
begann  man,    entgegen  früherem  Usus,    die  Variationen 


—     435 

von  Skeletteilen,  Muskeln,  Gefässen  und  Nerven  festzu- 
stellen und  in  Zusammenhang  mit  dem  Studium  von 
Missbildungen  womöglich  auf  die  Lebensbedingungen  des 
Organismus  zurückzuführen.  Was  ist  dies  anderes  als 
Einführung  eines  physiologischen  Gesichtspunktes  in  die 
„vergleichende  Anatomie"?  Fernerhin  wurden  nach  und 
nach  viele  Organisationsähnlichkeiten  bei  solchen  Orga- 
nismen, die  man  früher  als  verwandt  betrachtete,  auf 
Konvergenzanalogie  zurückgeführt  und  damit  frühere 
systematische  Verbände  und  vermeintliche  Verwandt- 
schaften aufgelöst  z.  B.  die  Wasserreptilien  und  Wasser- 
säugetiere, die  Laufvögel,  die  llochen.  Von  der  Funk- 
tion ausgehend  hat  Cope  seine  mechanisch-physiologische 
Begründung  der  Phylogenie  des  Säugergel »isses  unter- 
nommen entgegen  der  typentheoretisch  gedachten  Tri- 
tuberkulartheorie.  Wir  brauchen  keine  weitern  Beispiele 
dafür  zu  häufen,  dass  die  wesentlichsten  Fortschritte 
der  „vergleichenden  Anatomie"  in  neuerer  Zeit  durch 
„vergleichend-physiologische"  Betrachtung  zustande  ge- 
kommen sind,  dadurch,  dass  man  von  den  sichern  End- 
formen, deren  mechanische  Bedingungen  durchsichtig 
waren,  ausging  und  nicht  von  hypothetischen  Grund- 
formen, welche  dem  ins  Genetische  umgedeuteten  Typus 
Ciwiers  entsprachen.  So  bringt  es  denn  auch  die  innere 
Entwicklung  der  „vergleichenden  Anatomie"  mit  sich, 
dass  sie  nicht  mehr  bei  der  Galen-Cuvier' 'sehen  Syste- 
matik wird  stehen  bleiben  dürfen,  sondern  zu  der  physio- 
logischen wird  übergehen  müssen,  da  sie  keine  ebenso 
wohl  fundierte  ihr  an  die  Seite  zu  stellen  hat.  Noch 
sind  zwei  Einwände  zu  erledigen,  die  man  hiegegen  vor- 
bringen könnte.  Der  eine  wäre  der,  es  komme  über- 
haupt wenig  auf  die  obersten  Kategorien  und  auf  die 
ihnen  zu  Grunde  liegenden  Einteilungsprinzipien  an. 
Ihre  Geschichte  habe  denn  auch  keinen  weiteren  Wert. 


—     436     — 

Es  würde  eine  solche  Auffassung  in  flagrantem  Wider- 
spruch stehn,  mit  dem,  was  jeder  Zoologe  für  recht  und 
billig  hält,  wofern  es  sich  um  die  ganzen  Organismen 
handelt,  mit  dem  auch,  was  wie  wir  dargelegt  haben, 
einen  Hauptbestandteil  der  Zoologiegeschichte  ausmacht. 
Was  aus  ihr  allein  in  die  Kompendien  hinübergenommen 
wird,  sind,  wie  schon  gesagt,  die  grossen  Kategorien  des 
Tiersystems  und  da  sollten  nun  dieselben  logischen  Be- 
standteile innerhalb  des  Systems  der  Teile  der  Tiere 
wertlos  sein?  Und  ferner  vergegenwärtige  man  sich  die 
Bedeutung  der  obersten  Kategorien  eines  Systems  für 
die  Auffassung  seiner  Einzelheiten.  Die  mittelalterliche 
Unterscheidung:  Gott,  Mensch,  Welt,  was  für  Irrtümer 
hat  sie  zur  Folge  gehabt,  welche  Hemmungen  einer 
natürlichen  Auffassung  erzeugt!  Aber  innerhalb  der 
Sphäre  der  „vergleichenden  Anatomie"  Hessen  sich  zahl- 
reiche falsche  Induktionen  darauf  zurückführen,  dass 
das  G  a  len-Ciwier' sehe  System  der  Organsysteme  sich  mit 
grösster  Zähigkeit  festgesetzt  hat,  dass  infolge  desselben 
die  Hartgebilde  für  das  logisch  Avichtigste  genommen 
wurden,  gleichsam  als  Urtypus  des  Wesens.  Man  ver- 
gleiche nur  das  Schicksal  der  meisten  osteologischen 
und  odontologischen  Theorien.  Zweitens  wird  man  das 
Aufstellen  von  Systemen  überhaupt  als  veraltete  wissen- 
schaftliche Bemühung  beurteilen.  Dem  ist  entgegenzu- 
halten, dass  Systembildung  weiter  nichts  ist,  als  Ord- 
nung nach  einheitlichen  Prinzipien.  Einer  der  grössten 
Fortschritte  der  zeitgenössischen  Biologie  beruhte  darauf, 
dass  in  umfassendster  Weise  von  Hœckel,  im  Einzelnen 
von  zahlreichen  verdienten  Forschern  neu  systematisiert 
wurde.  Vorwiegend  allerdings  mit  Orientierung  auf  die 
ganzen  Organismen,  während  die  Systematisierung  der 
anatomischen  Teilgebiete  zurückblieb.  Die  Ordnung  der 
organischen  Welt  nach  den  Gesichtspunkten  der  Physio- 


487     — 

logie  und  Phylogenie,  oder  um  mit  Hœckel  zu  reden, 
nach  Anpassung  und  Vererbung  ist  innerhalb  der  Ana- 
tomie noch  nicht  in  gleicher  Weise  vollzogen.  Noch  in 
höherem  Grade,  als  innerhalb  der  Tiergruppen  bedarf 
es  hier  des  Ausgehens  von  den  Anpassungserscheinungen, 
von  der  Physiologie. 

Wir  brechen  hier  den  Gang  unserer  Darstellung  ab. 
Die  Aufgabe,  die  wir  uns  stellten,  den  Entwicklungsgang 
der  physiologischen  und  „vergleichend -anatomischen" 
Systematik  zu  skizzieren,  haben  wir  in  ihren  Grundlinien 
durchgeführt.  Für  die  Biologiegeschichte  dürfte  es  sich 
lohnen,  den  Faden  aufzunehmen  und  weiterzuspinnen, 
damit  wir  nach  und  nach  in  ebenso  gründlicher  Weise, 
wie  über  die  medizinische  Praxis  und  die  zoologische 
Systematik,  in  die  Entwicklungsgänge  anderer  Gebiete 
der  Biologie  hineinblicken. 

Naturgemäss  würde  sich  fernerhin  aus  unseren 
Studien  ergeben,  dass  wir  auf  Grund  dieses  Entwicke- 
lungsganges  der  biologischen  Systematik,  die  Umgestal- 
tung der  „vergleichenden  Anatomie"  durch  die  Physio- 
logie auch  in  diesem  Punkte  weiterführten.  In  Ver- 
bindung mit  dem  heutigen  Tatbestand  wäre  das  mecha- 
nistische System  der  Funktionen  des  Organismus  auf 
die  Teile  desselben  zu  übertragen,  an  Stelle  der  nun 
historisch  erläuterten  künstlichen  Gliederung  eine  den 
natürlichen  Beziehungen  der  Organsysteme  zur  Aussen- 
vvelt  und  unter  sich  zu  entsprechende  zu  setzen.  Das 
mag  bei  anderer  Gelegenheit  geschehn.  Vorläufig  genügt, 
wenn  das  hier  dargelegte,  historisch  und  logisch  begründete 
Problem  anerkannt  wird. 


438 


Litteratur. 


1.  Aristoteles.   Vier  Bücher   über  die  Teile  der  Tiere.     Griechisch 

und  Deutsch  von  A.  von  Frantzius.     Leipzig  1853. 

2.  Aristoteles,  Tierkunde.    Übers,   v.  Aubert  u.   Wünmer.    Leipzig 

1868. 

3.  CI.  Bernard,  Leçons   de  Physiologie  expérimentale.    Paris  1855. 

4.  CI.  Bernard,  Le  la  physiologie  générale.     Paris  1872. 

5.  X.  Bichat,  Allgemeine  Anatomie,  angewandt  auf  die  Physiologie 

und  Arzneywissenschaft.   Uebersetzt  von  C.  H.  Pfaff.    Leipzig' 

1802. 
I).  G.  Blasii  Anatome  auimalium.     Amstelodami  1681. 
7.  J.  F.  Blumenbach.  Handbuch  der  vergleichenden  Anatomie.    III. 

Aufl.     Göttingen  1824. 
8    G.  L.  Button.  Histoire   naturelle   generale   et    particulière.    Paris 

1750-78. 
9.  C.    F.    Burdach,    Vom    Bau    und    Leben    des    Gehirns.     Leipzig 

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10.  C.    F.    Burdach  ,    Die     Physiologie     als     Erfahrungswissenschaft. 

Leipzig  1835. 

11.  B.  Carpi  Isagogce  brèves,  1523.     (Zweite  Ausgabe.) 

12.  C.  G.  Carus,  Lehrbuch  der  vergleichenden  Zootomie.     1834. 

13.  J,  V.  Carus,  Geschichte  der  Zoologie.     1872. 

14.  L.   Choulant,    Geschichte    und    Bibliographie   der    anatomischen 

Abbildung.     Leipzig  1852. 

15.  G.  Cuvier,  Histoire   des  Sciences  naturelles.     Paris  1841 — 1845. 

16.  A.  Dugès.  Traité  de  physiologie  comparée.   Montpellier  und  Paris 

1838. 

17.  C.  L.  Dumas,  Principes  de  physiologie.     2.  Aufl.     1806. 

18.  Ehrenberg,  Organisation  der  Infusionstierchen.     Berlin  1830. 
IM.  W.  Flower,    Essays    on   Museums    and   other   subjects  connected 

with  natural  history.     London  1898. 

20.  CI.    Galeni    Pergameni    De    usu    partium    corporis    humani  libri 

XVII.     Nicoiao  Regio  Calabro  interpr.  Basileae  1553. 

21.  CI.  Galeni  Pergameni  De  anatomicis  administrationibus  libri  novem. 

Luffduni  1551. 


—     439     — 

22.  J.    Gall    und    Spurzheim,     Anatomie  [et  physiologie    du    système 

nerveux    en    général    et    du    cerveau    en    particulier.     Paris 
1810. 

23.  C.  Gegenbaur,   Vergleichende  Anatomie    der   Wirbeltiere.     1898 

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24.  E.  Geoffroy  St.  Hilaire,  Anatomie  philosophique.     Paris   1818. 

25.  E.  Geoffroy  St.  Hilaire,  Histoire  naturelle   générale.     Paris    1854- 
20.  E.    Haeckel,    Generelle    Morphologie    der     Organismen.      Berlin 

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27.  A.  von  Haller,  Bibliotheca  anatomica.  Tiguri  1774 

28.  A.  von  Haller,  Elementa  physiologbe.  1757. 

29.  Ed.    von    Hartmann  ,    Philosophie    des  Unbewussten.      X.    Aufl. 

1889. 

30.  G.  Herder,   Ideen   zur   Philosophie   der  Geschichte  der  Mensch- 

heit.    Riga  und  Leipzig  1784. 

31.  E.  Home,  Lectures  ou  comparative  anatomy.    London  1814 — 28. 

32.  Th.  H.  Huxley,  Handbuch  der  Anatomie  der  Wirbeltiere.  Übers. 

v.  Ratzel.     Breslau  1873. 

33.  J.  Lamarck,  Philosophie  zoologique.     1809. 

34.  Th.  Lauth,  Histoire  de  l'anatomie.     Strasbourg  1815. 

35.  F.  Magendie,  Précis  élémentaire  de  Physiologie  1810 — 17.  Paris. 
■36.  J.    F.    Meckel ,    System    der    vergleichenden    Anatomie.      Halle 

1821. 

37.  Mémoires   de  l'Académie  Royale   des   Sciences.     La  Haye  1731. 

38.  H.    Milne -Edwards,    Leçons    sur    la    physiologie    et    d'anatomie 

comparée.     Paris  1837—80. 

39.  Joh.    Müller,    Handbuch    der   Physiologie   des  Menschen.     1844. 
41».  R.  Owen,    Lectures  on  the  comparative  anatomy  and  physiology 

of  the  Vertebrate  animais.     London  1846. 

41.  Cl.    Perrault,  Essais  de  physique.     Paris  1653. 

42.  W.    Preyer,    Elemente    der    Allgemeinen    Physiologie.      Leipzig 

1883. 

43.  Ricardi  Anglici  Anatome  éd.  Tœply.     1900. 

44.  Richerand,  Nouveaux  élémens  de  physiologie.     Paris  1833. 

45.  M.  Roth,  Andreas  Vesalius  Bruxellensis.     Berlin  1892. 

46.  M.  Aurelii  Severini  Zootomia  Democritaea.     Nürnberg  1645. 

47.  0.    Schmidt,    Die    Entwickelung    der   vergleichenden    Anatomie. 

Jena  1855. 

48.  J.  Spix,  Geschichte  und  Beurteilung  aller  Systeme    in   der  Zoo- 

logie.    Nürnberg  1811. 


440 


49.  H.  Stannius,  Lehrbuch  der  vergleichenden  Anatomie  der  Wirbel- 

tiere.    Rostock  1846. 

50.  G.  R.  Treviranus,  Biologie  oder  Philosophie  der  leitenden  Natur. 

Göttingen  1802—1822. 

51.  Valentini?   Amphiteatrum  zootomicum.     Francofurti    ad  Mcenum 

1720. 

52.  C.  Varolii  Anatomife  libri  IUI.     Frankfurt  1591. 

58.  M.  Verworn,  Allgemeine  Physiologie.     III.  Aufl.     1901. 

54.  A.    Vesalii    Bruxellensis    De    humani   corporis    fabrica.     Basileœ 

1543. 

55.  F.  Vicq  d'Azyr,     Traité  d'anatomie.     Paris. 

56.  R.   Wiedersheim,    Lehrbuch    der    vergleichenden   Anatomie     der 

"Wirbeltiere.     Jena  1880. 

57.  W.  Wunclt.  Lehrbuch   der   Physiologie  des    Menschen,    Frlangeu 

18(15. 

58.  Bergmann  und  Leuckart,  Anatomisch-physiologische  Übersicht  des 

Tierreichs,  Leipzig  1852. 

59.  6.    Cuvier,  Vorlesungen   über  vergleichende   Anatomie.     Übers. 

v.  Fischer.     1802. 


60.  M.  Foster,  Lectures  on  the  history  of  Physiology  Cambridge 
l!)U3.  Kam  mir  erst  nach  Abschluss  des  Manuskripts  zu 
Gesichte,  gibt  mir  aber  keinerlei  Veranlassung  zu  besondern 
Bemerkungen. 


Über  Gewichtsänderung  bei  chemischen  und 

physikalischen  Umsetzungen  in  geschlossenem  Rohr 

und  über  Hrn.  Heydweillers  Entdeckung. 

Eine  Einleitung 

von 
Georg  W.  A.  Kahlbaum. 


In  Nr.  2  ihres  vierten  Jahrganges,  vom  15.  Oktober 
1902,  machte  die  „Physikalische  Zeitschrift"  Mitteilung 
von  einer  grundlegenden  Entdeckung,  die,  wenn  sie  sich 
bewahrheitet,  zu  den  schönsten  und  bedeutsamsten  der 
neuerdings  so  überaus  erfolgreichen  physikalischen  For- 
schung gehört. 

Hr.  Prof.  Adolf  Heydweiller  in  Münster  berichtet 
in  der  gedachten  Zeitschrift  folgendes: 

,5  In  Verfolgung  der  Untersuchungen  über  Gewichts- 
änderungen bei  chemischer  und  physikalischer  Um- 
setzung1), wurde  die  Gewichtskonstanz  radioaktiver  Sub- 
stanzen geprüft,  um  festzustellen,  ob  die  beobachteten 
Gewichtsänderungen  etwa  in  einem  Zusammenhange  mit 
den  Erscheinungen  der  Radioaktivität  stehen  könnten. 

5  g  radioaktiver  Substanz  von  de  Hcen  in  List- 
Hannover'1)  mit  der  Bezeichnung  „konzentriert"  und 
sehr  erheblicher  Aktivität  wurden  in  ein  Röhrchen  aus 

V)  Physikal.  Zeitschr.  Bd.  1.  1900.  S.  527  und  Drude.  Annal. 
Bd.  5.  1901.  S.  394. 

-i   Vergl.    /■'.  Ciesel,   Wiedemanu   Annal,   lid.  69.  1899.  S.  91. 


—     442 

alkalifreiem  Jenenser  Glase  477  Il[  von  0,7  cm  lichter 
Weite  und  13  cm  Länge  eingeschlossen  und  ihr  Gewicht 
mit  einem  gleichen  Röhrchen  voll  Glasstücken  von  nahe 
demselben  Gewicht  und  Volumen  mehrere  Wochen  hin- 
durch verglichen. 

Das  Ergebnis  war  ein  überraschendes.  Es  zeigte 
sich  ein  kontinuierlich  wachsender  Gewichtsunterschied, 
einer  Gewichtsabnahme  der  radioaktiven  »Substanz  um  etwa 
0,02  mg  in  24  Stunden  entsprechend.  Über  die  Einzel- 
heiten der  Untersuchung,  die  noch  mehrfach  Interes- 
santes bietet,  wird  an  anderer  Stelle  ausführlich  be- 
richtet werden.  Die  gesamte  bisher  beobachtete  Ge- 
wichtsäuderung  beträgt  bereits  nahe   7>  mg-" 

Soweit  das  Tatsächliche  in  der  Mitteilung  Prof. 
Heydweillers.  Wie  man  sieht,  handelt  es  sich  bei  dieser 
kurzen  Notiz  zunächst  um  die  sehr  gerechtfertigte  Wah- 
rung der  Priorität  für  diese  wichtige  Entdeckung.  Je- 
doch ist  Hr.  Prof.  Heydweiller  ein  so  ernster  und  sub- 
tiler Forscher,  dass  auch  einer  so  kurzen  Mitteilung  von 
ihm  grosse  Bedeutung  zukommt. 

Es  ist  also  festgestellt  worden,  dass  eine  Gewichts- 
änderung  in  geschlossenem  Glasgefäss  statthat,  -d.  h. 
dass  wägbare  Substanz   Glas   zu   durchdringen   vermag. 

Welcher  Art  diese  Materie  sei,  das  bleibe  zunächst 
gänzlich  aus  dem  Spiel. 

Die  Frage,  ob  Gewichtsänderung  in  geschlossenem 
Glasgefäss  möglich,  ist  des  öftern  aufgeworfen  worden; 
in  letzter  Zeit  bekanntlich  besonders  von  Hrn.  Lan  doit 
in  Berlin,  der  derselben  mit  ausserordentlicher  Sorgfalt 
und  Mühwaltung  nachgegangen    ist  und   noch  nachgeht. 

Es  ist  bekannt,  dass  die  auf  Wasserstoff  =  1  be- 
zogenen Atomgewichte  in  einer  Mehrzahl  von  Fällen 
von    einer    ganzen  Zahl    nur    um    recht    geringe  Wrerte 


44:î 


abweichen,  und  dass  diese  ganz  geringen  Abweichungen 
zwar  nicht  völlig  verschwinden,  aber  auch,  trotz  der  Ver- 
feinerung unserer  analytischen  Methoden,  nicht  nennens- 
wert wachsen.  Es  ist  weiter  bekannt,  dass,  auf  diese 
Tatsache  hin,  der  englische  Arzt  William  Prout  in  einer 
1815  erschienenen  Arbeit  behauptet  hat,  dass  die  Atomge- 
wichte einfache,  geradzahlige  Multipla  des  Wasserstoffs 
=  1  seien,  woraus  sich  ableiten  liesse,  dass  die  ver- 
schiedenen Elemente  nichts  anderes  als  verschiedene  Ver- 
dichtungsphasen  einer  Urmaterie,  zunächst  einmal  des 
AVasserstoffes,  seien.    — 

Begreiflicherweise  erregte  diese  sogenannte  Prout'sche 
Hl/pol hese  ein  ungeheueres  Aufsehen,  und  das  um  so 
mehr,  als  die  uns  heut  geläuligen  Zahlen,  auf  H  =  1 
bezogen,  damals  nicht  gebräuchlich  waren,  wenn  auch 
Poggendorffs1)  Bemerkung,  Prout  habe  überhaupt  als 
erster  den  Wasserstoff  zu  Grunde  gelegt,  falsch  ist;  das 
tat  schon  Da/ton  -). 

Zwar  niemals  in  unbestrittener  Geltung  stehend,  er- 
hielt diese  Hypothese  doch  wieder  einen  gewaltigen 
Stimulus,  als  Dumas  und  Stas,  1840,  fanden,  dass  das 
Atomgewicht  des  Kohlenstoffes  mit  12,0008  im  Gegen- 
satz zu  des  Berzelius  wiederholter  Festlegung  mit  12,23, 
ebenfalls  der  Regel  Prouts  zu  folgen  schien.  War  doch 
Stas  selbst,  offenbar  durch  den  Erfolg  der  Bestimmung 
des  Kohlenstoffs,  zu  Prouts  Anschauungen  bekehrt,  und 
begann  er  seine  mit  unerreichter  Sorgfalt  durchgeführten 
Arbeiten,  die  zu  dem  unumstösslichen  Satz  führten,  dass 
die  Atomgewichte  nicht  durch  ganze  Zahlen  ausgedrückt 


')  Handwörterbuch   lid.  2.  Spalte  539. 

'-)  Die  Entstehung  der  Dallonschen  Atomtheorie.  Deutseh  von 
Kahlbaum.  Monographien  aus  der  Geschichte  der  Chemie,  Heft  2. 
1898.  S.  27  u.  Tafel  3. 


444 


werden  dürfen'),  ursprünglich,  um  das  Gegenteil  zu  be- 
weisen. 

Fest  steht  also,  dass  die  ermittelten  Werte  zwar  mit 
Dezimalen  behaftet  sind,  immerhin  in  ihrer  Mehrzahl 
von  ganzen  Zahlen  nur  sehr  wenig  abweichen. 

Es  darf  also  die  Frage  aufgeworfen  werden:  Sind 
nicht  etwa  besondere,  andere  Gründe  und  Ursachen  da- 
für haftbar  zu  machen? 

Das  ist,  50  Jahre  nach  Prout,  1865  durch  Marignac 
bereits  geschehen. 

Wir  wissen,  dass  die  beiden  grossen  Gasgesetze, 
welche  die  Änderung  des  Volumens  aller  Gase  bei  Druck- 
und  Temperaturwechsel  regeln,  keine  absolute  Gültigkeit 
haben  ;  und  ebenso  ist  es  bekannt,  dass  das  gleiche  von 
dem  Gesetze  der  konstanten  Atomwärmen  gilt. 

Mit  Bezug  auf  die  beobachteten  Abweichungen  bei 
den  beiden  ersten  Gesetzen,  meint  nun  Marignac'2)'.  Man 
könne  die  Hypothese  Prouts  neben  die  Gesetze  von  Boglc 
(Marignac  nennt  es  1865  natürlich  noch  nach  Mariotte) 
und  Gay-Lussac  stellen,  und  eine  wesentliche  Ursache 
annehmen,  aus  der  die  Einfachheit,  die  Geradzahligkeit 
der  Verhältnisse  der  Atomgewichte  abzuleiten  sei,  dazu 
aber  noch  sekundäre  Ursachen,  denen  die  geringfügigen 
Abweichungen  von  der  absoluten  Gültigkeit  des  Gesetzes 
zuzuschreiben   seien. 

Es  wird  sich  nun  weiter  fragen,  welcherlei  x4.rt 
können  denn  diese  sekundären  Ursachen  sein,  die  eine 
solche  störende  Einwirkung  auszuüben  imstande  sind? 


J)  Untersuchungen  über  die  Gesetze  der  chemischen  Propor- 
tionen, über  die  Atomgewichte  und  ihre  gegenseitigen  Verhältnisse. 
Leipzig,  Quandt  und  Händel  1867.  Begonnen  wurden  diese  Arbeiten 
Stils'  bereits  1860. 

-')  Liebig,  Annal.  Supplbd.  +.  1865-66.  S.  206. 


—     445     — 

Marignac  selbst  hat  sich  darüber  nicht  ausgelassen, 
dagegen  hat  Lothar  Meyer  ausdrückliche  Antwort  darauf 
erteilt. 

In  seinen  „Modernen  Theorien"  sagt  er  darüber: 

„Es  ist  wohl  denkbar,  dass  die  Atome  aller  oder 
vieler  Elemente  doch  der  Hauptsache  nach  aus  kleineren 
Elementartheilchen  einer  einzigen  Urmaterie,  vielleicht  des 
Wasserstoffes,  bestehen,  dass  aber  ihre  Gewichte  darum 
nicht  als  rationale  Vielfache  von  einander  erscheinen, 
weil  ausser  den  Theilchen  dieser  Urmaterie,  etwa  noch 
grössere  oder  geringere  Mengen  der  vielleicht  nicht  ganz 
gewichtlosen,  den  AVeltraum  erfüllenden  Materie,  welche 
wir  als  Lichtäther  zu  bezeichnen  pflegen,  in  die  Zu- 
sammensetzung der  Atome  eingehen. 

Es  ist  das  eine  Hypothese,  die  nicht  unzulässig  er- 
scheint und,  obwohl  sie  zur  Zeit  weder  erwiesen  noch 
widerlegt  werden  kann,  doch  in  weiterer  Ausführung 
vielleicht  zukünftig  lohnende  Früchte  zu  tragen  vermag, 
wenn  sich  auch  für  den  Augenblick  die  Gewinnung  solcher 
noch  nicht  erwarten  lässt1)." 

So  wie  der  Ausspruch  Mariannes  als  Erwiderung 
auf  den  Satz  von  Sias  :  ,.Ich  betrachte  somit  die 
Prouhche  Hypothese  als  eine  reine  Täuschung,  und  die 
für  unzersetzbar  geltenden  Körper  als  voneinander  ver- 
schiedene Wesen,  welchen  keine  einfache  Beziehung  der 
Gewichte  untereinander  zukommt"  2),  anzusehen  ist,  so  ist 
hinwiederum  Lothar  Meyers  Betrachtung  direkt  durch 
Marignacs  Überlegung  gezeitigt  worden.  Sie  erscheint 
denn  auch  erst,  in  direkter  Verbindung  mit  dem 
Namen  des  Genfer  Forschers,  in  der  2.  Auflage  der 
„Modernen  Theorien"  1872,  während  die  erste  Ausgabe 
1864  nichts   davon  enthält.     Seiner  Ansicht    ist  Lothar 


')  Lotkar  Mener,  Moderne  Theorien  1872.  2.  Ann.  S.  293. 
2)   Liebig,  Annal.  Supplbd.  4.  1865-1866.  S.  170. 


446 


Meyer  dann  aber  treu  geblieben,  denn  das  am  Morgen 
seines  Todestages,  11.  April  1895,  an  die  Verlagshandlung 
»osandte  Manuskript  der  6.  Auflage  bringt  dieselbe  nocb 
wörtlich  wieder. 

Der  Welt-  oder  Lichtäther,  der  Träger  der  Fern- 
wirkung,  wird  heut  im  allgemeinen  nicht  für  absolut 
schwerelos  angesehen.  Seine  Schwere  ist  z.  B.  von 
Qrmtz1)  zu  angenähert  10— 17  von  der  des  Wassers  be- 
rechnet worden.  Wenn  das  Boyle'sche  Gesetz  strenge 
Gültigkeit  hätte,  und  die  Temperatur  konstant  bliebe, 
würde  danach  die  Dichte  der  Luft  bereits  33  Meilen 
über  der  Erdoberfläche  die  gleiche  wie  diese  des  Äthers 
sein2). 

Man  sieht  also,  dass  auch  Materie,  im  gewöhnlichen 
Sinne  des  Wortes,  von  der  Dichte  des  Äthers  keines- 
wegs undenkbar  ist. 

Wenn  also  der  Äther  auch  nicht  völlig  schwerelos 
ist,  so  ist  er  immerhin  so  leicht,  —  der  in  einer  Säule 
atmosphärischer  Luft  von  einem  Quadratmeter  Quer- 
schnitt und  30  Meilen3)  Höhe  enthaltene  Äther  würde 
0,0022  mg  wiegen4),  —  dass  er  sich,  in  der  Form,  in 
welcher  er  in  der  Atmosphäre  enthalten  ist,  der  Wägung 
mit  unsern  heutigen  Mitteln  entzieht. 

Nun  ist  aber  eine  wohl  als  allgemein  gültig  anzu- 
sehende Regel  die,  dass  alle  Körper  an  ihrer  Oberfläche 
Luft  verdichten.  Wie  so  viele  andere,  habe  auch  ich. 
bei  meinen  vielfachen  Arbeiten  im  Vakuum,  unzählige 
dahingehende  Beobachtungen  gemacht,  so  dass  ich  zu 
der  Annahme  geführt  wurde,  dass  alle  Oberflächen  mit 
einem  dicken  Polster  verdichteter  Luft    überzogen  sind. 


!)  L.  Grutz.  Wiedemann  Amial.  Bd.  25.  1685.  S.  171. 

2)  L.  Grœlz-,  a.  a.  0.  S.  172. 

3)  Mittlere  Erdatmosphärenhöhe. 

4)  L.  Grœtz,  a.  a.  0.  S.  171. 


—     447 

Diese  Ansicht  -  -  von  der  an  den  Oberflächen  ver- 
dichteten Luft  —  hat  der  Botaniker  Karl  Wilhelm  Nägeli 
in  München  1H84  auf  den  Äther  übertragen,  der  dadurch 
in  einen  Zustand  überginge,  in  dem  er  auch  für  unsere 
heutigen  Mittel  wägbar  sein  könnte.  Nach  ihm  sollen 
die,  die  Atome  zusammensetzenden,  „Ameren"  von  einer 
solchen  Hülle  wägbaren  oder  Schweräthers  umgeben 
sein. 

Ich  gehe  hier  auf  Nägelis  Theorie  der  Ameren  nicht 
näher  ein,  sondern  verweise  auf  die  Einleitung  zu  Hrn. 
Landolts:  „Untersuchung  über  etwaige  Änderung  des 
Gesamtgewichtes  chemisch  sich  umsetzender  Körper1)," 
die  ich  mir,  wie  hier,  auch  sonst  bei  meinen  einleitenden 
Sätzen,  natürlich  zu  nutze  gemacht  habe. 

An  die  Besprechung  der  Ameren-Theorie  schliesst 
Hr.  Landoll  folgende  Sätze  an:  „Macht  man  auf  Grund 
dieser  Nägeli'' sehen  Anschauungen  die  zulässige  Annahme, 
dass  die  Schwer älhcr hüllen  der  verschiedenen  chemischen 
Atome  ungleich  dicht  sein  werden,  so  muss,  wenn  in  dem 
Molekül  einer  Verbindung  ein  Element  sich  durch  ein 
anderes  ersetzt,  an  der  eintretenden  Gewichtsänderung 
auch  die  veränderte  Menge  des  wägbaren  Äthers  Anteil 
haben."  —  Dieser  Satz  ist  zweifellos  richtig  und  die 
Annahme  sicher  gestattet.  Nun  heisst  es  aber  weiter: 
„Somit  könnte  der  Fall  eintreten,  dass  bei  sehr  genauer 
Wägung  das  Gesamtgewicht  zweier  Körper  vor  und  nach 
ihrer  chemischen  Umsetzung  nicht  völlig  gleich  gefunden 
wird,  indem  eine  gewisse  Menge  ponderablen  Äthers 
aus-  oder  eingetreten  ist.  Das  gleiche  wäre  möglich, 
wenn  der  Äther  von  den  Atomen  chemisch  aufgenommen 
wird." 


1)  H.  Landolt,  Mathematische  und  naturwissenschaftliche  Mit- 
teilungen aus  den  Sitzungsber.  d.  K.  Akad.  der  "Wissenschaft,  zu 
Kerlin.  Jahrg.  1893.  S.  187. 


448 


So  wie  es  hier  gesagt  wird,  berechtigt  die  Prämisse 
nicht  zu  dem  daraus  gezogenen  Schluss. 

Es  sei  A  das  Gewicht  eines  Atomes  und  a  das  Ge- 
wicht der  dazugehörigen  Schwerätherhülle,  die  gleiche 
Bedeutung  mögen  haben  B  und  b,  C  und  c,  D  und  d. 

Es  möge  sich  nun  umsetzen: 

(A  +  a)  (B  +  b)  und  (C  +  c)  (D  +  d) 


zu 


(A  +  a)  (D  +  d)  und  (C  +  c)  (B  +  b). 


Dabei  würde  niemals  eine  Änderung  des  Gesamtgewichtes 
zu  konstatieren  sein  können.  Eine  solche  würde  erst 
dann  möglich  sein,  wenn  die  weitere  Prämisse  zuträfe, 
dass  mit  einem,  sagen  wir  kurz,  Wechsel  der  Affinität, 
in  allen  oder  einzelnen  Fällen  eine  Änderung  der  Masse 
der  Schwerätherhülle  einträte,  also  wenn,  —  es  seien 
die  geänderten  Massen  der  Atherhüllen  durch  griechische 
Buchstaben  angedeutet,  —  im  günstigsten  Falle,  aus 

(A  +  a)  (B  +  b)  und  (C  +  c)  (D  +  d) 
würde 

(A  +  a)  (D  +  Ô)  und  (C  +  y)  (B  +  ß). 

Ob  eine  solche  Annahme  gemacht  werden  darf,  ist  aller- 
dings fraglich;  mir  erscheint  sie  zulässig. 

Ohne  auf  weitgehende  Spekulationen  einzutreten 
und  unter  Zugrundlegung  rein  mechanischer  An- 
schauungen, von  denen  jedoch  noch  ausdrücklich  betont 
werden  sollte,  dass: 

„dies  alles  nur  sind  Schemen 
zum  Gebrauche  für's  Katheder", 

könnte  etwa  folgendes  ausgeführt  werden.  Das  Auftreten 
der  chemischen  Verwandtschaft  zweier  Stoffe  kommt  zu- 


—     449     — 

nächst  zum  Ausdruck  in  der  Sprengung  bestehender  und 
der  Bildung  neuer  Molekular  verbände.  Innerhalb  eines 
solchen  wird  sie  sich  etwa  betätigen  können  durch  eine, 
gegeneinander  zu  und  voneinander  ab  gerichtete  . 
schwingende  Bewegung  der  Atome.  Grössere  Verwandt- 
schaft könnte  sich  dann  z.  B.  durch  kleinere  Amplituden 
und  kürzere  Schwingungsintervalle  geltend  machen.  Es 
wird  kaum  anzunehmen  sein,  dass  Atome  von  Stoffen 
entfernterer  (!)  Verwandtschaft  in  engeren  und  häufigeren 
Beziehungen  zueinander  stehen  werden,  wie  solche  von 
grösserer  Verwandtschaft. 

Lassen  wir  diese  Annahme  gelten,  so  würde  es  nicht 
gezwungen  erscheinen,  vorauszusetzen,  dass  bei  diesem 
Wechsel  im  Rhythmus  der  Atombewegung  auch  die 
Ätherhüllen  in  Mitleidenschaft  gezogen  werden;  ob  im 
Sinne  einer  Lockerung  oder  Verdichtung,  bleibe  zunächst 
aus  dem  Spiel.  Jedenfalls  aber  würde,  da  unter  allen 
Bedingungen  eine  Umlagerung  nur  im  Sinne  einer  Be- 
I 'ii h (jung  engerer  Verwandtschaft  zueinander  stattfinden 
kann,  anzunehmen  sein,  dass  diese  Änderung  auch  stets 
nur  in  einem  Sinne  verlaufen  kann,  zum  mindesten  für 
endotherme  Reaktionen  einer-  und  exotherme  Reaktionen 
andererseits. 

Meiner  Auffassung  nach,  sollten  alle  freiwilligen  Uni- 
on! nungen  stets  mit  einer  Abnahme  der  umhüllenden 
Athermasse  Hand  in  Hand  gehen;  denn  je  dichter  die 
indifferente  Hülle  ist,  um  so  weniger  wird  sich  die  ver- 
schiedene chemische  Natur  der  Atome,  aus  der  ja  der 
grössere  oder  geringere  Grad  der  Verwandtschaft  der 
Stoffe  zu  einander  resultiert,  geltend  machen  können. 

Handelt  es  sich  dagegen  um  eine  Umlagerung  im 
Sinne  einer  Änderung  der  physikalischen  Konstanten, 
also  z.  B.  Polymerisation,  so  lässt  sich  die  Frage,  ob 
eine    Zu-    oder    Abnahme    eintreten    wird,    aphoristisch 

2'.» 


—     450 

nicht  entscheiden,  dagegen  müsste  die  Änderung  unter 
allen  Bedingungen  nach  den  beiden  Richtungen  entgegen- 
gesetzt verlaufen. 

Der  Schlusssatz  in  Hrn.  Landolls  Erwägung:  „Das 
gleiche  wäre  möglich,  wenn  der  Äther  von  den  Atomen 
chemisch  aufgenommen  wird,"  bleibt  natürlich  zu  Recht 
bestehen,  und  jetzt,  aber  auch  jetzt  erst,  dürfen  wir  den 
Vordersatz  gelten  lassen:  ., Somit  könnte  der  Fall  ein- 
treten, dass  bei  sehr  genauer  Wägung  das  Gesamtge- 
wicht zweier  Körper  vor  und  nach  ihrer  chemischen 
Umsetzung  nicht  völlig  gleich  gefunden  wird."  Dabei 
müsste  nach  den  oben  entwickelten  Anschauungen  in 
allen  Fällen    eine    Abnahme    des  Gewichtes    stattfinden. 

Als  eine  andere  Fehlerquelle  bei  der  Bestimmung 
des  exakten  Gewichtes  chemischer  Verbindungen  vor 
und  nach  dem  Umsatz  wäre  noch  denkbar,  dass  die 
Schwere  nicht  auf  alle  Substanzen  mit  völlig  gleicher 
Intensität  wirke.  Dass  dieselbe  aber  praktisch  nicht  in 
Betracht  kommt,  darauf  hat  Hr.  Landoll v)  bereits  hin- 
gewiesen, ich  brauche  also  hier  nicht  damit  zu  rechnen. 
Dagegen  ist  man  über  die  Masse  des  um  die  Atome  oder 
mit  denselben  verdichteten  Äthers  völlig  im  unklaren. 

Nach  unserer  Auffassung  ist  das  All  mit  Äther  er- 
füllt, derselbe  durchdringt  alles  und  bewregt  sich  überall 
frei  hin-,  für  ihn  gibt  es  kein  Hindernis. 

Nehme  ich  nun  in  einem  geschlossenen  Rohr  eine 
chemische  Umsetzung  vor,  und  konstatiere  dabei  eine 
Gewichtsänderung  des  Gesamtsystems,  so  wäre  —  sub- 
tilste Beachtung  aller  möglichen  Fehlerquellen  selbst- 
verständlich vorausgesetzt  —  eine  solche  allein  aus  einer 
Änderung  des  Athergehaltes  im  Glasrohr  erklärlich. 

Daraus  aber  würde  einmal  x\ufschluss  gewonnen 
darüber,  in  Avelcher  Grössenordnung  der  Schweräther  an 

]j  Luudoll,  a.  gl.  0.  S.  189. 


451      — 

dem  Gesamtgewicht  der  Stoffe  etwa  beteiligt  ist,  und 
weiter,  darüber,  ob  ein  Wechsel  in  der  Masse  des  Äthers 
die  analytischen  Befunde  soweit  fälschen  könnte,  dass 
darin  die  Abweichung  von  der  strengen  Gültigkeit  der 
Prout'achen  Hypothese  ihre  Erklärung  fände.  — 

Solche  Versuche  sind  in  geringerem  Umfange  im 
Jahre  1891  in  Berlin  vonKreichgauer1),  und,  in  viel  aus- 
gedehnterem Maasse  und  mit  stupendester  Sorgfalt  durch- 
geführt, 1892  von  Landolt,  in  der  mehrfach  genannten 
Arbeit,  veröffentlicht  worden. 

Die  Umsetzungen,  die  Hr.  Landolt  vornahm,  waren: 

1.  Silbersulfat  und  Ferrosulfat  in  Silber  und  Ferri- 
sulfat 

Ag2  SO*  +  2  Fe  SÛ4  =  2  Ag  +  Fe2  (SO^s. 

2.  Jodsäure  und  Jodwasserstoff  in  Jod  und  Wasser 
HJO3  +  5  H2  SO*  +  5  KJ  =  6  J  1  5  KHSO4 

+  3  H2  O. 

3.  Überführung  von  Jod  in  Jodwasserstoff  mit  Hülfe 
von  Natriumsulfit 

2  J  +  2  Na2  SOa  =  2  Na  J  +  Na,-  S2  Og  und 
2  J  +  Na2  SOs  +  H2  O  =  2  HJ  +  Na2  SO*. 

4.  Umsetzung    von   Chloralhydrat    und   Ätzkali    in 
Chloroform  und  Kaliumformiat 

CCI3  -  CH(OH>  +  KOH  =  CCla  H 
+  CHK02  -1  H2  O. 
Welche  besondern  Gründe  zur  Wahl  gerade  dieser 
Reaktionen  geführt  haben,    wird  nicht   ausdrücklich  be- 
tont,   vielleicht  gibt    aber  die  folgende  Überlegung,    die 
der  Hr.  Verfasser  anstellt,  darüber  Aufschluss: 


*)   I).  Kreichgauer,  Einige  Versuche  über  die  Schwere.  Verh. 
d.  physik.  Gesellschaft  zu  Berlin.  Jahrg.  10.  1891.  S.  13. 


452 

„Hält  man  an  der  Vorstellung  des  wägbaren  Äthers 
fest,  so  muss,  wenn  bei  diesen  Reaktionen  eine  Zu-  oder 
Abnahme  des  Gewichtes  eintritt,  diese  davon  herrühren, 
dass  die  zwei  neu  gebildeten  Substanzen  einen  andern 
Athergehalt  besitzen  als  die  beiden  ursprünglichen. 
Bleibt  das  Gewicht  unverändert,  so  könnte  dies  aller- 
dings davon  herrühren,  dass  bei  dem  chemischen  Umsatz 
nur  eine  andere  Verteilung  des  Äthers  stattfindet,  und 
die  Summe  desselben  in  den  vor  und  nach  der  Reaktion 
vorhandenen  Körpern  die  gleiche  bleibt.  Bei  der  grossen 
Verschiedenheit  der  betreffenden  Substanzen  ist  jedoch 
dieser  Fall  wenig  wahrscheinlich." 

Nach  dem  weiter  oben  gesagten  wird  uns  das  je- 
doch kaum  Ausschlag  gebend  erscheinen. 

Das  Endresultat  seiner  Untersuchung  fasst  Hr. 
Lundolt  in  folgende  Worte  zusammen:  „dass  bei  keiner 
der  angewandten  Reaktionen  sich  eine  Gewichtsänderung 
mit  Bestimmtheit  hat  konstatieren  lassen.  Wenn  solche 
dennoch  bestehen  sollten,  so  sind  sie,  wie  die  Versuche 
über  die  Abscheidung  von  Silber  und  von  Jod  gezeigt 
haben,  von  einer  derartigen  Kleinheit,  dass  dadurch  die 
stöchiometrischen  Rechnungen  in  keiner  Weise  beein- 
flusst  werden.  Demzufolge  ist  auch  die  der  ganzen 
Arbeit  zu  Grunde  gelegte  Frage,  ob  die  Abweichungen 
der  Atomgewichte  von  ganzen  Zahlen  etwa  davon  her- 
rühren, dass  bei  den  chemischen  Umsetzungen  der  Körper 
eine  gewisse  Menge  wägbaren  Äthers  aus-  oder  eintritt, 
im  verneinenden  Sinne  entschieden 

In  physikalischer  Hinsicht  dürfte  es  dagegen  wohl 
Interesse  bieten,  die  nicht  genügend  aufgeklärten  Ge- 
wichtsabnahmen, welche  sich  bei  der  Reduktion  von 
Silber  und  Jod  stets  gezeigt  haben,  durch  eine  Reihe 
weiterer  Versuche  auf  ihr  wirkliches  Bestehen  zu  prüfen. 


4:):; 

denn  es  herrscht  immerhin  keine  vollständige  Sicherheit 
darüber,  dass  dieselben  sämtlich  auf  Beobachtungsfehlern 
beruhen1)." 

Dies  der  Schluss  von  Landolts  klassischer  Arbeit 
den  man  ohne  Zweifel  wird  ganz  und  voll  unterschreiben 
können.  Seither  hat  der  ausgezeichnete  Forscher  diese 
Untersuchungen  fortgesetzt,  seine  Resultate  jedoch  nur 
mündlich  der  kgl.  Akademie  der  Wissenschaften  mitge- 
teilt. Nach  einem  Bericht  in  der  Naturw.  Rundschau, 
die  mir  leider  im  Original  nicht  vorgelegen  hat,  hat  er 
bei  diesen  Studien,  sowohl  bei  der  Auflösung  von  Chlor- 
ammonium in  Wasser  als  bei  der  Einwirkung  von  Jod- 
säure auf  Jodwasserstoff,  merkliche  Gewichtsverminde- 
rungen beobachtet  -). 

Die  Versuche  Landolts  sind  von  Hrn.  Heydweiller 
zu  dem  Zweck  aufgenommen  worden  „einmal  die  That- 
sache  durch  weitere  Beobachtung  auch  bei  andern  Re- 
aktionen sicherzustellen,  sodann  den  Versuch  zur  Auf- 
rindung  von  Gesetzmässigkeiten  und  Beziehungen  zu 
andern  mit  der  Umwandlung  verbundenen  Änderungen 
physikalischer  Eigenschaften  zu  machen3)." 

Da  uns  hier  allein  die  Frage  nach  einer  möglichen 
Grewi'chtsänderung  in  geschlossenen  Glasgefässen  be- 
schäftigt, so  können  wir  von  einer  Betrachtung  des 
zweiten  Teiles  von  Heydiceillers  Aufgabe  absehen,  und 
wollen  wir  uns  nur  an  den  ersten  halten. 

Heydweiller  hat  sowohl  chemische  wie  physikalische 
Phänomene  studiert:  Umsetzung  von  Eisen  und  Kupfer- 


l)  Landoll,  a.  a.  0.  S.  219. 

-)  Naturw.  Rundschau.  Bd.  17.  1902.  S.  118.  Vergl.  auch  Heyd- 
weiller, Physik.  Zeitschrift.  Bd.  3.  1902.  S.  425. 

:;  Heydweiller,  Über  (rewiehtsänderung  bei  chemischer  und 
physikalischer    Umsetzung.      Physikal.    Zeitschrift.     I!d.    1.     1900. 

s.  ;»27. 


—     454     — 

sulfat;  Kaliumhydroxyd  mit  Kupfersulfat;  von  Chlor- 
baryum  mit  Schwefelsäure  ;  Lösung  von  Kupfersulfat  in 
sauren  und  neutralen  Medien  u.  s.  w.;  u.  s.  w. 

Aus  seinen  äusserst  sorgfältigen  Beobachtungen 
leitet  Hr.  Heydiveiller  folgendes  Resultat  ab:  „Als 
sicher  festgestellt  kann  man  also  die  Gewichtsänderung 
betrachten:  bei  der  Wirkung  von  Eisen  auf  Kupfersulfat 
in  saurer  oder  basischer  Lösung,  bei  der  Auflösung  von 
saurem  Kupfersulfat  und  bei  der  Wirkung  von  Kalium- 
hydroxyd auf  Kupfersulfat1)." 

Hinzuzufügen  ist  noch,  worauf  Heydiveiller  hin- 
Aveist,  dass  die  Frage,  ob  die  Gewichtsänderungen  den 
Reaktionsmengen  proportial  sind,  sich  nach  den  vor- 
liegenden Versuchen  nicht  entscheiden  lässt. 

Dagegen  sind  alle  —  die  jüngsten  Landolt' sehen 
Versuche  mit  hineinbezogen  —  mit  Sicherheit  beobachteten 
Gewichtsänderungen  in  der  Tat  Abnahmen. 

Der  Wert  dieser  Abnahmen  ist  allerdings  ein  ausser- 
ordentlich geringer,  er  übersteigt  nur  in  4  von  23  bei 
Heydiveiller-)  aufgezählten  Fällen  0,1  mg.  Im  Mittel 
betragen  die  Gewichtsänderungen  0,05  mg,  sinken  aber 
in  einzelnen  Fällen  bis  auf  0,001  mg  herab.  In  der- 
selben Grössenordnung  etwa  bewegen  sich  die  Beobach- 
tungen Landolts.  Auf  100  g  Reaktionsmasse  trifft  bei 
ihm  eine  Gewichtsänderung  von  im  Mittel  0,05  mg  gegen 
einen  wahrscheinlichen  Wägungsfehler  von  im  Mittel 
0,012  mg3).  Bei  Hrn.  Heydiveiller  verhält  sich  das  Ge- 
wicht der  Reaktionsmasse  zum  Gesamtgewicht  etwa  wie 
2  zu  3,  bei  Hrn.  Landolt  schwankt  das  Verhältnis  zwischen 
1   zu  9  und  4  zu  7. 


i)  Het/diceiUer,  Drude  Annal.  I'.d.  5.  1900.  S.  418. 

-i  Eeydweiller,  Physikal.  Zeitschrift.  I'.d.  1.  1900.  S.  528. 

3)  Landolt,  a.  a.  0.  S.  217. 


—     455     — 

Man  siebt,  dass  die  Versuchsbedingungen  in  Anbe- 
tracht der  sehr  geringen  Gewichtsänderungen  nicht  gerade 
besonders  günstige  genannt  werden  können. 

Weiter  leiden  die  Untersuchungen,  wenn  man  sie 
von  dem  Standpunkte  des  Versuches  :  festzustellen,  mit 
welcher  Masse  etwa  der  Schweräther  am  Gewicht  der 
Substanz  beteiligt  ist,  betrachtet,  auch  an  dem  Mangel, 
dass  sie  immer  nur  nach  einer  Richtung  verlaufen,  dass 
keiner  von  ihnen  umkehrbar  ist.  Denn  weder  die  Lö- 
sungsversuche Heydweülers,  wie  er  das  auch  selbst  be- 
tont1), können  ohne  weiteres  umgekehrt  werden,  noch 
braueben,  wie  das  oben  gezeigt  wurde,  die  Versuche 
Landolts,  bei  deren  einem  Jod  ausgeschieden  wird,  wäh- 
rend es  bei  dem  andern  in  eine  Verbindung  eingeht,  im 
entgegengesetzten  Sinne  zu  verlaufen. 

Dieser  Mangel  an  Umkehrbarkeit  wirkt  um  so  stö- 
render, als,  wie  gezeigt,  bisher  nur  Abnahmen  sicher  be- 
obachtet sind,  und  alle  jene  Fehler,  die  aus  dem  doch 
einmal  nicht  ganz  vermeidlichen  Abputzen  der  Apparate 
resultieren,  nach  derselben  Richtung  wirken  müssen,  und 
werden  die  hierdurch  möglichen  Fehler  mit  der  Oberfläche 
des  Apparates,  und  damit  auch  mehr  oder  minder  mit  der 
Menge  des  angewandten  Reaktionsgemisches,  wachsen 
müssen.  Auch  die  bei  den  chemischen  Reaktionen  auf- 
tretende Wärme  kann,  selbst  wenn  das  ganze  System  auf 
niederer  Temperatur  gehalten  wird,  da  wo  die  Umsetzung, 
von  Molekel  zu  Molekel  wirkend,  etwa  hart  an  der  Glas- 
wandung vor  sich  geht,  im  gleichem  Sinne  störend  wirken. 

Nach  alldem  was  gesagt  ist,  würden  die  günstigsten 
Umstände  zur  Erreichung  des  oben  präzisierten  Zweckes 
—  Bestimmung  der  Grössenordnung  der  Menge,  mit 
welcher  der  Äther  an  dem  Gewicht  eines  Stoffes  beteiligt 
ist,  —  etwa  die  folgenden  sein: 

i)  Heydicviller,  Physika!.  Zeitschrift.  Bd.  3.  1902.  S.  425. 


456 

Ausführung  eines  umkehrbaren  Prozesses,  der  sieh, 
nach  beiden  Richtungen  innerhalb  enger,  von  der  mittleren 
nicht  weit  abweichenden  Temperaturgrenzen  abspielt,  und, 
ohne  besondere  äussere  Reizmittel  vor  sich  gehend,  einen 
weitgehenden  Umbau  der  Molekel  zur  Folge  hat,  dabei 
selbstverständlich  die  Glaswandungen  nicht  angreift 
und,  das  Verhältnis  der  Reaktionsmasse  zum  Gesamt- 
gewicht möglichst  zu  Gunsten  der  er  st  er  en  zu  ver- 
schieben, wie  überhaupt  die  Verwendung  von  Massen, 
die  allein  von  der  Tragfähigkeit  der  Wage  abhängig 
sind,  erlaubt. 

Ein  Stoff,  der  allen  diesen  Anforderungen  entspricht, 
ist  z.  B.  das  Zinn  in  seinen  beiden  Modifikationen,  dem 
weissen  und  dem  grauen  Zinn.  Über  diese  beiden  Zinn- 
modifikationen  ist  in  jüngster  Zeit  eingehend  von  Dr. 
Karl  Schaum  in  Marburg  und  besonders  auch  von  Prof. 
Ernst  Cohen  in  Amsterdam  gearbeitet  worden.  Nach 
der  Auffassung  des  letzteren  befindet  sich  „unsere  ganze 

Zinnwelt  stets in  metastabilem  Gleichgewicht1)" 

und  das  in  dem  Sinne,  dass  sich  an  kälteren  Tagen  eine 
langsame  Umwandlung  in  die  graue,  an  wärmeren  eine 
solche  in  die  weisse  Modifikation  vollzieht;  der  Umwand- 
lungspunkt liegt  bei  +  20°  C. 

Ich  kann,  auf  die  schon  genannten,  interessanten 
Arbeiten  verweisend"2),  hier  über  die,  sich  auf  die  Um- 
wandlungs-Temperatur und  Zeit  beziehenden,  eingehenden 
Studien  hinweggeben,  und  will  nur  mitteilen,  was  ich,  über 
die  günstigsten  Bedingungen  zur  Umwandlung  von  weissem 


1)  Cohen.  E.  und  van  Eijk,  Zeitschrift  f.  physikal.  Chemie. 
Bd.  30.  1899.  S.  621. 

-)  Schaum,  K.,  Liehig  Annal.  Bd.  308.  1899.  S.  29;  Cohen,  E. 
und  Éijk,  C.  von.  a.  a.  0.  S.  601;  Cohen,  E..  Zeitschrift  f.  physikal. 
Chemie.  Bd.  33.  1900.  S.  57;  Bd.  35.  1900.  S.  588;  Bd.  36.  1901. 
8.  513. 


457 


in  graues  Zinn,  einer  freundlichen  brieflichen  Mitteilung 
des  Hrn.  Prof.  Cohen,  vom  24.  Hornung  1901,  ver- 
danke. 

Hr.  Prof.  Colteil  schreibt:  „Ich  selbst  arbeitete  in 
der  letzten  Zeit  meistens  bei  —  3°  C,  erhielt  jedoch  auch 
bei  0°  C.  gute  Resultate.  Bringen  Sie  einen  Teil  der 
Probe:  alkoholische  Pinksalzlösung  mit  gewöhnlichem 
Zinnfeilicht,  in  Ihren  Eisschrank  und  ich  zweifle  nicht, 
dass  Sie  in  6  Wochen  eine  deutliche  Umwandlung  her- 
vorrufen werden.  Die  Darstellung  von  100%.  grauem 
Zinn  nimmt  sehr  lange  Zeit  in  Anspruch."  —  Schaum 
gibt  einen  Fall  an,  in  dem  er  stengliges  Zinn,  das  er 
in  geschlossenen  Glasröhren  5  Monate  hindurch  in  die 
Kälteflüssigkeit  einer  Linde' sehen  Eismaschine  hing,  ganz 
in  die  graue  Modifikation  übergeführt  hat  '). 

Schaum  hat  mit  Animpfen  von  grauem  Zinn  keine 
günstigen  Resultate  erzielt,  -)  wogegen  Cohen  und  van  Eijk 
das  Gegenteil  behaupten. 3)  Die  Wahrscheinlichkeit  spricht 
für  die  letztere  Annahme. 

Schaum  hat  gewöhnliches  Zinn  weder  bei  Behand- 
lung in  Kohlensäure-Ather  noch  in  nüssiger  Luft  um- 
wandeln können,4)  und  Cohen  und  van  Eijk  haben  fest- 
gestellt, dass  die  günstigsten  Bedingungen  in  der  Tat 
bei  erheblich  niederem  Temperaturen  geboten  werden.5)  — 

Aus  diesen  Mitteilungen  waren  die  Arbeitsbedin- 
gungen zu  entnehmen,  und  so  habe  ich  mich  denn,  nach- 
dem ich  mich  früher  schon  überzeugt  hatte,  dass,  wie 
das  auch  Schaum  betont,  mit  Tieftemperaturen  so  ohne 
weiteres    befriedigende    Resultate   nicht    erzielt    werden, 


')  Schaum,  a.  a.  0.  S.  32. 

2)  Schaum  a.  a.  0.  S.  33. 

B)  Cohen  und  van   Eijk,  a.  a.  0.  S.  620. 

1 1   Schaum  am  gleichen  Ort. 

"')  Cohen  und  van  Eijk,  a.  a.  0.  S.  621. 


—     458 

seit  dein  Herbst  19Û1  mit  ümwandlungsversuchen  ab- 
gegeben, die  jedocli  erst  zu  einigermassen  befriedigenden 
Resultaten  führten,  seit  ich  im  Jänner  und  Hornung 
1902  durch  die  Güte  der  beiden  Herren,  Schaum  sowohl 
wie  Collen,  in  Besitz  von  grauem  Zinn  gelangt  war,  das 
ich  mit  Erfolg  zum  Animpfen  benutzen  konnte. 

Die  orientierenden  Versuche,  sowohl  Umwandlungs- 
wie  Wägungsversuöhe,  übergehe  ich  ganz  und  wende 
mich  direkt  denjenigen  Vorversuchen  zu,  —  denn  allein 
über  solche  habe  ich  hier  zu  berichten,  —  die  angestellt 
wurden,  festzulegen,  ob  es  möglich  sei,  mit  den  mir  zu 
Gebote  stehenden  Mitteln,  der  Frage  nach  einer  etwaigen 
Beteiligung  des  Schweräthers  am  Gesamtgewicht,  mit 
Aussicht  auf  erfolgreiche  Beantwortung,  näher  zu  treten. 

Weisses  Zinn  hat  das  spezifische  Gewicht  7.3,  graues 
Zinn  ein  solches  von  5.8;  es  findet  also  bei  völliger  Um- 
wandlung eine  Zu-  resp.  Abnahme  desselben  um  1.5  statt; 
dem  würde  eine  Änderung  des  Volums  um  im  Mittel 
rund  22  °  ,„  und  das  ohne  Zustandsänderung.  entsprechen, 
ein  in  der  Tat  ausserordentlich  hoher  Betrag,  der  wohl 
„einen  weitgehenden  Umbau  der  Molekel"  und  damit 
einen  entsprechenden  Wechsel  an  etwaigem  Schweräther- 
gehalt, vorauszusetzen  gestattet. 

Lan  doit  hat,  wie  wir  sahen,  die  Gewichtsabnahme 
für  100  g  Reaktionsmasse  zu  0,05  mg  im  Mittel  be- 
stimmt; welchen  Betrag  die  entsprechende  Änderung  bei 
der  Umwandlung  des  Zinnes  erreichen  würde,  Hess  sich 
nicht  voraussehen.  Für  meine  Mittel  wäre  eine  solche 
gleicher  Grössenordnung,  wie  sie  Landolt  angibt,  nicht 
mehr  nachweisbar  gewesen,  sie  konnte  aber  auch  grösser 
sein  und  niusste,  wie  oben  gezeigt,  je  nach  der  Um- 
wandlung im  einen  oder  im  entgegengesetzten  Sinne  ver- 
laufen, wodurch  etwaige  beobachtete  Änderungen  erheb- 
lich an  Beweiskraft   gewinnen  mussten. 


459     — 

Frühere  Versuche  hatten  gezeigt,  ')  dass  die  Be- 
lastung der,  auch  zu  diesen  Bestimmungen  benutzten, 
Wage  Bunge1  scher  Provenienz,  mit  Kollimator- Ablesung, 
unter  100  g  auf  jeder  Schale  bleiben  muss;  danach 
waren  also  auch  die  abzuwägenden  Massen  zu  begrenzen. 
Aus  einem  etwa  7  mm  im  Lichten  weiten  Rohr  aus 
Jenenser  G-las  wurden  5  etwa  15  cm  lange  Stücke  ab- 
geschnitten und  einseitig  zugeschmolzen,  von  denen  3  : 
Sm,  S112.  Sny  mit  grob,  —  etwa  2  mm,  — ■  körnigem  Zinnfei- 
licht, 2:  Gli  und  GI2  mit  Glasstücken  beschickt  und  je 
unter  sich  auf  möglichst  gleiches  Gewicht  wie  Volumen 
gebracht  und  vor  der  Lan^e  geschlossen  wurden. .  Die 
Volumina  betrugen,2)  nach  Anbringung  aller  Korrek- 
tionen, für: 

Sm  Sn-2  Sm 

21,539  cm:!     20,736  cm8     21,006  cm3 
Sm  -  Sn2  =  0,803  cm3 
Sm  -  Sn3  =  0,533    „ 
Sns  -  S112  =  0,270    „ 
und  für  die  beiden  mit  Glas  gefüllten  Rohre 
Gh  GI2 

16,683  cm3  15,832  cm3 

Gh  -  GI2  -  0.851  cm3 

Sni  und  S112  waren  mit  aus  Berlin  bezogenem  Zinn 
„Kahlbaum",  das  mit  etwa  20%  des  von  den  Herren 
Schaum  und  Cohen  gütigst  überlassenen  Feilichts  ange- 
impft   war,  gefüllt;  Sm     enthielt    dieselbe  Mischung. 


x)  Kahlbaum,  Roth  und  Siedler:  Über  Metalldestillation  und 
über  destillierte  Metalle.  Zeitschrift  für  anorgan.  Chemie.  Ed.  29. 
1902.  S.  210. 

2)  Da  die  Wagungen  in  Wasser  bei  mir  etwas  unbequem  aus- 
zuführen gewesen  wären,  hatte  Hr.  Dr.  Chappuis  die  grosse  Güte, 
die  Bestimmung  der  Volumina  in  seinem  Laboratorium  vorzuneh- 
men und  auch  alle   Reduktionen    auf   das  Vakuum    durchzuführen. 


460 

Nach  sorgfältigster  Bestimmung  der  Gewichte  aller 
fünf  Specimina  wurden  Sm,  S112  und  Gli,  in  Watte  ver- 
packt, zunächst  in  etwas  weitere  Glasröhre  eingeschmol- 
zen, diese,  einzeln  in  Sägemehl  gebettet,  in  Blechfutterale 
eingelötet,  zu  dritt  gemeinsam,  in  Holzwolle  verstaut,  in 
ein  oben  und  unten  verschraubtes  eisernes  Gasrohr  unter- 
gebracht und  dieses  150  Tage  hindurch,  vom  8.  Juli  bis 
zum  5.  Dezember  1902,  in  die  Kälteflüssigkeit  der  Eis- 
maschine der  Basler  Eisfabrik  eingehängt,  deren  Be- 
nutzung der  Besitzer,  Hr.  Ingenieur  Emil  Bürgin,  mit 
grösster  Zuvorkommenheit  gestattete,  wofür  ihm  auch  an 
dieser  Stelle  bestens  gedankt  sei. 

Die  Temperatur  des  Kältebades  hält  sich  beständig 
zwischen—  5°  und  —  7°C;  da  zudem,  unter  Tags  wenigstens, 
eine  so  gut  wie  dauernde  Erschütterung  des  Bades  statt- 
hat, so  dürften  die  Umstände  und  die  Zeitdauer  als  der 
Umwandlung  durchaus  günstig1)  bezeichnet  werden.  Den, 
als  Bcschleunigungsmittel,  empfohlenen  Zusatz  alkoho- 
lischer Lösung  von  Pinksalz  (Sn  CU  -j-  2  N  H4  C1)2J 
habe  ich,  um  den  Vorgang  durch  nichts  zu  komplizieren, 
vermieden.  Während  der  ganzen  Zeit  waren  Sm  und 
GI2,  in  Watte  gebettet,  in  einem  verschlossenen  Glas- 
kasten im  Wagezimmer  aufbewahrt.  Nach  Ablauf  der 
150  Tage  wurde  das  Gasrohr  geöffnet,  der  Inhalt  war 
völlig  intakt,  nicht  einmal  die  Holzwolle  war  feucht  ge- 
worden. Die  Blechfutterale  wurden  aufgeschnitten,  die 
äusseren,  zugeschmolzenen  Glasröhren  gesprengt. 

Das  Zinn  in  Sm  und  Sn-2  zeigte  sich  deutlich  ver- 
ändert. Erheblich  dunkler  von  Farbe,  war  es  in  kleinere 
Aggregate  zerfallen.    (3b  es  völlig  in  die    graue  Modifi- 


1)  Cohen,    E.    Physikalisch-chemische    Studien  am    Zinn.    III. 
Zeitschrift  f.  physikal.  Chemie  Bd.  35.     1900.     S.  592. 

2)  Vergl.  weiter  oben  und  auch  Cohen  an  der  eben  angeführten 
Stelle,  Seite  594. 


—     461     — 

kation  übergegangen  war,  konnte  nicht  bestimmt  werden, 
denn  leider  war  es  versäumt  worden,  eine  für  diesen 
Zweck  zu  verwendende  Probe  besonders  mit  einzu- 
schliessen. 

Nun  wurden  Sm,  S112,  Sna,  wie  Gli  und  GI2  ge- 
wogen. Dabei  wurde  das  Wagezimmer  beständig  kalt, 
auf  etwa  -f-  (3°  C,  gehalten,  die  Gefässe  befanden  sich 
stets  im  Wagezimmer  und  stundenlang  vorher  im  Wage- 
kasten selbst  in  den  Platinkörben,  in  denen  sie  gewogen 
wurden,  aufgehängt. 

Nach  der  Ausführung  aller  Wägungen  wurden 
sämtliche  Röhren  6  Tage  hindurch  einer  Temperatur 
von  etwa  50  bis  60°  C,  —  bei  40°  C.  schon  geht  die 
Rückbildung  des  grauen  in  weisses  Zinn  so  schnell  vor 
sich,  dass  man  sie  mit  dem  Dilatometer  nicht  mehr 
verfolgen  kann, *)  —  ausgesetzt  und  dann  nach  l^-tägigem 
Stehen  im  kalten  Zimmer  von  neuem  gewogen,  eine 
Operation,  die  dann  noch  einmal  im  warmen  Zimmer 
— ■  um  unter  den  gleichen  Bedingungen  wie  im  Sommer 
zu  wiegen  —  wiederholt  wurde.  Bei  allen  Wägungen 
wurden  Temperatur  und  Luftdruck,  um  die  für  die  Re- 
duktion auf  das  Vakuum  nötigen  Faktoren  zu  haben, 
aufgezeichnet. 

In  welcher  Weise  die  Wägungen  selbst  ausgeführt 
werden,  ist  schon  früher  -)  eingehend  beschrieben  wor- 
den. Die  weiter  unten  mitgeteilten  Zahlen  geben  stets 
das  Mittel  aus  HX3,  also  in  Summa  aus  9  Einzel- 
wägungen,  bei  deren  jeder  der  Nullpunkt  vorher  und 
nachher  kontrolliert  wurde.  Dadurch,  dass  die  Apparate 
stets  hängend  gewogen  wurden,  und  die  Gewichte  stets 
möglichst  gleichmässig  aufgesetzt  waren,  wurde  ungleiche 


T)  Cohen,   Physikalisch-chemische  Studien    am   Zinn.   II.  Zeit- 
schrift i'.  physikal.  Chemie  Bd.  33.   1900.  S.  61. 

-)   Vergl.   Kahlbaum,  Rollt  und  Siedler  a.  a.  O.  S.  20:5. 


—     462 

Belastung  der  Wagschalén,  soweit  tunlieb,  vermieden. 
Erschütterungen  der  Wage  war  dadurch  vorgebeugt, 
dass  dieselbe  auf  einem  an  der  Decke  befestigten  Ge- 
rüst, dessen  Schwingungen  durch  gegeneinander  reibende, 
verstellbare  Bürsten  gedämpft  wurden,  aufgestellt  war. 
Solche  waren  übrigens  verhältnismässig,  —  verhältnis- 
mässig für  ein  Laboratorium,  das  im  2.  und  3.  Stock- 
werk eines  alten  Hauses,  in  dessen  untern  Teilen  eine, 
in  erfreulicher  Blüte  befindliche  Bäckerei  betrieben  wird, 
—    wenig  bemerkbar. 

Nicht  vermieden  konnten  werden  :  die  aus  ungleicher 
Temperatur  der  Wagebalken  und  der  Veränderlichkeit 
der  am  Glase  niedergeschlagenen  Wasserscbicht  resul- 
tierenden Fehler.  Über  die  Grösse  des  ersteren  bin  ich, 
da  ich  die  eventuelle  Differenz  der  Temperatur  nicht 
kenne,  im  unklaren,  über  die  zweite  gibt  eine  Tabelle 
von  lhmori1)  einigen  Aufschluss.  Nach  seinen  Angaben 
schwankt  bei  mittlerer  Zimmertemperatur  (15,3-19,1°  C.) 
das  Gewicht  des  auf  einen  cm2,  vorher  mit  siedendem 
Wasser  behandelten  Jenenser  Glases,  niedergeschlagenen 
Wassermantels  zwischen  0,000(54  und  0,00035  mg  und 
nimmt  für  nicht  so  behandeltes  Glas  einen  höcbsten 
Wert  von  0,004  mg  an.  Es  würde  demnach  das  Ge- 
wicht für  unsere  Apparate,  die  mit  siedendem  Wasser 
behandelt  worden  waren,  mit  einer  Oberfläche  von  noch 
nicht  40  cm- ,  kaum  in  Betracht  zu  ziehen  sein. 

Unter  den  Verhältnissen,  unter  denen  ich  arbeite, 
war  ich  nicht  in  der  Lage,  Wage  und  Gewichte, 
wie  das  für  solche  Arbeiten  durcbaus  wünschenswert 
gewesen  wäre,  für  diesen  einen  Zweck  allein  zu  reser- 
vieren. Es  wurde  während  der  fünf  Monate  vom  Juli  bis 
Dezember  eine  Fülle   anderer  —  allerdings  ausschliess- 


!)  lhmori,  AYiedemaun  Annal.  Bd.  31.  1887.  S.  1014. 


463 

lieh  Präzisions  Wägungen  damit  ausgeführt.  Um  uun 
Wage  und  Gewichte  überhaupt  zu  kontrollieren,  wurden 
vorher  und  nachher  die  Gewichte  möglichst  unveränder- 
licher Körper  bestimmt. 

Dazu  wurden  gewählt:  1.  ein  polierter  Quarzcylin- 
der  von  5,5  mm  Durchmesser  und  46  mm  Länge,  2.  ein 
ebensolcher  Cylinder  aus  Jenenser  Bleiglas,  3.  und  4. 
zwei  mit  Gold  gelötete  Körbe  aus  Platindraht,  in  denen 
sonst  die  Glasröhren  gewogen  wurden.  Die  Wägungen 
ergaben  : 


Quarz 

Bleiglas 

Juli 

2,930  245 

4,771  639 

Dezember 

2,930  190 

4,771  635 

-  0,000  055  -) 

-  0,000  004 

Pt  Korbi 

Pt  Korb» 

Juli 

4,175  831 

3,949  359 

Dezember 

4,175  825 
-  0,000  006 

3,! »49  373 

+  0,000  014 

Diese  Zahlen  beweisen,  dass  sich  die  Wage  und 
die  Gewichte,  soweit  solche  bei  diesen  Wägungen  zur 
Verwendung  kamen,  nicht  verändert  hatten.  Diese, 
sowie  alle  übrigen  hier  in  Betracht  kommenden  Wä- 
gungen wurden  nach  meiner  Anweisung  mit  ausser- 
ordentlicher »Sorgfalt  durch  meinen  Assistenten,  Herrn 
Dr.  phil.  Th.  Umbach,  zu  meiner  vollsten  Zufriedenheit 
ausgeführt. 

Mögen  nun  die  Resultate  folgen.  Es  gibt  A  die 
Wägungen  im  Juli   vor  der  Abkühlung  (weisses  Zinn); 


-)  Da  auch  das  Quarzstäbehen  nicht  ruhig  liegen  gelassen 
werden  konnte,  so  ist  wohl  möglich,  dass  sich  diese  eine  Abnahme 
aus  einem  kleinen  Riss,  oder  aus  dem  Abspringen  eines  mikrosko- 
pischen Splitters  erklärt. 


—     464 

B,  C  und  D  diejenigen  im  Dezember  nach  der  Umwand- 
lung; und  zwar  B  nach  der  1.  Umwandlung  im  kalten 
Zimmer  gewogen  (graues  Zinn);  C  nach  der  Rückbil- 
dung  im  kalten  Zimmer  gewogen  (weisses  Zinn);  D  nach 
der  Rückbildung  im  warmen  Zimmer  gewogen  (weisses 
Zinn)  an.  Abgekühlt  wurden  Sni,  Sn»  und  Gh,  unge- 
ändert  blieben  Sm  und  GI2. 

Natürlich  sind  sämtliche  Wägungen  reduziert  und 
auf  das  Vakuum  bezogen. 

Sni  Sn2  Sns 

A.  61,555  13   A     61,349  71   A     61,385  77   A 

+  0,000  65        -  0,000  43        -  0,000  44 

B.  61,555  78         61,349  28         61,385  33 

+  0,000  39        -  0,000  06        -  0,000  13 

C.  61,556  17         61,349  22         61,385  20 

-  0,000  34        -  (),0()0  11        -  0,000  62 

D.  61,555  83         61,349  11         61,384  58 

Gh  Gl2 

A.  43,773  53    A    41,185  43    A 

+  0,000  45        -  0,000  06 

B.  43,773  98         41,185  37 

-  0,000  18        -  0,000  26 

C.  43,773  80  41,185  11 

-  0,000  04  +  0,000  01 
I).   43,773  76                      41,185  12 

Nehmen  wir  an,  und  das  sollte  nach  den  Studien 
von  Schautn  und  von  Cohen  gestattet  sein,  dass  die  Um- 
wandlung nach  beiden  Richtungen  ausreichend  stattge- 
funden hat,  so  ergeben  die  vorstehenden  Zahlen  nur 
das  eine  Resultat,  nämlich  :  dass,  wenn  die  Annahme  des 
Schweräthers  überhaupt  gerechtfertigt  ist,  die  bei  der 
studierten  Umwandlung    des  Zinnes    etwa   in  Mitleiden- 


—     465 

schaft  gezogene  Masse  desselben  ausserhalb  der  von 
uns  hier  zu  erreichenden  Genauigkeitsgrenzen  liegt , 
d.  h.  also  die  von  Hrn.  Landolt  gegebene  Limite  0,05  mg 
für  100  g  Reaktionsmasse  auch  hier  nicht  wesentlich 
überstiegen  worden  sein  dürfte. 

Es  ist  demnach  unnötig,  die  Resultate  selbst  zu 
diskutieren,  nur  darauf  sei  noch  hingewiesen,  dass  das 
ungekühlte  Glas  in  der  Tat  bei  weitem  die  geringsten 
Gewichtsänderungen  zeigt,  und  weiter,  dass  auch  bei 
diesen  Bestimmungen  die  Gewichtsabnahmen  mit  11  von 
15  Fällen  ausserordentlich  in  der  Überzahl  sind. 

Trotz  dieses  Misserfolges,  bleibt  das  oben  gesagte 
von  der  Bedeutung  der  Umwandlung  des  Zinnes  für  die 
Lösung  der  aufgeworfenen  Frage  voll  zu  Recht  bestehen, 
und  ich  freue  mich,  mitteilen  zu  können,  dass  ich  diese 
^Studien  am  Zinn"  gemeinschaftlich  mit  meinem  ver- 
ehrten Freunde,  Dr.  P.  Chapjjuis,  Ehrenmitglied  des 
Bureau  international  des  Poids  et  Mesures  in  Sèvres, 
unter  den  günstigen  Bedingungen,  seines  für  solche 
Untersuchungen  auf  das  beste  eingerichteten,  hiesigen 
Laboratoriums,  fortzusetzen  begonnen  habe.  - 

Doch  kehren  wir  nun  zu  Hrn.  Heydweillers  Ent- 
deckung zurück. 

Zunächst  haben  wir  gesehen,  dass  Herr  Heydireiller 
auf  diesem  Gebiete  kein  Neuling  ist,  sondern  schon  früher 
in  gleicher  Richtung  erfolgreich  tätig  war;  dann  aber, 
dass.  wenn  auch  noch  nicht  alle  für  solche  Unter- 
suchungen von  mir  aufgestellten  Forderungen  bei  seinen 
letzten  Studien  erfüllt  sind,  doch  die  Verhältnisse  wesent- 
lich günstiger  liegen,  als  bei  allen  früheren   Versuchen. 

Die  Temperatur  bleibt  die  gewöhnliche,  das  Gewicht 
der  Substanz  ist  offenbar  ein  integrierender  Teil  des 
Gesamtgewichtes,  und  das  gleiche  gilt  fast  von  der  Ge-* 
wichtsabnahme,  die  sich  mit   0,5  mg  bei   5  g  Substanz- 

3o 


—     466     — 

gewicht  gegenüber  den  sonst  .beobachteten  Abnahmen 
von  0,05  mg  auf  100  g  Reaktionsmasse,  verhält  wie 
200  :  1  ;  wodurch  auch  die  Tatsache  selbst  um  das 
200fache  an  Gewicht  gewinnt.  Dagegen  ist  der  Prozess 
der  Emanation  nicht  umkehrbar,  und,  was  nicht  ausser 
acht  zu  lassen,  das  Glas  des  Gefässes  erleidet  eine 
Änderung.  Andererseits  handelt  es  sich  aber  offenbar 
auch  nicht  um  Schweräther,  der  bei  einem  chemischen 
oder  physikalischen  Umsatz  frei  werden  könnte  ;  es 
handelt  sich,  soweit  wir  bis  jetzt  zu  urteilen  vermögen, 
überhaupt  nicht  um  die  Folge  einer  chemischen  oder 
physikalischen  Umlagerung,  sondern  um  den  mehr  oder 
weniger  dauernden  Zustand  von  Substanzen,  welche  die 
Eigentümlichkeit  haben,  Strahlen  auszusenden,  die  alle 
möglichen  Hindernisse  in  ähnlicher,  ich  sage  absichtlich 
nicht  in  gleicher,  Weise  wie  der  Äther  durchdringen.  - 

Wir  haben  überhaupt  gelernt,  dass  auch  wägbare 
Substanz  in  ausgedehnterem  Maasse  in  geschlossene 
Räume  einzudringen  vermag,  als  man  früher  voraussetzte. 
Die  Röntgenröhren  werden  durch  mit  Gold  verlötete, 
keineswegs  immer  sehr  dünnwandige  x)  Palladiumröhren 
hindurch  mittelst  der  Villard' sehen  Osmo-Regulierung 
regeneriert,  und  Hr.  Dr.  Chctppuis  hat  vor  nicht  langer 
Zeit  den  bisher  nicht  veröffentlichten  Versuch  von  17/- 
lard  wiederholt  und  bestätigt  gefunden,  bei  welchem 
AVasserstoff  in  zugeschmolzene  Quarzröhrchen  eindringt. 

Für  unsern  besonderen  Fall  haben  wir  also  fest- 
zuhalten, dass  gewisse  radioaktive  Substanzen  Strahlen 
aussenden,  die  eine  Menge  Stoffe  durchdringen,  welche 
für  leuchtende  Strahlen  undurchlässig  zu  sein  scheinen. 
Das  gleiche  gilt,  wie  bekannt,  auch  für  die  Kathoden- 
strahlen. 


!)  I)as   gilt    besonders    für    die    Röntgenröhren    älterer    Kon- 
struktion. 


407     — 

Wohl  aus  den  so  verbreiteten  Röntgenbildern  ab- 
geleitet, hat  sich  aber  die  Anschauung  festgesetzt,  dass, 
zum  mindesten  die  grosse  Mehrzahl,  der  Metalle  für 
Kathodenstrahlen  undurchlässig  seien,  und  dass  darin 
ein  spezifischer  Unterschied  zwischen  diesen  und  den 
Radiumstrahlen  bestehe. 

Das  ist,  wie  man  weiss,  nicht  nur  im  besondem, 
sondern  auch  im  allgemeinen  falsch. 

Die  Durchlässigkeit  der  elementaren  Stoffe,  wie  der 
Verbindungen,  für  Röntgenstrahlen  hängt,  wie  das  neben 
mehreren  andern  Forschern  besonders  eingehend  von  L. 
Benoist1)  für  elektrische  Energie  und  wie  es  von  mir2) 
für  die  chemisch  wirksamen  Strahlen  nachgewiesen  wurde, 
allein  von  dem  Atomgewicht  ab. 

Dass  es  auch  im  besondern  falsch  ist,  zeigen  die  bei- 
stehenden Figuren,  Photogramme  durchleuchteter  Münzen, 
von  denen  Fig.  1  auf  Tafel  II  mit  Radiumstrahlen  bei  fünf- 
tägiger Belichtungszeit,  Fig.  2  auf  Tafel  II  mit  Kathoden- 
strahlen  in  90  Sekunden  dauernder  Exposition,  durch- 
leuchtet wurden. 

Um  das  Bild  nicht  zu  stören,  sind  die  Münzen 
natürlich  auf  der  Schriftseite  eben  geschliffen.  Ich  will 
an  dieser  Stelle  doch,  —  um  mir  die  Priorität  zu  wahren, 
—  ausdrücklich  bemerken,  dass  solche  Photogramme 
durchleuchteter  Münzen  zuerst  von  mir  überhaupt,  und 
zwar  am  2.  Juli  1902,  aufgenommen  wurden,  dann  vielfach 
vorgezeigt, 3)  hier  an  dieser  Stelle  aber  zum  ersten 
Male  durch  den  Druck  veröffentlicht  werden. 


j)  Benoist,  L.  Lois  de  transparence  de  la  matière  pour  les 
rayons  X.     Bull,  de  la  Soc.  franc,  de  Physique  1901.  p.  204. 

2)  Kahlbaum,  Nouvelles  observations  sur  les  rayons  de  Rœnt- 
gen. Arcli.  de  Genève,  Sér.  4.  T.  1-4.  1902.  p.  374. 

3)  Z.  B.  gelegentlich  der  Naturforscherversammlung  in  Genf 
am  9.  September  und  in  der  Sitzung  der  Basier  Naturforschenden 
Gesellschaft  vom  5.  Nov.  1902.  Vergl.  dazu  auch  das  Ref.  in  der 
Chemiker-Zeitung  Nr.  93,  1902.  S.  1111. 


468 


Man  weiss,  class  die  Röntgenbilder  nur  Schattenbilder 
sind.  Es  machen  nun  die  Bilder  der  durchleuchteten 
Münzen,  die  den  Stempel  mit  allen  Einzelheiten  so  deut- 
lich wiedergeben,  allerdings  nicht  den  Eindruck,  als 
wenn  wir  es  hier  auch  mit  Schattenbildern  zu  tun  hätten  ; 
und  doch  ist  wenigstens  Fig.  2  nichts  anderes  als  ein 
solches  ;  es  giebt  nur  die  Prägung  genau  so  wieder,  wie 
etwa  ein  von  der  Sonne  durchleuchtetes,  geschliffenes 
Glas,  in  seinem  Schatten,  neben  der  eigenen  Gestalt 
auch  die  der  eingeschliffenen  Figuren,  Buchstaben  und 
Ornamente  wiedermalt. 

Wie  man  sieht,  verhalten  sich  also  in  dieser  Be- 
ziehung Röntgen-  und  Radiumstrahlen  völlig  überein- 
stimmend und  auch  dem  Äther  entsprechend,  aber  das 
ist  nur  dann  der  Fall,  wenn  beide  Male  die  empfindliche 
Schicht  abgedeckt  ist.  Verwendet  man  nackte  Platten,  ^ 
so  bleibt  die  Radiographie  auch  bei  sehr  langer  —  bis 
SOtägiger  —  Expositionszeit  unverändert,  das  Röntgen- 
bild dagegen  schwindet  in  dem  Falle  vom  Rand  aus  und 
wird  immer  kleiner.  Als  Beleg  für  das  Gesagte,  mögen 
die  Fig.  H  auf  Tafel  II  und  4—5  auf  Tafel  III  dienen, 
welche  die  Berthelot  Plakette,  das  Meisterwerk  Chaplains, 
wiederzugeben  sich  bestreben  ;  dieselbe  lag  in  allen  Fällen 
mit  der  abgeschliffenen  Seite  auf.  —  Es  ist  Fig.  3  eine 
Radiographie,  dadurch  erhalten,  dass  die  Plakette  durch 
ein  Radiumkarbonat  von  ziemlicher  Aktivität  15  Tage  hin- 
durch, auf  nackter  photographischer  Platte  liegend,  durch- 
leuchtet wurde.  Die  Radiographie  istnur  schwach,  zeigt  aber 
deutlich  und  scharf  die  Grenzen  der  Plakette  ;  dasselbe 
gilt  von  Fig.  4  auf  Tafel  III,  die  der  Belichtung  einer  Volt- 
Ohm-Röntgen-Röhre,  auf  bedeckter  Platte,  75  Minuten, 
in  172  Einzelaufnahmen,  — -  100  zu  30  Sek.  und  66  zu 


J)  Vergl.  auch  Archives  de  Genève  Sér.  4.  T.  14.  1902.  p.  375 
und  375  las. 


46H 


20  Sek.,  -  -  ausgesetzt  wurde.  Fig.  5  auf  Tafel  III,  ein 
Röntgenbild;  wurde  auf  nackter  Platte  erbalten.  Die 
Plakette  wurde  dem  Röntgenlicht  einer  Gundelacli 'sehen 
Starkstromröhre  längere  Zeit,  etwa  6  Minuten,  —  ich 
habe  damals,  die  Aufnahme  ist  bereits  im  Juli  des 
vorigen  Jahres  gemacht  worden,  die  gesamte  Zeit  noch 
nicht  genau  notiert,  -  ausgesetzt.  Hier  ist  von  einer 
Grenze  nichts  mehr  zu  sehen,  der  Rand  der  Plakette 
mit  einem  Teil  des  Kopfes,  und  zwar  von  der  Grenze 
zum  Centrum  gehend,  ist  in  merkwürdiger  Weise  ge- 
schwunden. Das  gleiche  zeigen  natürlich  auch  die 
Münzen,  ja  auch  die  oben  gegebenen  Fig.  1 — 2  auf 
Tafel  II  lassen  trotz  abgedeckter  Platte  erkennen,  dass  die 
Schärfe  des  Bildes  nach  den  Rändern  zu  abnimmt  ; 
besonders  deutlich  tritt  das  an  den  Buchstaben  der 
Umschrift  zu  Tage;  auch  der  Stabrand  an  Fig.  2  ist 
nicht  zu  erkennen. x) 

In  diesem  Durchdringungsvermögen  stehen  also, 
wenn  auch  unter  sich  und  graduell  verschieden,  Radium- 
wie  Xstrahlen  dem  Äther  nahe,  aber  eine  besondere  Form, 
ein  besonderer  Zustand  des  Äthers  brauchen  sie  darum 
doch  nicht  zu  sein,  jedenfalls  sind  sie  nicht  ohne 
weiteres  als  mit  dem  Äther  als  solchem  identisch  anzu- 
sehen, denn  sie  erregen  sichtbare  Strahlen,  sie  haben 
physiologische  Wirkungen,  d.  h.  sie  wirken  chemisch 
auf  die  Epidermis  und  andere  Gewebe  etc.  ein,  wobei 
sie  teils  nicht  unbedenkliche  Entzündungen,  teils  aber 
auch  Heilungsprozesse  hervorrufen  ;  dass  sie  dabei  auch 
photographisch  wirksam  sind,  haben  wir  gesehen. 

Ganz  ähnliche  Wirkungen  bringen,  wie  wir  wissen, 
die    sichtbaren    Atherschwingungen,    das  Licht,    hervor, 


l\  Es  ist  hier  nicht  der  Ort  auf  diese  Untersuchungen,  die 
bisher  nur  zum  kleinen  Teil:  Kahlbaum,  „Nouvelles  recherches  sur 
les  rayons  de  Rœntgen"  veröffentlicht  sind,  einzutreten;  es  wird 
lias  an  anderer  Stelle  im  Zusammenhange  geschehen. 


470     — 

zum    teil    schwächere,    zum    teil     stärkere  ;     es    handelt 
sich  also  hier  doch  nur  um  graduelle  Unterschiede. 

Sonnenlicht  verbrennt,  entzündet  wohl  auch  die  Haut, 
wirkt  auch  besonders  auf  die  Pigmentzellen  -  -  wovon 
bei  den  andern  Strahlen  bisher  nichts  bekannt  ist  - 
ein,  aber  nur  da,  wo  das  Licht  auf  Schleimhäute  direkt 
trifft,  z.  B.  im  Auge,  da  wirkt  es  ähnlich  heftig  entzündend 
wie  Röntgen-  oder  gar  Radiumstrahlen;  ebenso  sind 
Sonnenlichtbäder  neuerlich  in  den  Dienst  der  Therapeutik 
gestellt.  —  Ist  hier  die  Wirkung  der  Sonnenstrahlen  eine 
schwächere,  so  ist  sie  beim  photographisehen  Prozess, 
wiederum  nach  gewissen  Richtungen,  ohne  Zweifel  eine 
stärkere. 

Im  gewöhnlichen  Zustand  sind,  wie  bekannt,  Metalle 
nur  in  dünnsten  Schichten  (Blattgold,  Silberfolie)  für 
Sonnenstrahlen,  und  auch  dann  nur  für  solche  von  be- 
stimmter Wellenlänge,  durchlässig;  dass  das  Verhalten 
der  X-  und  Radiumstrahlen  ein  durchaus  anderes  ist, 
wurde  gezeigt.  Vergleicht  man  nun  aber  gleich  hohe 
Schichten  wasserhell  durchsichtiger  Stoffe  von  verschie- 
dener Zusammensetzung,  z.  B.  reine  Kieselsäure  (Quarz) 
und  Kaliumbleisilikat  (Flintglas),  so  ist,  trotz  des  Metall- 
gehaltes des  Flintglases,  erst  bei  beträchtlicher  Dicke 
ein  deutlicher  Unterschied  in  der  Durchlässigkeit  für 
das  Sonnenlicht  wahrnehmbar,  und  auch  das  nur  in  dem 
Sinne,  dass  das  Flintglas  grünlich  gefärbt  erscheint 
Kann  man  doch  z.  B.  durch  eine  175  mm  dicke  Schicht 
Flintglas  noch  ohne  Schwierigkeit  lesen.  Ganz  anders 
ist  das  Verhalten  der  die  Metalle  durchdringenden  Rönt- 
gen- und  Radiumstrahlen. 

Die  untenstehende  Figur  6  auf  Tafel  II  gibt  darüber 
in  zuverlässiger  Weise  Aufschluss,  zum  mindesten  über 
die  Durchlässigkeit  für  chemisch  wirksame  Strahlen. 

Die  Platte  ist  in  der  Weise  hergestellt,  dass  der 
untere  Teil  mit  sogenanntem  schwarzem  photographischem 


—     471 

Papier  abgedeckt,  der  obere  Teil  dagegen  nackt  blieb. 
Das  schwarze  Papier  war  an  der  untern  Seite  eines 
1  cm  dicken  und  ebenso  breiten  Bleirahmens,  von  ge- 
nau gleicher  Grösse  wie  die  Platte,  aufgeklebt.  Die  nicht 
zu  belichtenden  Teile  derselben  wurden  mit  gleich  dicken 
Bleiplatten  von  entsprechender  Breite,  die  ihrerseits 
genau  in  den  Bleirahmen  passten,  zugedeckt.  Aufge- 
nommen wurde  ein  polierter  Bleiglascylinder (rechts,  P.)  von 
5,5  mm  Durchmesser,  und  ein  ebensolcher  aus  Quarz 
(links,  Q.)  Von  links  nach  rechts  gezählt  sind  die  Auf- 
nahmen gemacht:  a.  mit  Radiumstrahlen,  b.  mit  Rönt- 
genlampe,  c.  mit  Sonnenlicht. 

a.  Im  Aluminiumkasten  mit  0,01  g  Radiumkarbonat 
von  hoher  Aktivität,  der  Chininfabrik  Braunschweig,  das 
ich  der  gütigen  Zuvorkommenheit  des  Hr.  Dr.  F.  Giese/ 
verdanke;  Expositionszeit  36  Stunden. 

b.  Im  Dunkelzimmer  mit  einer  der  ganz  ausge- 
zeichneten Idealröhren1),  System  Gundelach-Dessauer,  des 
elektrotechnischen  Laboratoriums  in  Aschüffenhurg;  Be- 
lichtungsdauer  100  Sekunden. 

c.  In  einer  photographischen  Camera  mit  gegen  den 
unbewölkten  Himmel  gerichtetem  Objektiv;  Expositions- 
zeit etwa  0,2  Sekunden. 

Der  untere  mit  schwarzem  Papier  abgedeckte  Teil. 
als  solcher  betrachtet,  zeigt  zunächst,  dass  dasselbe  für 
Sonnenstrahlen  (c)  gänzlich  undurchlässig  ist,  und  zwar 
gerade  so  undurchlässig  wie  der  1  cm  dicke  Bleirahmen. 
Auch  bei  sehr  langer  Exposition  habe  ich  keinerlei 
Einwirkung  des  Sonnenlichts  durch  das  schwarze  Papier 
nachweisen  können.    Dagegen  ist  das  Papier  für  Röntgeti- 


1)  Vergl.  Mitteilungen  über  Neuerungen  auf  dein  Gebiete  der 
Röntgenstrahlen.  Herausgegeben  vom  Elektrotechnischen  Labora- 
torium. Spe/.ialfabrik  von  Röntgenapparaten,  System  Dessauer, 
Asehaffenburg.  Mitteilung  Nr.  5.  1902. 


—     472     — 

licht1)  (b)  sehr  wohl  durchlässig,  obgleich  ein  nicht  uner- 
heblicher Teil  der  auffallenden  Strahlen,  wie  ein  Ver- 
gleich des  oberen  und  unteren  Teiles  von  b  deutlich 
lehrt,  zurückgehalten  wird. 2)  Bei  Radium  (a)  lässt  sich 
ein  Unterschied  zwischen  dem  oberen  und  dem  unteren 
Teil  der  Platte  als  solcher  kaum  noch  wahrnehmen, 
wenn  auch  hier,  wie  bei  allen  drei  sonstigen  Aufnahmen 
sich  an  den  auf  freier  Platte  aufgenommenen  Bildern 
der  Stäbchen  mehr  oder  weniger  deutliche  und  starke 
Brennlinien  wahrnehmen  lassen.  Das  schwarze  Papier 
ist  für  diese  Strahlen  wohl  kein  seihendes  Filter  mehr. 

Man  muss  hier  zwischen  zweierlei  Filtern  unter- 
scheiden, zwischen  gewöhnlichen  Filtern  und  seihenden 
Filtern.  Filtrier-Papier,  Filz  u.  s.  w.  ist  für  eine  Reihe  von 
Flüssigkeiten,  für  reines  Wasser,  für  Essig  u.  s.  w.  kein 
seihendes  Filter,  die  ursprüngliche  Flüssigkeit  ist  mit  dem 
Filtrat  identisch,  nur  die  Fortjjflanzungsgeschwindigkeit 
der  durchtretenden  Flüssigkeit  wird  gemindert.  Für 
alkoholisches  Wasser  oder  gar  mit  festen  Körpern  ver- 
mengtes, ist  das  gleiche  Papier  sehr  wohl  ein  seihendes 
Filter,  hier  ist  das  Ursprüngliche  und  das  Filtrat  keines- 
wegs mehr  identisch. 

Ganz  so  verhält  es  sich  mit  dem  schwarzen  Papier 
gegenüber  den  3  geprüften  Strahlenarten.  Für  Sonnen- 
licht ist  es  völlig  undurchlässig,  für  Röntgenlicht  ein 
seihendes,  für  Radiumstrahlen  ein  Filter,  das  nichts 
zurückhält,  sondern  nur  die  Fortpflanzungsgeschwindigkeit 
verringert. 

Vergleicht  man  nun  die  Bilder  der  Stäbchen,  so  ist 
zwischen  den  beiden,  Bleiglas  und  Quarz  untereinander, 

J)  Ich  nenne  Röntgenlicht:  alle  von  einer  Röntgenröhre  aus- 
gehenden Strahlen. 

-)  Wie  weit  hieran  das  grüne  Phosphorescenzlicht  der  Glas- 
oberfläche und  wie  weit  die  Kathodenstrahlen  beteiligt  sind,  wiid 
an  anderer  Stelle  besprochen  weiden. 


—    47:; 

auf  nackter  Platte  dem  Sonnenlicht  ausgesetzt,  wie  es 
c  zeigt,  einerseits,  und  andererseits  auf  bedeckter  Platte 
in  a,  ebenfalls  Bleiglas  mit  Quarz  verglichen,  ein  wesent- 
licher Unterschied  kaum  wahrnehmbar,  wenn  auch  die 
Bilder  der  Stäbchen  überhaupt  in  a  und  c,  vollsten 
Gegensatz,  da  hell  wo  die  andern  dunkel  sind,    zeigen. 

Auch  mit  Röntgenlicht  auf  nackter  Platte  aufge- 
nommen, ist  ein  grosser  Unterschied  zwischen  den  Bildern 
des  Bleiglasstabes  und  des  Quarzstabes  nicht  zu  be- 
merken. 

Das  besagt  also  :  Im  allgemeinen  macht  sich  der 
Metallgehalt  des  Bleiglasstabes  in  der  Durchlässigkeit 
für  uirfiltriertes  Sonnen-  und  Röntgenlicht,  also  auf  un- 
bedeckter Platte,  wie  für  Radiuinstrahlen  auf  bedeckter 
Platte,  kaum  geltend.  Es  wird  also  hier  das  Sonnenlicht 
in  seiner  Wirkung  durch  das  Metall  nicht  beeinflusst  ! 

Ganz  anders  liegen  die  Verhältnisse  bei  den  ril- 
trierten  1)  Röntgen-  und  den  direkt  durch  die  Stäbchen 
auf  die  empfindliche  Schicht  fallenden  Radiuinstrahlen. 
Hier,  in  b  unten,  in  a  oben,  ist  der  Bleiglasstab  wesent- 
lich weniger  durchlässig.  Das  Schattenbild  desselben  in 
b  ist  erheblich  dunkler,  hat  also  dem  Durchgang  der 
Kathodenstrahlen,  im  Gegensatz  zum  Sonnenlicht,  ein 
grösseres  Hindernis  in  den  Weg  gestellt  als  der  Quarz- 
stab. Das  gleiche  gilt  für  das  Radium  in  dem  obern 
Teil  von  a,  dort  haben  die  auffallenden  Radiumstrahlen 
den  Quarzstab  so  völlig  durchdrungen,  dass  die  em- 
pfindliche Platte  kaum  noch  ein  Bild  davon  zurück- 
gehalten hat. 

Im  ganzen  gewinnt  man  den  überraschenden 
Eindruck,  dass  die  Sonnenstrahlen  am  tuenifjsleii,  die 
Radiumstrahlen    am    meisten  durch  den  Metallgehalt  in 

')  Die  Bilder  fallen  ganz  gleich  aus,  wenn  man  das  schwarze 
Papier  zwischen   Lampe  und  Objekt  bringt. 


474 


ihrer  Durchdringungsfähigkeit  beeinflusst  werden.  Ich 
muss  jedoch  darauf  hinweisen,  dass  es  mir  nicht  gelungen 
ist,  die  Expositionszeiten  so  genau  abzugleichen,  dass 
die  chemische  Wirkung  bei  allen  3  Aufnahmen  völlig  über- 
einstimmte ;  ein  Betrachten  der  freien  Teile  der  nackten 
Platte  beweist  das  hinlänglich.  Allerdings  ist  diese  Auf- 
gäbe  bei  dieser  ausserordentlich  verschiedenen  Grösse 
der  beiden  Energiequellen,  der  Sonne  einerseits  und 
0,01  g  Radiumkarbonat  andererseits,  auch  nicht  ganz 
leicht  zu  lösen. 

Deutlich  zeigt  uns  das  Bild  noch,  dass  wir  es  allein 
bei  dem  filtrierten  Röntgenlicht  mit  Schattenbildern  zu 
tun  haben  ;  —  die  Bilder  in  b  oben  sind,  im  Gegensatz  zu 
denen  der  Münzen,  sicher  keine  1),  wenigstens  keine  reinen 
Schattenbilder,  —  was  die  Radiogramme  sind,  wage  ich 
noch  nicht  zu  entscheiden,  —  und  dass  sich  Abstufungen 
in  der  Durchlässigkeit  auch  da  finden,  z.  B.  beim 
Radium,  wo  wir  solche  gar  nicht  vermutet  hätten.  So 
werden  sich  z.  B.  im  Falle  Heydweiller,  Quarzröhrchen 
ganz  besonders  empfehlen.  Als  Drittes  kommt  noch 
hinzu,  was  ich  schon  andeutete,  dass,  im  Gegensatz  zu 
dem  Röntgenlicht,  die  Emanation  des  Radiums  durch  das 
schwarze  Papier  nicht  zerlegt,  sondern  nur  in  ihrer 
Propagation  behindert  wird,  —  es  wird,  wie  ich  sagte, 
nicht  geseihet  — ,  wie  das  aus  der  Übereinstimmung  des 
Bildes  von  Bleiglas  oben  und  unten  und  mit  dem  des 
unteren  Teiles  von  Quarz,  wie  der  gleichmässigen  Ein- 
wirkung auf  die  Platte  überhaupt,  hervorgeht. 


r)  Ich  kann  auch  auf  dieses  interessante  Kapitel  hier  nicht 
eingehen  und  verweise  nur  auf  das  in  Genf  gesagte:  „En  résumé, 
des  corps  très  opaques  exposés  à  l'action  des  rayons  Rœntgen 
sur  une  plaque  nue  ne  donnent  pas  les  figures  d'omhre  plates 
bien  connues,  mais  des  images  propres,  personnelles,  reproduisant 
leur  relief."  (Arch.  Sér.  4,  T.  14.  1902.  S.  375).  Ich  habe  damals 
zwischen  Eikonosramihen  und  Eidoloorammen  unterschieden. 


47Ö 


Diese  Differenz  wird  erklärlich  durch  die  Annahme. 
dass  wir  es  beim  Röntgenlicht  mit  einer  zusammenge- 
setzten Erscheinung  zu  tun  haben.  — -  und  ich  kann  das 
mittelst  der  empfindlichen  Platte  in  der  Tat  belegen,  nur 
würde  das  nicht  mehr  „eine  Einleitung"  sein,  —  hei 
den  Radiumstrahlen  und  auch  bei  dem  Sonnenlicht 
dagegen    wohl  mit  einfachen  Erscheinungen. 

Fassen  wir  alles  zusammen,  so  glaube  ich  nach- 
gewiesen zu  haben,  und  das  war  der  besondere  Zweck 
dieser  Betrachtung,  dass  es  sich  bei  allen  diesen  Vor- 
gängen nirgends  um  spezifische,  sondern  immer  nur  um 
graduelle  Unterschiede  handelt,  und  zwar  Unterschiede 
bei  Vorgängen,  die  wir  sonst  als  energetische  zu  be- 
trachten gewohnt  sind. 

Der  Zusammenhang  mit  der  Besprechung  von  Heyd- 
weillers  Entdeckung  liegt  ja  wohl  auf  der  Hand. 

Aber  noch  andre  Erfahrungen  an  Radiumpräparaten 
sind  aus  demselben  Grunde  hier  zu  erwähnen. 

Es  ist  eine  jetzt  allgemein  bekannte,  von  Giesel 
entdeckte  und  auch  von  mir  auf  photographischem  Wege 
festgelegte  Tatsache,  dass  frisch  dargestellte  Radium- 
salze zunächst  erheblich  an  Aktivität  wachsen.  Zur  Er- 
klärung dieses  Phänomens  wird  angenommen,  dass  die 
Aktivität  der  frisch  dargestellten  Substanz  durch  Selbst- 
induktion zunimmt.  Jeder,  der  das  Verhalten  radio- 
aktiver Substanzen  kennt,  weiss  ja,  welchen  Vorgang 
man  damit  bezeichnet;  ob  aber  damit  immer  auch  eine 
wirkliche  Vorstellung,  ein  Bild  des  Vorganges,  verbunden 
wird,  ist  zweifelhaft.  Dagegen  erscheint  sicher,  dass  bei 
frisch  bereiteten  Präparaten  die  Gewichtsabnahme  nicht 
die  gleiche  Höhe  wird  haben  können,  wie  bei  solchen, 
welche  die  höchste  Aktivität  bereits  erreicht  haben.  Da 
das  Wachstum  der  Aktivität  sich  über  einen  längeren 
Zeitraum  erstreckt,    —    bei    einem    von    mir  benutzten 


—     470     — 

Präparat  währte  das  Zunehmen  der  radioaktiven  Kraft, 
nachdem  ich  es  erhalten  hatte,  noch  etwa  8  Tage,  — 
so  müsste  dasselbe  wohl  auch  mit  der  Wage  nach- 
gewiesen werden  können,  und  das  erscheint  mir  für  die 
Bestätigung  von  Heydweitlers  Entdeckung,  da  Umkehrung 
nicht  möglich,  nicht  unwichtig. 

Wie  man  weiss,  färbt  sich  das  Glas  der  Röntgen- 
lampen  bei  längerem  Gebrauch  etwa  jodviolett,  das 
gleiche  geschieht  mit  den  Glasgefässen,  in  denen  Radium- 
präparate aufbewahrt  werden.  Während  aber  bei  den 
X strahlen  die  Färbung  hauptsächlich  an  der  Ober- 
fläche haftet,  durchdringt  die,  infolge  der  Radiumstrahlen 
eintretende,  das  Glas  vollständig.  Es  ist  also,  bei  den 
Beobachtungen  die  uns  hier  beschäftigen,  auch  die  Mög- 
lichkeit eines  Gewichtsverlustes  infolge  etwaiger  Zer- 
setzung des  Glases  in  Betracht  zu  ziehen. 

Weiter  wäre,  wenn  eine  Zersetzung  nicht  stattfindet, 
mit  einer  Durchwandrung,  nach  der  Art  wie  man  elek- 
trolytisch Natrium  durch  Glas  hindurch  wandern  lassen 
kann,  zu  rechnen.  Auch  ist  andererseits  wohl  denkbar, 
dass  durch  Intensiverwerden  der  Färbung  die  Durch- 
lässigkeit des  Glases,  —  ich  verweise  auf  das  oben  an  Blei- 
glas und  Quarz  nachgewiesene,  —  und  damit  der  Gewichts- 
verlust, abnimmt,  ohne  dass  darum  die  radioaktive  Kraft 
der  Substanz  selbst  gemindert  wird. 

Das  sind  einige  Einwürfe  und  Bedenken,  von  denen 
wir  aber  wohl  sicher  annehmen  dürfen,  dass  sie  Hrn. 
Heydweiller  selbst  nicht  entgangen  sein  werden  ;  lassen 
wir  sie  also  fallen  ;  nehmen  wir  vielmehr  die  Tatsache 
als  gegeben  hin  und  werfen  die  Frage  zum  Schluss  auf: 
Handelt  es  sich  bei  diesen  Strahlen  um  eine  neue  Form 
der  Energie  oder  um  einen  neuen  Verteilungszustand 
der  Materie,  der,  die  Hindernisse  durchdringend,  mit 
Lichtgeschwindigkeit  den   Raum  durchmisst? 


—     477 

Nach  den  Messungen  von  Prof.  Kaufmann  in  Göt- 
tingen pflanzen  sich  die  Radiumstrahlen  in  der  Tat  mit 
einer  Geschwindigkeit  fort,  die  der  des  Lichtes  fast 
gleichkommt,  und  das  gleiche  gilt  nach  den  neuesten 
Messungen  von  Blondlot  für  die  Xstrahlen,  deren  Fort- 
pflanzungsgeschwindigkeit der  französische  Forscher,  im 
Gegensatz  zu  älteren  Bestimmungen,  ebenfalls  gleich  der 
des  Lichtes  gefunden  hat.  *) 

Diese  Frage  also  :  ob  Energie,  ob  Materie,  scheint 
mir  gelöst  zu  sein  !  — 

Denn  die  Gewichtsabnahme  seines  Radiumpräpa- 
rates —  die  wir  als  von  Heydioeiller  bewiesen  voraus- 
setzen —  sagt  uns,  dass  wir  es  ohne  Zweifel  mit  Ma- 
terie zu  tun  haben,  die  emaniert  wird.  Andererseits 
lehrt  uns  die  Fähigkeit  derselben,  Glas,  wie  bei  Hetjd- 
weillers  Versuchen,  oder  Metall,  wie  z.  B.  bei  unseren 
Photographien,  zu  durchdringen,  dass  sich  diese  Materie 
in  einem  Zustand  feiner  Verteilung,  —  dass  eine  solche 
denkbar,  haben  wir  oben  S.  446  nachgewiesen,  —  wie  der 
Äther,  befinden  muss,  und  stellt  sie  ihre  Fortpflanzungs- 
geschwindigkeit direkt  in  die  gleiche  Linie  mit  denjenigen 
Energieformen,  die  wir  als  Licht  und  Elektrizität  be- 
zeichnen. — 

Und  darin  liegt  für  mich  die  ausserordentliche  Be- 
deutung dieser  Entdeckung,  dass  Schwere  d.h.  materielle 
Eigenschaft  bei  der  Emanation  des  Radiums  nachgewiesen 
wurde,  ein  Vorgang,  dem  sonst  lediglich  energetische 
Eigenschaften  zukommen;  in  dieser  Auffindung  eines 
Bindegliedes  zwischen  Materie  und  Energie,  zwischen 
Kraft  und  Stoff,  scheint  mir  die  aussergewöhnliche  Be- 
deutung zu  liegen. 

J)  La  vitesse  de  propagation  des  rayons  de  Rœntgen  est  la 
même  que  celle  des  ondes  hertziennes  ou  de  la  lumière  se  propa- 
geant dans  l'air.  Blondlot,  Archives  de  Genève  Sér.  4.  T.  14.  1902. 
p.  357  und  auch  Compt.  Rend.  T.  135.  1902.  p.  721  u.  763. 


—     478 

Längst  schon  sind  die  Grenzen  zwischen  Pflanzen- 
und  Tierwelt  verwischt;  zwischen  den  drei  Aggregat- 
zuständen sind  die  trennenden  Schranken  gefallen;  die 
Krystalle,  die  so  sicher  und  wohl  definiert  schienen,  um 
ein  fest  begrenztes  Reich  zu  bilden,  sind  nach  den 
neuesten  Studien,  in  des  Worts  ausdrücklichster  Be- 
deutung, lebendig  geworden  und  spotten  jeder  binden- 
den Definition  ;  die  Lösungen  strafen  das  Gesetz  der 
festen  Proportionen  Lügen. 

Mehr  und  mehr  macht  sich  die  grösste  Errungen- 
schaft des  Endes  des  letzten  Säkulums  geltend,  die  Er- 
kenntnis :  Die  Natur  kennt  keine  Grenzen,  sie  kennt  nur 
Übergänge!  — 

Und  dies  von  neuem  und  in  überraschendster  Weise 
für  Kraft  und  Stoff  bestätigt  zu  haben,  darin  vor  allem 
suche  ich  die  Bedeutung  der  neusten  Entdeckung  auf 
dem  Gebiete  der  Forschungen  über  Gewichtsänderungen 
in  geschlossenen  Gefässen,  der  Entdeckung  Heydwei/lers. 
als  einer  neuen  Bestätigung  des  alten  IÀnné' sehen  Satzes: 

..Natura  non  facit  saltus". 
BASEL,  am  S.Jänner  1.903. 


Epilogus  galeatus. 

Am  Ende  des  Jahres  war  auch  die  Arbeit  abge- 
schlossen: auch  Wiedergabeversuche,  Clichés  waren  ge- 
macht worden.  Uas  erste  Cliché  war  eine  vortrefflich 
gelungene  Röntgographie  eines  Zweimarkstückes;  die 
anderen  gelangen  mehr  oder  weniger  günstig.  Immerhin 
nur  zwei  noch  so,  dass  sie  hätten  verwendet  werden 
können.  Vielfache,  direkte  Besprechung  mit  dem  Besitzer 
der  Anstalt,  persönliche  Aufklärung  über  den  Wert  und 
die  Wichtigkeit  der  Darstellung  erreichten  keine 
Besserung.  Schliesslich  wurde  dem  Verfasser  das 
untenstehende  Radiumbild  der  Zweifrankenmünze  vor- 
gelegt.    Der   Verfasser,    schon    durch    andere    Unregel- 


mässigkeiten aufmerksam  gemacht,  stutzte.  Es  erwies 
sich,  dass  die  22  Sterne  der  schweizerischen  Republik 
in  jenem  Abdruck  zu  31,  wie  das  Bild  noch  zeigt,  an- 
gewachsen waren!  Der  Künstler  hatte  es  vorgezogen,  zu 
zeichnen,  statt  technisch  nachzubilden.  Auf  diese  Weise 
hatte  er  eine  wissenschaftliche  Hilfsaufgabe,  die  man 
ihm  in  guten  Treuen  anvertraut  hatte,  gelöst!  Der  Ver- 
fasser war  erkrankt  und    das   in    dem  Maasse,    dass    er 


—     480     — 

für  das  laufende  Semester  von  allen  Verpflichtungen 
der  Universität  gegenüber  befreit  ist.  Wie  leicht  konnte 
es  ihm  passieren,  in  seinem  nervösen  Zustande,  dass  er 
von  genauer  Betrachtung  des  Clichés  absah  und  das 
vom  Künstler  willkürlich  geschaffene  Bild  als  echte 
Badiographie  aufnehmen  liess  !  —  Nach  Jahren  erst, 
und  wenn  etwa  nur  ein  Stern  statt  der  neun  hinzu- 
gefügt worden  war,  konnte  das  bemerkt  werden  und 
dem  Verfasser  die  Frage  vorgelegt  werden:  „Wie  konnten 
Sie,  wenn  Sie  tatsächlich  radiographierte  Platten  vor- 
zeigten, solche  geben,  die  mehr  Sterne  als  die  Originale 
zeigen?"  Wer  hätte  dem  Verfasser  geglaubt,  wenn  er 
versichert  hätte,  nicht  ich  bin  der  Schuldige,  sondern 
die   Firm  a  M  a  n  i  s  s  a  d  j  i  a  n  ?  — 

Georg  W.  A.  Kahlbaum. 


Fig.  8. 


^ 


Fig.  1. 


I   Fig.  2. 


Fig.  (5. 


Q-       P.  Q.         P.        Q.        P. 


Fig.  4. 


Fis 


Kurze  Notiz  über  Beobachtungen  an  dem  Ciliarkörper 
und  dem  Strahlenbändchen  des  Tierauges. 

Von 
Rad.  Metzner. 


(Mit  einer  Textfigur). 


Die  vorstehenden  Zeilen  sollen  in  kurzen  Zügen 
Beobachtungen  an  Augenpräparaten  von  Hunden  und 
Hamstern  schildern.  Diese  Präparate,  zu  Lehrzwecken 
angefertigt,  lenkten  bei  ihrer  genaueren  Untersuchung 
meine  Aufmerksamkeit  auf  einige  Dinge,  über  die  ich 
vorläufig  in  der  Litteratur  nicht  den  gewünschten  Auf- 
schluss  fand.  Ihre  genauere  Verfolgung  zeigte  mir  bald, 
dass  ein  eindringendes  Studium  nur  unter  Zuhilfnahme 
verschiedener  Techniken  möglich,  und  dass  hierfür  ein 
grosses  Material  nötig  sei.  Seine  ausgiebige  Beschaffung 
scheiterte  z.  T.  an  äusseren  Umständen,  doch  erlaubt 
das  vorliegende  wohl  eine  kurze  Mitteilung.  Ich  hoffe 
in  Bälde  mit  einer  detaillierten  und  illustrierten  Schil- 
derung hervortreten  zu  können. 

Wie  Terrien1)  p.  13  angibt,  findet  man  bei  Tieren 
keinen  ebenen  Teil  der  Pars  ciliar,  ret.,  im  (•»cgeusatz 
zum  Menschen,  wo  er  sich  von  der  scharf,  fast  im 
rechten  Winkel  abgesetzten  Übergangsstelle  der  ein 
Siunesepithel    tragenden    eigentlichen    Netzhaut    in    das 


*)   Terrien.  F.  Recherches  sur  la  structure  de  la  rétine  ciliaire  et 
l'origine  îles  fibres  de  la  zonale  de  Zinn  (Paris,   1898). 

31 


—     482     — 

einfache  Epithel  des  Ciliarteils  über  eine  Zone  von  fast 
2  3  der  Breite  der  ganzen  Pars  ciliaris  retinœ  glatt  nach 
vorn  erstreckt.  Untersucht  man  einen  Meridionalschnitt 
durch  die  vordere  Bulhushälfte  eines  erwachsenen  Hun- 
des, so  findet  man  diese  Angabe  bestätigt  nur  mit  der 
Abweichung,  dass  man  nicht,  wie  Terrien  (1.  c.  p.  38) 
für  das  Pferd  angibt,  den  steilen  Abfall  der  mensch- 
lichen Retina  vermisst,  sondern  auch  eine,  wenn  auch 
nicht  annähernd  rechtwinkliche,  doch  ziemlich  steile 
Dickenabnahme  findet.  Dagegen  fehlt  sie  allerdings  bei 
sehr  jungen  Tieren  (Präpar.  von  Hunden,  die  am  1.  — 4. 
Tage  nach  der  Geburt  getötet  wurden);  hier  verstreicht 
die  Retina  allmählich,  und  nach  vorn  von  ihrem  Ende 
dehnt  sich  eine  fortsatzfreie  Zone  ziemlicher  Breite  aus. 
Diese  meine  Beobachtung  am  Hundeauge  würde  mit 
den  Angaben  Schöll's  ')  übereinstimmen,  der  bei  Kindern 
(ig.  p.  417  1.  c.  1  Taf.  XIV)  angibt,  dass  die  Netzhaut 
sich  ganz  alimählich  abdache,  bis  nur  eine  einfache  Zell- 
schicht übrig  bleibt.  Da  nun  bei  Hündchen  im  oben 
angegebenen  Alter  die  Stäbchen  und  Zapfen  noch  in 
der  Entwicklung  begriffen  sind,  derart,  dass  über  die 
scharf  ausgeprägte  Membr.  limitans  externa  retinae  nur 
kleinste  rundliche  Kölbchen  herausrag«  n.  indess  unter 
ihr  Mitosen  in  grosser  Anzahl  sich  zeigen,  so  ist  es 
nicht  so  leicht  festzustellen,  wo  in  Wirklichkeit  die 
visuelle  Retina  ihr  Ende  erreicht.  Auch  beim  erwach- 
senen Tiere  besteht  hier  insofern  eine  Schwierigkeit,  als 
an  der  Abdachungsstelle,  d.  h.  also  von  der  Stelle  der  so 
plötzlichen  Verdünnung  der  Netzhaut  Sehelemente  von 
ausgeprägt  unterscheidbarer  Form  auf  eine  Strecke  von 
wenigen  /<  nicht   mehr   vorhanden   sind;    doch  -ist    eben 


*)  Schön,W.  Der  Übergangssaum  der  Netzhaut  oder  die  sog. 
Ora  serrata  ( Arch.  f.  Anat.  u.  l'liysiol.  1895  Anatom  Abteilung,  p. 
417  u.  ff) 


48;} 


durch  diese  Abbruchsteile  mit  hinlänglicher  Schärfe  das 
Ende  der  Pars  optica  retinae  markiert;  sie  geht  hier, 
wie  alle  Autoren  berichten,  für  erwachsene  Indi- 
viduen ganz  plötzlich  in  eine  einfache  Epithellage  über. 
Ich  linde  aber  nun,  abgesehen  hiervon,  ein  weiteres 
Kennzeichen  darin,  das  bei  den  von  mir  untersuchten 
Tieren  die  Trennungslinie  der  Pars,  ciliar,  ret.  von  der 
eigentlichen  Retina  mit  aller  Schärfe  festlegt.  Dies  ist 
gegeben  durch  die  Beschaffenheit  des  Pigmentes  im 
Stratum  pigmentosum  retinae.  Soweit  ich  die  Litteratur 
bisher  übersehen  konnte,  geben  die  Autoren  überein- 
stimmend an,  dass  die  Pigmentschicht  der  Pars  optica 
ret.  unverändert  in  diejenige  der  Pars  ciliar,  ret.  über- 
gehe. Wohl  geschieht  der  Thatsache  Erwähnung,  dass 
die  krystalloiden  Elemente  des  retinalen  Pigmentes 
von  verschiedener  Form,  meist  Stäbchengebilde  seien, 
indes  das  Pigment  der  Pars  ciliar,  retinae  aus  rund- 
lichen Körnern  bestehe,  aber  ich  finde  nirgends  erwähnt, 
dass  eine  so  haarscharfe  Grenze  existiere,  wie  sie  sich 
beim  Hunde,  und  wie  ich  hinzufüge,  auch  beim  Hamster 
rindet. 

Die  krystalloiden  Elemente  der  Pigmentosa  retinae 
des  Hundes  sind  kleine  Spindeln,  die  an  der  belich- 
teten Netzhaut  in  zierlichen  Festons  angeordnet,  den 
freien  Zellensaum  besetzen.  Diese  Guirlande  erstreckt 
sich  bis  zum  letzten,  ausgebildeten  Stäbchen  resp.  Zapfen  ; 
an  der  Abbruchstelle  stehen  dann  2 — 4  Zellen,  welche 
die  Spindeln  in  dicht  gedrängter  Masse  enthalten,  und 
hierauf  folgt,  der  ersten  Epithelzelle  der  Pars  ciliaris 
retinae  entsprechend,  die  nächste  Pigmentzelle  ohne  ein 
einziges  der  spindelförmigen  Kryställchen,  nur  erfüllt 
von  den  groben  Rundkörnern,  welche  für  den  Ciliarteil 
der  Pigmentschicht  charakteristisch  sind.  Sie  erfüllen 
die  Zelle  sehr  dicht,    selbst   an  Schnitten  von  nur  3  ft 


—     484 

Dicke  ;  sie  haben  sich  infolge  dessen  gegenseitig  zu  un- 
regelmässigen Polyedern  abgeplattet. 

Am  Auge  des  neugeborenen  resp.  nur  wenige  Tage 
alten  Hundes  hört  mit  der  letzten  Zelle  des  einschich- 
tigen Epithels  auch  das  alleinige  Vorkommen  des  Körner- 
pigmentes auf.  Aber  wie  hier  —  was  oben  erwähnt 
wurde  —  kein  plötzliches  Anwachsen  der  Schichtdicke 
um  ein  Mehrfaches  besteht,  sondern  ein  allmähliches 
Ansteigen  stattfindet,  so  sieht  man  in  den  entsprechen- 
den gegenüberliegenden  Pigmentepithelzellen  nicht  sofort 
alle  Körner  durch  Spindeln  ersetzt,  sondern  erstere 
schwinden  allmählich,  um  erst  nach  Erreichung  der  end- 
giltigen  Retinadicke  ganz  den  Kry  stallen  Platz  zu  machen. 
Jedoch  ist  die  Grenze  hier  auch  insofern  vollkommen 
scharf,  als  mit  dem  Beginn  des  mehrschichtigen  Baues 
auch  die  Spindeln  sich  beimischen. 

Dass  eine  solche  scharfe  Sonderung  zu  Stande 
kommt,  ist  bemerkenswert,  da  doch  das  Pigmentepithel 
der  Retina  über  ihre  ganze  Erstreckung  bis  zur  hinteren 
Irisfläche  entwicklungsgeschichtlich  eine  Einheit  bildet, 
und  auch  der  Übergang  an  der  Ora  serrata  ein  konti- 
nuierlicher ist.  Ein  Unterschied  besteht  nur  darin,  dass, 
wie  Greef1)  p.  186  hervorhebt,  die  Zellen  des  Pigmentepi- 
thels „ihre  regelmässige  sechseckige  Gestalt  verlieren 
und  in  radiärer  Richtung  langgezogen  erscheinen." 

Ich  kann  die  Angabe  für  den  Hund  vollauf  be- 
stätigen, zumal  beim  neugeborenen  Tiere  ist  der  Anblick 
frappant. 

Indess  nun  das  Pigmentepithel,  abgesehen  von  dem 
veränderten  Inhalte,  kontinuierlich  von  der  eigentlichen 
Retina  zur  Pars  ciliar,  ret.  übergeht,  erleidet  die  Netz- 


x)  Greef,  V.  Mikrosk.  Anat.  des  Sehnerven  und  der  Netzhaut 
(firäfe-Sämisch,  Handbuch  der  ges.  Augenheilkunde.  LT.  I.  Bd. 
5.  Kapitel). 


—     485     — 

haut  selbst  eingreifende  Veränderungen,  indem  diese 
vielschichtige  Membran  sich  am  Orbiculus  ciliaris  als 
einfaches  Cylinderepithel  fortsetzt.  Dieses  Epithel  wird 
gemeiniglich  als  secernierendes  Epithel  aufgefasst  —  vergl. 
z.  B.  Greef  1.  c.  p.  189  —  und  ich  möchte  mich  dieser 
Ansicht  anschliessen,  trotz  Rabl's  Einwurf,  dass  hier  die 
basale  Fläche  der  Zellen  gegen  das  mit  Sekret  zu  er- 
füllende Lumen  frei  läge.  Terrien,  Berger  und  Czermak 
u.  a.  beschreiben  aber  noch  ein  Stützgewebe  zwischen 
den  secernierenden  Zellen,  das  nach  Terrien  (1.  c.)  ein- 
mal aus  Stützfasern  (fibres  de  soutien  oder  de  soutène- 
ment), zum  andern  aus  Zonulafasern  (fibres  zonulaires) 
besteht.  Man  kann  dieses  Stützgewebe  isoliert  zur  Dar- 
stellung bringen  durch  Verdauung  mit  salzsaurer  Pepsin- 
lösung (Berger)  oder  durch  das  von  Griffith  empfoh- 
lene Pigment-Bleichverfahren  mit  Chlor  (Terrien).  An 
sehr  dünnen  Schnitten  der  Präparate  vom  erwachse- 
nen Hunde  oder  Hamster,  welche  in  dem  von  mir1) 
angegebenen  Osmiumgemische  fixiert  und  mit  Säure- 
fuchsin intensiv  gefärbt  wurden,  erkennt  man  die  Stütz- 
substanz  zwischen  den  secernierenden  Zellen  sehr  deut- 
lich als  feinstreifige  Einlagerung;  an  der  Epithelober- 
fläche ist  sie  verbreitert,  ganz  wie  es  Terrien  u.  a.  be- 
schrieben haben.  Terrien  gibt  an,  dass  diese  fibres  de 
soutènement  identisch  seien  mit  den  Müller' sehen  Stütz- 
fasern der  eigentlichen  Retina,  und  von  ihr  auf  die 
Pars  ciliar,  ret.  übergingen  (1.  c.  p.  46,  63  etc.),  indess 
die  secernierenden  Zellen  als  Fortsetzung  der  inneren 
Körnerschicht  (Bipolaren  für  Zapfen  und  Stäbchen) 
erscheinen. 


1)  Metzner,  R.  Untersuchungen  an  Megastoma  enter.  Grrassi 
(Zeitschr.  f.  wissenschaftl.  Zoolog.  LXX.  Bd.  1901.)  -  Artikel  A U- 
///«»»'sehe  Granula-Methoden  (Encyklopädie  der  mikroskop.  Tech- 
nik. Wien   liloîî.) 


—     486     — 

An  den  Abbildungen,  Fig.  17  und  18  pp.  44  u.  45, 
der  Augen  menschlicher  Embryonen  und  Föten,  welche 
Terrien  gibt,  erkennt  man  gut  den  Übergang  der  inneren 
Körnerschicht  in  die  Pars  ciliar,  retinae;  zeitige  Elemente 
des  Stützgewebes  (Müller' sehe  Zellen)  sieht  man  nicht. 
An  meinen  Präparaten  vom  neugeborenen  Hündchen  kann 
ich  einen  sicheren  Entscheid  nicht  geben,  welchem  Teile 
der  eigentlichen  Retina  die  Epithelzellen  (secernierenden 
Zellen)  der  Pars  ciliar,  entsprechen,  bezw.  welche  Zell- 
reihe sich  in  letztere  fortsetzt.  Denn  diese  Augen  zeigen 
noch  keine  deutliche  Trennung  der  äussern  Schicht  des 
proximalen  Blattes  der  sekundären  Augenblase,  also 
noch  keine  Sonderung  in  äussere  oder  innere  Körnerschicht. 
Das  Bild  ähnelt  eher  der  Fig.  17  p.  44  1.  c.  von  Terrien, 
das  aber  ein  frühes  embryonales  Studium  des  mensch- 
lichen Auges  darstellt.  Die  äusserste  Grenzschicht  ist, 
wie  schon  oben  erwähnt,  noch  mit  sehr  reichlichen  Mi- 
tosen erfüllt,  was  ich  hier  besonders  betonen  möchte, 
da  Greef1)  angibt,  dass  nach  neueren  Forschungen  es 
nicht  mehr  möglich  ist,  Mitosen  in  der  Retina  neuge- 
borner  Hunde  zu  linden.  Hinzufügen  möchte  ich,  dass 
auch  beim  neugeborenen  Hamster  die  Zahl  der  Mitosen 
noch  gross  ist.  Dass  die  innere,  helle  Schicht,  welche 
später  die  innersten  Schichten  der  Retina  liefert,  sich 
nicht  auf  die  Pars  ciliar,  fortsetzt,  das  lässt  sich  aller- 
dings an  meinen  Präparaten  nicht  mit  der  gleichen 
Sicherheit  konstatieren,  mit  der  Terrien  es  nach  seinen 
Objekten  darstellt.  Dagegen  aber  zeigen  nun  meine 
Schnitte  einmal  die  stärkere  Anhäufung  von  Stützzellen 
resp.  Stützfasern  im  letzten  Abschnitt  der  eigentlichen 
Retina  als  auch  ihr  Übergreifen    auf  den  Orbiculus    ci- 


])  Greef,  B.,  S.  Bamon  y  Cajals  neuere  Beiträge  zur  Histologie 
der  Retina  (Zeitschr.  f.  Psychologie  u.  Physiol.  d.  Sirmes-Organe. 
XVI.  Bd.  1898.  p.  164.) 


487     — 

liaris.  An  den  mit  obigen  Osmiummisckungen  fixierten, 
in  Schnittserien  von  je  2,5  u  Dicke  zerlegten  und  mit 
Säurefuchsin  gefärbten  Augen  neugeborener  Hunde 
stellen  sich  diese  Elemente  als  streifige  Bälkchen  dar. 
Ihre  zellige  Natur  ist  dort  zu  erkennen,  wo  diese  Bälkchen 
sich  verbreitern  und  einen  schmalen  Kern  einschliessen. 
Nach  aussen  ragen  sie  in  die  Pigmentschicht  hinein, 
nach  innen  ziehen  von  ihnen  feine  Fibrillen  heraus, 
welche  sich  der  Glashaut  der  Pars  ciliaris  anlegen. 
Sehr  auffällig  treten  sie  aber  hervor  an  Zenker-Präpa- 
raten,  welche  in  toto  mit  Borax-Carmin  gefärbt,  in  Cel- 
loidin  eingebettet  und  in  Schnitte  von  15 — 20  /i  Dicke 
zerlegt  sind.  Hier  treten  in  dem  sich  verschmälernden 
Endteil  der  Sehretina  ca.  70 — 75  fi  lange,  tief  dunkelrot 
gefärbte,  homogene  Gebilde  auf,  die  nach  dem  Ciliarkörper 
zu  sich  immer  dichter  an  einander  lagern  und  dabei  kürzer 
werden,  so  dass  sie  bald  auf  26  —  22  /i  Länge  herab- 
gehen (Fig.;.  Was  neben  ihnen  noch  an  zelligen  Ele- 
menten in  diesem  Übergangsteil  liegt,  ist  nicht  sicher 
zu  erkennen,  da  sie  alles  verdecken.  Noch  etwas  weiter 
nach  vorn  beginnt  sich  alles  aufzuhellen  und  das  Epi- 
thel (secernierendes  Epithel)  tritt  auf.  Am  Zenker-Vr'à- 
parat  zeigt  es  glashelle  Zellen  mit  kugeligen  Kernen, 
die  eine  zarte,  körnig-fädige  Chromatinanordnung  be- 
sitzen und  durch  die  Färbung  mit  Borax-Carmin  einen 
blassroten  Ton  erhalten  haben.  Zwischen  ihnen  liegen, 
noch  recht  zahlreich,  aber  immer  spärlicher  werdend, 
die  tiefdunkelroten  Gebilde,  die  hier  13 — 15  tt  lang 
sind,  und  selbst  mit  starken  linmersionssystemen  keine 
deutliche  Struktur  zeigen.  Bis  zur  Höhe  des  Ciliarfort- 
satzes  sind  sie  vorhanden,  aber  dann  verschwinden  sie 
und  bis  zum  Iriswinkel  siebt  man  nur  das  secernierende 
Epithel.  In  der  Tiefe  des  "Winkels  liegen  wieder  einige 
wenige,  jedoch  auf  der  Rückseite  der   Iris.  resp.  in  ihrem 


4H8 


hinteren  retinalen  Überzüge  fehlen  sie  ganz.  Das  Epithel 
ist  hier  anfangs  noch  eben  so  hoch,  wird  aber  gegen 
den  freien  Rand  der  Iris  niedriger.  Auf  der  Textfigur 
sind  diese  Verhältnisse  dargestellt  durch  Kombination 
einiger  Schnitte,  um  überall  eine  reine  Profilansicht  des 
Epithels  zu  gewinnen  ;  das  subepitheliale  Gewebe,  die 
Gefässschlingen  sind  weggelassen,  da  sie  sich  vom  Pig- 
mentepithel losgelöst  hatten.  Das  Innere  des  gezeich- 
neten Ciliar-Fortsatzes   wäre   aber  nicht   nur    damit   zu 


Meridionalschnitt  durch  den  Ciliarkörper  eines  neugebor.  Hundes. 
(Zenkers  Flüssigkeit;  Stückfärbung  mit  Borax-Carmin).  Halbche- 
niatisch,  insofern  Bindegewebe.  Gefässe  etc.  des  Innern  weggelassen 

sind. 

J  =  Pars  iridica  retinae.     B  =  Sog.  secernirend.  Epithel. 

Dazwischen  (S)  die  dunkelroten   Stäbchen.     So    solche  mit  kleinem 

Fortsatz.     R  ==  eigentl.  Retina. 

(Apochr.  16  mm.     Comp.  Ocul.    12.     Vergrössg.   187.     Details  mit 

homog.   [mmersion  eingezeichnet.) 


—     489     — 

füllen,  sondern  auch  noch  mit  den  Bildern  der  durch- 
schnittenen kleinen  Einstülpungen  resp.  -  Fortsätze  , 
welche  an  dem  Hauptkörper  sich  finden.  In  diesen  Ein- 
buchtungen, zumal  in  der  Tiefe  der  Nebenthäler,  waren 
zwischen  den  Epithelzellen  immer  die  kleinen,  dunkel- 
roten Stäbchengebilde  zu  sehen.  Sie  fehlen  also  nur 
auf  dem  gegen  die  Iris  schauenden  (vorderen)  Abhang  und 
auf  dem  vorderen  Teile  der  Kuppe  des  Hauptfortsatzes. 
Aus  der  Tiefe  der  Nebenthäler.  sowie  aus  der  Tiefe 
des  auf  der  Zeichnung  dargestellten  Übergangsteils  der 
Sehretina  in  ihren  Ciliarteil,  der  Falte  die,  wie  erwähnt, 
normalerweise  beim  neugeborenen  Tiere  nicht  besteht 
und  auch  an  meinen  Osmiumpräparaten  fehlt,  und  hier 
nur  durch  die  Ablösung  der  Retina,  sowie  ihre  Vor- 
drängung gegeu  die  Pars  ciliaris  bei  der  Fixierung  ent- 
standen ist,  —  traten  Faserbündel  hervor,  welche  am  letz- 
teren Orte  der  Membrana  hyaloidea  des  Glaskörpers 
resp.  der  Grlashaut  der  Pars  ciliaris  anlagen.  Diese 
Fasern  sind  durch  nachträgliche  Färbung  mit  verdünnter 
Hämatoxylinlösung  darstellbar,  da  aber  nur  an  den  Os- 
miumpräparaten ihr  Zusammenhang  mit  interepithelialen 
Fasern  festzustellen  war.  dagegen  an  den  Zenker-Präpa.- 
raten  nur  Andeutungen  von  kleinen  Fädchen  an  denEnden 
der  dunkelroten  Längsstäbchen  sich  zeigten  (s.  Fig.  S  o), 
so  sind  sie  auf  der  Zeichnung  fortgelassen  worden. 

Da  es  mir,  wie  eingangs  erwähnt,  vor  der  Hand 
an  geeignetem  Material  gebricht,  um  die  Befunde  am 
neugeborenen  Hunde  in  Zusammenhang  zu  bringen  mit 
dem  was  ich  am  erwachsenen  Tiere  fand,  so  will  ich 
hier  nur  eine  Schilderung  dieser  letzteren  anreihen, 
unter  Hinzunahme  der  Bilder  vom  erwachsenen  Hamster. 

Bei  schwacher  Vergfösserung  boten  meine  Meridio- 
nalschnitte    vom    Hundeauge     ganz    den    Anblick,    den 


—      190 

Retzius  ')  auf  Tafel  XXXII,  Fig.  5  seines  grossen  Wer- 
kes dargestellt  hat  und  der  auch  den  Beschreibungen 
von  H.  Virchou'-)  entspricht.  Die  kleinen,  dicht  über 
dem  Epithel  hinlaufenden  Zonulabälkchen  sind  aus  feinsten 
Fibrillen  zusammengesetzt  ;  ein  Teil  dieser  Fibrillen  ent- 
springt sicher  interepithelial  in  den  Thälern  der  Proc. 
ciliares  ;  ob  alle  Fibrillen  von  dort  kommen,  wie  Terrien 
(1.  c.  pr.  Fig.  21,  22,  23)  angibt,  lasse  ich  dahin  gestellt. 
An  Schnitten  nun,  welche  in  Ebenen  parallel  dem  Augen- 
äquator angelegt  sind,  also  das  Corp.  ciliare  quer  treffen, 
sieht  man  in  den  Thälern  die  Fibrillen  mit  Deutlichkeit 
zwischen  den  Epithelzellen  hervorkommen.  An  geeigneten 
Schnitten  erkennt  man  auch,  dass  sie  zwischen  die  Pig- 
mentzellen in  die  Tiefe  dringen,  und  andrerseits  bemerkt 
man  unter  dem  Pigmentepithel  Fasern  vom  Charakter 
elastischer  Fibrillen,  die  zwischen  den  Pigmentzellen 
nach  aussen  streben.  In  seiner  ausgezeichneten,  schon 
zitierten  Studie  konnte  Terrien  beim  Pferde  und  Rind 
den  Zusammenhang  der  Pigmentschicht  mit  der  sog.  Lamina 
vitrea  der  Chorioidea,  welche  wohl  besser  noch  dem 
retinalen  Pigment  zuzurechnen  wäre,  durch  feinste  Faser- 
bälkchen  nachweisen  (s.  die  Figg.  9,  11  etc.)  und  damit 
zugleich  ihre  Verbindung  mit  den  interepithelialen  Stütz- 
fasern resp.  den  Zonulafibrillen.  Beim  Hunde  ist,  soweit 
ich  bis  jetzt  ermitteln  konnte,  die  Lamina  vitrea  nur 
als  allerfeinste  Lamelle  ausgebildet,  während  sie  beim 
Hamster  eine  ziemlich  dicke  Membran  darstellt.  Am 
Übergang  der  Retina  in  ihre  Pars  ciliaris  sieht  man 
nun  beim  Hamster  aus  dieser  Membran,  die  unter  der 
Immersionslinse     feinstreifig    erscheint,    ein    Netz    von 


')  Retzius,  (1.    Biologische  Untersuchungen    X.  F.  VI.     1894 

p.  67  u.  ff. 

2)    Virchow,   Hans.    Über    die    Form    der    Falten    des    Corpus 
ciliare  bei  Säugetieren  (Morpholog.   Jahrb.  Bd.  XL  1886). 


—     49  t     — 

feinsten  Fibrillen  ausgehen,  die  sich  teilweise  zwischen  den 
Epithelzellen  hindurch  in  Zonulafibrillen  verfolgen  lassen, 
zum  andern  Teil   sich   in  den  ßrücke'schen  Muskel  ver- 
lieren.   Die  Frage,  inwieweit  die  feinen  Fibrillen  aus  den 
Thälern  der  Ciliarfortsätze  nur  Zuwüchse  zu  den  von  der 
Glashaut  der  Pars  ciliaris  ret.  kommenden  Zonulabalken 
darstellen,    wie    Relzius    (1.  c.  p.  82  u,  ff.)    angibt,    der 
Glashaut,  welche  nach  seinen  Untersuchungen  die  direkte 
Fortsetzung    der    Membrana    hyaloiclea   des  Glaskörpers 
ist,  kann  ich  vorderhand  nicht  entscheiden.  Nach  meinen 
Präparaten    ist   die    Glashaut   der   Pars    ciliaris    retinge 
vorwärts  vom  Orbiculus   ciliaris  breiter,  straffer  als  die 
Membrana  hyaloidea,  welche  die    eigentliche  Retina  be- 
grenzt.   Dass  die    am    Oriculus  ciliaris    resp.    am  Über- 
gangsteil   der    Netzhaut    entspringenden    äusserst    zahl- 
reichen  Fasern,   die    ganz    den    straffen  Charakter    der 
Zonulafibrillen   tragen    —    s.  a.    Schnitze1)  p.  23  u.  ff. 
und  Fig.   20  —    den  Hauptbestandteil    dieser  Membran 
ausmachen,  ist  ebenfalls  deutlich  zu  erkennen.   Da  aber 
die  Schnitte  der  Osmiumpräparate,  welche  diese  Fibrillen 
und  das  interepitheliale  Stützgewebe  vortrefflich  zeigen, 
nur  2 — 2l/2  fi  dick  sind,    so    ist    es    mir    vorläufig  noch 
nicht    gelungen,     die    topographischen   Verhältnisse    des 
freien   Verlaufes  nach  vorne  zu  eruieren.  Meine  Befunde 
würden  sich  aber   dem,  was  Agababow,  Schön,  Terrien, 
Oscar    Schultze    über    den    Ursprung    der  Zonulafasern 
angeben,  anschliessen  und  den  Ansichten  dieser  Autoren 
über  die  ektoblastische  Abstammung  dieser  Fasern  durch 
den  Nachweis  des  kontinuierlichen  Überganges  der  Stütz- 
elemente  der  eigentlichen  Retina  auf  deren  Pars  ciliaris 
beim  neugeborenen  Tiere  zur  Unterstützung  dienen. 

')  Schnitze,  Oscar.  Mikroskop.  Anat.  der  Linse  und  des  Strah- 
lenbändchens  (Gräfe-Sämisch,  Handb.  d.  ges.  Augenheilkunde.  I.  T. 
I.  Bd.  IV.  Kap.) 


492     — 


Am  Schlüsse  noch  eine  Bemerkung  über  die  Retina 
des  Hundes.  In  Fig.  50  seiner  ausgezeichneten  Monogra- 
phie gibt  Greef  (1.  c.  1  pp.  122  u.  185)  einen  Schnitt 
durch  die  Ora  serrata  des  menschlichen  Auges,  an  dem 
das  immer  seltenere  Vorkommen  der  Stäbchen,  ihr  end- 
liches Verschwinden,  sowie  die  Verkümmerung  der  allein 
übrig  bleibenden  Zapfen  vorzüglich  zu  erkennen  sind. 
An  der  Retina  eines  erwachsenen  Hundes  (Osmium- 
präparat) waren  Stäbchen  auch  neben  den  letzten  Zapfen 
zu  erkennen,  was  insofern  interessant  ist,  als  nach  meinen 
Untersuchungen,  die  ich  durch  ein  grösseres  Material 
noch  vervollkommnen  möchte,  die  sog.  Area  des  Hundes 
(Chievitz v)  keine  stäbchenfreie  Zone  enthält,  sondern 
dass  hier  wohl  die  Zapfen  sehr  dicht  stehen,  aber  immer 
durch  Stäbchen  getrennt  sind. 

Die  von  Greef  (1.  c.  p.  114)  angegebene  Höhenab- 
nahme der  Zapfen  war  am  Hunde  gut  zu  sehen-,  icli 
habe  an  verschiedenen  Schnitten  folgende  Maasse  auf- 
genommen : 


1.  Zapfen  480  II   v.  Ora  serrata     9  U 

2.  „  230  fi 

3.  „  24  fi 

4.  „  20  u 

5.  „  17 /< 


Höhe 
Innen- 
gliedes 

des 

Aussen- 
gliedes 

Dicke  des  cyl 
Innengliedes. 

ata     9  11 

5        il    (spitz) 

2,5  // 

8// 

4,5  ii      „ 

:;.ö  u 

6i< 

4        il  (kuppelföi 

•mig)       4        // 

'>  ii 

4     ii 

4     ii 

6  ii 

3        II    (spitz) 

3,5  u 

1 1  Chievitz,  J.  IL  Über  das  Vorkommen  der  Area  centralis 
retinae  in  den  vier  höheren  Wirbeltierklassen  (Arch.  f.  Anat  u. 
Physiologie  ;  Anatom.  Abteil.  1891.  p    310  u.  ff.) 


Verhandlungen 


der 


Naturforschenden  Gesellschaft 


m 


BASEL. 


Band  XVI. 


Mit   drei   Tafeln. 


BASEL 

Georg  &  Co.,    Verlag 

1903. 


%Zs7*~ï:¥T:Ç-~î  ■r ~ï"4  i  r  i  fT^TTT^T^Xjs^T^T^T^T^T^T^T^T^T-f'i 


T ; : 

GEORG  &  Co.,  Editeurs,  Bàle,  Genève  et  Lyon. 


LÀ  FLORE  DE  LA  SUISSE 

ET  SES  ORIGINES 

par   1.1: 

Dr.  H.  CHRIST. 


Un  fori  volume  grand  in-s-.  accompagné  de  quatre  illu- 
strations hors  texte,  de  quatre  caries  en  couleurs  indiquant 
les  /ducs    des    plantes   H    d'un    tableau    graphique:     Limite 

des  hauteurs. 

PRIX  DE  L'OUVRAGE: 

broché  Fr.  16.—      Cart,  toile  Fr.  18.—     Demi   rel.  Fr.  20.  - 


Cet  ouvrage  es1  divisé  en  quatre  parties:  I.  La  région  infé- 
rieure, zone  de  la  \  igné  e1  des  arbres  Fruitiers.  —  II.  Région  moyenne, 
celle  îles  bois  feuilles.  —  JH.  Région  plus  élevée,  /.nue  des  coni- 
fères. —  !Y.  Région  alpine,  la  plus  captivante  de  la  Bore  suisse, 
qui  pour  la  richesse  de  la  floraison  e1  l'éclal  des  couleurs  excite 
à  mi  si  haut  degré  l  intérêl  du  savanl  el  du  simple  amateur.  Sui1 
un  résumé  général  de  l'histoire  de  notre  flore. 

L'auteur  est  naturaliste,  mais  avec  son  laleul  d'artiste  il 
sait  donner  un  grand  attrait  à  ses  descriptions  ;  c'esl  donc  un  livre 
qui  intéressera  toutes  les  personnes,  qui  aiment  les  Alpes  el  ses 
Meurs. 

Nous  citerons  encore  du  compte-rendu  publié  par  Mr. 
Alphonse  de  Candolle  aux  Archives  des  Sciences  de  Genève: 
C'est  un  ouvrage  à  lire  d'un  boul  à  l'autre  que  celui  de  M.  le 
Docteur  Chris!  sur  la  flore  de  la  Suisse  e1  nous  regardons  comme 
une  bonne  fortune  pour  les  lecteurs  français  el  même  italiens  ou 
anglais  qu'on  en  ait  publié  une  traduction  très-exacte.  Le  travail 
du  savant  botaniste  bàlois  contienl  une  foule  de  détails.  Cependant 
il  est  si  bien  rédigé  chaque  chose  est  si  bien  à  sa  place,  el  il 
y  a  des  résumés  si  clairs  qu'on  u'esi  jamais  fatigué  en  le  lisant. 
Ce  n'est   pas  une  énumération   d'espèces  selon    les  ré-^i, >ns  nu  les 

localités,    Comme    (Hl    en    VOit     SOUVeill    a    la     tète    îles    Itères;   ce    n'est 

pas  non  plus  un  tableau  général,  littéraire  plutöl  que  scientifique; 
mais  les  détails  et  les  généralités  y  sonl  distribués  d'une  manière 
judicieuse  qui   laisse  une  idée  nette  île  chaque  sujet. 


^- 


— D 


GEORG  &  Co.,  Éditeurs,  Bâle,  Genève  et  Lyon. 


OUVRAGES  DIVERS  D'HISTOIRE  NATURELLE 


Archives  du  Muséum  d'histoire  na- 
turelle de  Lyon,  'l'unir  I  à  VII.  gr. 
in-4°avec  planches.  1872 — 1891). 

*,*  Mémoires  par  MM.  Lortet,  Locard, 
Cbautre,  Saporta,  Marion,  Faisan  ete. 
Chaque  volume  se  vend  séparément. 

Candolle    (Alph.    de)    Histoire    des 

sciences   el    (1rs    savants    depuis 

deux  siècles,  précédée  el  suivie 
il  autres  çtudes  sur  des  sujets 
scientifiques.  ln-8".  (Jlli  p. 

1885,  10  — 

Fatio  (Dr.  V.i  Faune  des  vertébrés 
de  la  Suisse.  Tome  I.  Mammi- 
fères. 4M  p.,  8  pi.  gr.  in-8°  16- 

Tiniie  il.  (  »iseaux  1"  partie  850 
p.,  3  pi.  ci  une  carte,  gr.  in  8°.  25 

La  seconde  partie  en    préparation. 

—  Tome  III.  Reptiles  el  Batraciens. 
616  p.,  5  pi.,  gr.  in-8°.      18  — 

—  Tomes  IV  et  V.  Poissons. 
1456p.,  9  pi.,  gr.  in  8U.     4.")     - 

Mémoires  de  la  Socie'té  de  physique 
et  d'histoire  naturelle  de  Genève. 
Vol.  I  à  XXXIII  el  volume  supplé- 
mentaire :  Centenaire  de  la  fon- 
dation de  la  Société.  4"  avec 
planches    1821   à   1901. 

*¥*  Collection  très  importante  conte- 
nant des  Mémoires  par  MM.  De  Candolle 
père  et  fils,  DeSaussure,  Duby,  F.  J.  Fictet, 
E.    Boiesier,    Huber,    Clapaiède,    Fol    et 

autres   savants  genevois. 

Mémoires,  i veaux,  de  la  Société 

helvétique  des  sciences  natu- 
relles. (Neue  Denkschriften  der 
all-,  schwei/.  naturforschenden 
Gesellschaft),  vol.  I  à  XXXVIII. 
4"   avec    planches.     1837-1900/2. 

*,*  Chaque  volume  se  vend  séparément 
excepté  quelques-uns  de  la  lre  décade. 
Cette  publication  importante  renferme 
des  travaux  tré^  estimés  par  MM.  Agassiz, 
Cramer,  Gaudin,  Heer,  Nägeli,  Rütimeyer, 
Thurmann  etc. 


Mémoires  de  la  Société  paléonto- 
logique  suisse  (Abhandlungen  der 
schwei/..  palaebntol.Gesellschaft), 
vol.  I  a  XXVIII.  gr.  in-4°  avec 
planches.      1874-1901. 

*„*  Mémoires  de  MM.  de  Loriol,  Re- 
Devier,  Rütimeyer,  Favre,  Koby,  Greppin 
etc. 

Rütimeyer  (Prof.  L.)  D  e  r  I!  i  g  i. 
Berg,  Thal  und  See;  naturge- 
schichtliche  Darstellung  der 
Landschaft.  160  S.,  13  Illustrât, 
und  1  color.  Karte.  ln-4°.  1877. 
br.  8  — 

Eigenartiges  Werk,  welches  namentlich 
die  Aufmerksamkeit  aller  Alpenfreunde 
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—  Gesammelte  kleine  Schriften 
allgemeinen  Inhalts  aus  dem 
Gebiete  der  Naturwissenschaft, 
berausgeg.  von  II.  <i.  Stehlin. 
2  vol.  gr.  iu-8"  in.  Porträt,    lö  — 

Baud-Bovy  (Daniel).  Wanderungen 
in  den  Alpen.  Von  Brieg  auf 
das  Eggischhorn,  den  Aletsch- 
gletscher  und  Umgebung.  Mit 
J 1 S  Illustrationen  im  Text  und 
18  grossen  Bildern  in  Helio- 
graphie nach  besonderem  Ver- 
fahren der  i  resellschaft  für  gra- 
phische Künste  in  Genf.  Pracht- 
band in  gr.-4n,  mil  polychrom, 
Umschlag.  iJo   - 

Leinwd.  geb.     2250 

Roger     (Noëlle).     Saas-Fée    e1    la 
Vallée  de  la  Viège  de  Saas.  Beau 
volume   avec    l'.H)    illustrations 
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Gr.   ii  i-4".  20- 

Yung.  Zermatl  el  la  vallée  de 
Viège.  2e  édition.  <ir.  in-4".  20 

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gnettes exécutées  en  phototypie  par  les 
procédés  spéciaux  de  la  Société  des  Arts 
graphiques  à  Genève. 


AMNH   LIBRARY 


100127150 


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